Innovation in der Krise : Engineering-Software-Steyr-Chef Martin Schifko: "Haben für Elektromobilität Großaufträge in den Büchern"

ESS Schifko
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Herr Schifko, die Absatzkrise in der Automobilindustrie trifft Zulieferindustrie und Partnernetze hart. Wie kommt Ihr Unternehmen durch die Krise?

Martin Schifko Seit Anfang Juli arbeitet unser gesamtes 46-köpfiges Team wieder zu 100 Prozent. Aus heutiger Sicht werden wir auch keine Kurzarbeit mehr brauchen. Zuvor waren rund 80 Prozent unseres Teams in Kurzarbeit. Dieses Arbeitszeitmodell hat es möglich gemacht, dass alle ESS-MitarbeiterInnen weiterhin einen sicheren Arbeitsplatz haben. Und das, obwohl für uns die Krise bereits im Jänner spürbar wurde, als Audi wegen der Corona-Situation in China eine Gewinnwarnung ausgegeben hatte.

Wie angespannt ist die Auftragslage?

Schifko Zwar haben sich in der Krise manche unserer Aufträge buchstäblich aufgelöst, die meisten wurden aber einfach verschoben und sorgen jetzt für einen guten Auftragsstand. Unser Vorteil war es zweifellos, dass wir zuvor gute Umsatzzuwächse und damit einen Polster hatten.

Welche Projekte werden von den Automobilisten prioritär behandelt?

Schifko Aus unserer sehr speziellen Sicht ist das die Elektromobilität: Wir haben Großaufträge mit einem hohen sechsstelligem Wert für die Simulation von Lackieranlagen für insgesamt 16 neue Modelle in den Büchern. Diese Modelle sollen Ende 2022, Anfang 2023 auf den Markt kommen.

In diesem Fall ist unser Auftraggeber ein Quereinsteiger in die Automobilbranche und deshalb von der derzeitigen Automobilkrise nicht betroffen, weil sich alle Modelle noch in der Entwicklungsphase befinden. Das erlaubt es uns jetzt, voll durchzustarten und auf einem Umsatzzuwachs gegenüber dem Vorjahr zu hoffen.

Das heißt, Sie rechnen mit Aufholeffekten und einem starken zweiten Halbjahr?

Schifko Trotz der Unsicherheit rechnen wir mit einem deutlichen Zuwachs. Weil wir nicht wissen können, wie es mit jenen Budgets weitergeht, die bereits 2019 akkordiert worden sind, gibt es im Moment allerdings keinerlei Planungssicherheit.

Sie schrauben an weiteren Standbeinen neben der Automobilindustrie...

Schifko Wir wollen unser Geschäftsmodell auf eine breitere Basis stellen und uns von der Automobilindustrie, die den Großteil unseres Umsatzes ausmacht, unabhängiger machen. In einer Software-on-demand-Plattform wollen wir unser Programm für Strömungssimulationen auch Kleinbetrieben und Privatpersonen zur Verfügung stellen. So können etwa Radfahrer –in wenigen unkomplizierten Schritten und für wenige Euros –ihr Sportgerät und sich selbst in 3D abbilden und so den Luftwiderstand verschiedenster Komponenten und Positionen bestimmen.

Dafür wird die Software auf den eigenen Computer geladen, die Rechenleistung erfolgt in einem Cluster, die Abrechnung über Paypal. Im Oktober wollen wir einen ersten Testballon starten und sind gespannt, welche Resonanz dieses Angebot erzeugt.

Das klingt nicht so, als hätten Sie Ihre F&E-Aktivitäten merklich heruntergefahren?

Schifko Unser Ziel ist es, die Mittel für F&E stabil zu halten aber gleichzeitig den Umsatz substanziell zu steigern, um zu einer geringen zweistelligen Quote zu kommen. Die F&E-Quote liegt bei 80 Prozent. Natürlich hat uns die Krise gebremst. Da unsere Innovationsarbeit aber zum größten Teil von nationalen und EU-Förderprogrammen getragen ist, geht es jetzt weiter wie zuvor. Historisch gesehen gelingen in Krisenzeiten die meisten Innovationen. Das wird auch jetzt so sein, weil sich viele helle Köpfe den drängendsten Themen widmen.

Gibt es weitere Einsatzfelder für die Strömungssimulation?

Schifko Wenn wir an die Hochwassersituation Anfang August denken, wird die Dimension der Möglichkeiten klar. Man kann berechnen, wie ein Privathaus mit der hohen Regenmenge fertig wird, welche Hochwassergefahr in Gemeinden entsteht, wo Vermurungen und Hangrutsche zu befürchten sind. Damit wird eine hochpräzise Risikoabschätzung möglich.

Im gewerblichen Bereich sind die Anwendungsmöglichkeiten beinahe unbegrenzt. Wir wollen all jenen Unternehmen und öffentlichen Institutionen das Produkt Fluidsimulationen ohne technologische Eintrittshürde zugänglich machen, die bisher noch gar nicht an diese Möglichkeit gedacht haben. Entweder, weil sie es für zu kompliziert oder zu kostspielig gehalten haben.

Martin Schifko ist Gründer und geschäftsführender Gesellschafter von ESS – Engineering Software Steyr. Er studierte Mathematik und Geometrie in Graz und Linz. Für Magna in St. Valentin leitete er die Entwicklung der ersten Schritte der Lackieranlagensimulation, diese 2015 schließlich in einem Management-Buyout übernommen und ESS gegründet.Rund 80 Prozent des Umsatzes macht ESS mit Simulationen für die Lackieranlagen für rund die Hälfte der weltgrößten Automobilproduzenten. Im abgelaufenen Geschäftsjahr (Juli 2019 bis Juni 2020) erwirtschaftete ESS einen Umsatz von rund drei Millionen Euro. Das Unternehmen beschäftigt 45 Mitarbeiter aus 16 Nationen.