Klaus Woltron : Klaus Woltron: Die Sklerose der Sozialdemokratie

Klaus Woltron
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Die sozialdemokratischen Parteien in Europa verlieren ihre Wähler. Innerhalb von zehn Jahren hat sich die Zahl der SPD-Anhänger in der BRD von 20 auf 10 Millionen halbiert, ist auf 23 Prozent zu Mittelmaß geschrumpft. 35,7 Prozent der SPÖ (2006) nehmen sich dagegen imperial aus. Allerdings: Die jüngste Kaskade von Wahlniederlagen (Vorarlberg: –6,81 auf 10,06; Oberösterreich: –13,4 auf 24,9; EU-Wahlen: –9,9 auf 23,74 Prozent) lässt Ungemach für die Zukunft erwarten. Die Deutschen haben bereits die gesamte Führung ausgetauscht. In Österreich hat man das vor kurzem, soweit es das Topmanagement betrifft, getan. Wie die jüngsten Wahlergebnisse zeigen, bewirkte dies eher das Gegenteil des Erwünschten. Die Frage, wie es mit jener politischen Richtung, welche 1863 von Ferdinand Lassalle initiiert, von Größen wie August Bebel und Wilhelm Liebknecht, später Willy Brandt und Bruno Kreisky zu lichten Höhen geführt wurde, weitergehen wird, ist für die Zukunft Europas nicht unbedeutend. Zahlreiche Gruppen und Kränzchen beschäftigen sich mit den Kernfragen des Desasters. Was stimmt mit dem Programm nicht, warum ist Sozialdemokratie für die Jungen so uncool? Zeigt man die falschen Gesichter? Wird man etwa nicht mehr gebraucht? Die Antwort ist, um mit den Worten eines bereits verstorbenen SPÖ-Bundeskanzlers zu sprechen, sehr kompliziert, im Kern aber einfach: Sozialpartner und Gewerkschaften sind zu selbstbewussten Vertretern der Unselbständigen geworden. Vor allem aber: Alle konkurrierenden Parteien geben sich sozial und demokratisch, und diese Schnittmenge der Beliebigkeit ist nicht attraktiv genug als USP einer Partei. Die Wählerschaft ist komplexer geworden. Der Ausbildungsstand und damit die Kritikfähigkeit der Menschen wurde besser. Sie durchschauen alte, simplifizierende Rezepte. Die Kritikwilligkeit reicht allerdings nicht aus, viele Bürger davon abzuhalten, Parteien zu wählen, die mit hohem demagogischem Potenzial auf die neue Nachfrage nach Lösungen für Zuwanderung, Internationalisierung, Neoliberalismus und Kriminalität eingehen. Die Sozialdemokratie hat in Europa die Demokratie durchgesetzt. Sie ist auch deren immer eindeutiger hervortretenden Schwäche am stärksten ausgesetzt: Man wagt es nicht, klar vorauszuschauen, wird immer reaktiver. Politiker, die rechtzeitig das Richtige sagen, werden vom wunschträchtigen, aber entbehrungsscheuen Wähler stets hinweggefegt. Dieser vorauseilende Gehorsam, das Blindstellen, nagt an den Wurzeln der Demokratie und der Sozialdemokratie. Die Symptome ähneln jenen, die vor dem Zusammenbruch einer großen Firma beobachtet werden können: Das Heil wird im „Mehr vom Gleichen“ gesucht, man flieht in endlose Debatten, es kommt zu keinen klaren Entschlüssen. Währenddessen desertieren die Klardenker oder werden weggemobbt, das Personalkarussell beschleunigt und die klammheimliche Suche nach den Schuldigen zerstört jeglichen Zusammenhalt. Die unternehmerische Energie, sich für ein neues Produkt zu entschließen, welches dem massiv geänderten Markt entspricht, kann durch noch so viele Arbeitskreise nicht ersetzt werden. In einer existentiellen Krise ist zuallererst die entschlossene Abkehr von inaktuellen Zielen und Wegen, das Abschütteln des Ballasts aus einer ruhmreichen, aber nie wiederkehrenden, Vergangenheit geboten. Die kummervollen Antworten auf die eingangs gestellten Fragen: Das Programm geht nicht überzeugend auf die neuen Herausforderungen ein, es bietet weitestgehend überholte, wiedergekäute Rezepte. Und natürlich haben die Jungen andere Interessen und Prioritäten als jene, die von den amtierenden Jusos und Alten in der Partei transportiert werden. Deren Botschaften machen sie selbst alt. Wohl werden manche Anliegen gut kommuniziert, die Lösungswege erscheinen aber zumeist nicht einleuchtend und vage. Hinzu kommt, dass die Konkurrenz teils höhere Intellektualität und Vitalität, teils rücksichtslose Demagogie zeigt – und alle aktuellen Anliegen des Bürgers glaubwürdig abdeckt. Damit befindet sich die Sozialdemokratie etwa in jener Situation, in welcher General Motors vor fünf Jahren war: Man baute Autos, die dem technischen Stand von 1985 entsprachen, die Klientel war alt. Der Vorstand agierte abgehoben und entrückt, hielt beratungsresistent an alten Zielen fest und war nicht imstande, die Firma auf ein neues Gleis zu stellen. In dieser Gefahr kam das Rettende jedenfalls zu spät – ganz entgegen dem Zitat von Friedrich Hölderlin: „In der Gefahr wächst das Rettende auch.“