Software Autoindustrie : VW und Rivian: Geht die riskanteste Wette der deutschen Autoindustrie tatsächlich auf?

Allianz: Volkswagen und Rivian - geht die Wette auf?

VW hofft auf Rivian: Sollte die Partnerschaft nicht liefern, droht den Wolfsburgern ein erneutes Milliardengrab.

- © Industriemagazin

Das World Economic Forum in Davos, Ende Januar 2020. Wenige Tage bevor das Coronavirus die Welt mit Lockdowns in den Stillstand zwingt, treffen sich hier Spitzenmanager aus Industrie und Politik, um die großen Probleme unserer Zeit zu diskutieren. 

Mitten in diesem globalen Elite-Treffen: Herbert Diess, der Mann, der die Zukunft des größten Automobilkonzerns der Welt prägt.

Während viele Automanager noch über Abgasnormen schimpfen, formuliert Diess eine völlig andere Vision: Autos werden elektrisch – und vor allem: Autos werden zu digitalen Geräten.

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Nur wenige Tage vor diesem Interview hat Diess die vielleicht radikalste Entscheidung seiner Amtszeit gefällt: die Gründung von Cariad.

Die neue Software-Einheit soll alle digitalen Kompetenzen unter einem Dach bündeln und eine Revolution auslösen:

  • Software, bisher weitgehend ausgelagert, wieder ins Haus holen.
  • Qualität, Zeitpläne und Innovationen selbst kontrollieren.
  • Ein Betriebssystem namens VW.OS, das ähnlich prägend sein soll wie Android bei Smartphones.
  • Over-the-Air-Updates, Abo-Modelle, neue Geschäftsmodelle.
  • Eine ernsthafte Antwort auf Tesla.

Denn Volkswagen möchte verhindern, am Ende nur noch der Hardware-Zulieferer für Softwarekonzerne zu sein.

Doch die Realität war schneller – und erbarmungsloser – als jedes Over-the-Air-Update.

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Das Milliardengrab

Nur 18 Monate später, im September 2022, muss Volkswagen-CEO Herbert Diess das Feld räumen. 

Und Cariad galt als ein zentrales Argument für seinen Abgang: überambitioniert geplant, organisatorisch zerstritten und technisch weit hinter den eigenen Zeitplänen. Die Software-Plattformen waren so massiv verspätet, dass zentrale Modelle der Marken Audi und Porsche verschoben werden mussten. Milliardenverluste inklusive. 

Diess Nachfolger: Oliver Blume, bisher Porsche-Chef. Blume übernimmt das Softwareprojekt – und zieht die Notbremse. Sein Motto: Pragmatismus statt Revolution.

Er stutzt die Visionen zurecht, stellt Cariad neu auf, verabschiedet sich vom „Alles-aus-einer-Hand“-Ansatz und öffnet den Konzern für Partner wie Bosch, Qualcomm oder den chinesischen Autobauer XPENG.

Die Strategie: Stabilität statt Big Bang. Marktreife Features statt Tesla-Jagd. Schrittweiser Kompetenzaufbau statt gigantischer Plattformsprünge.

Doch die internen Zahlen sprechen eine klare Sprache: Cariad bleibt ein Milliardengrab.

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Rivian: Der Befreiungsschlag?

Im November 2024 der Paukenschlag: Volkswagen steigt beim angeschlagenen US-Elektroautostartup Rivian ein. 

Rivians Betriebssystem kommt mit wenigen Steuergeräten aus, lässt sich einfach aktualisieren und ist in Serienfahrzeugen erprobt.
Diese Technologie bringt Rivian in das Joint Venture RV Tech ein – und sie soll künftig sämtliche VW-Modelle in Europa und den USA steuern.

Für Volkswagen ein strategischer Befreiungsschlag. Parallel baut VW gemeinsam mit XPENG ein zweites Betriebssystem – für China. Denn Volkswagen verfolgt künftig zwei Softwarelinien:

  • eine amerikanisch-westliche (Rivian),
  • eine chinesische (XPeng) für China und Regionen, die chinesische Technologie problemlos akzeptieren.

Cariad selbst bleibt bestehen – mit neuer Rolle:
Software für Verbrenner, Koordination zwischen den Welten USA/China, Cloud-Integration und Weiterentwicklung von Fahrerassistenzsystemen mit Partnern wie Bosch.

>>> VW-Strategie in China: E-Auto-Entwicklung künftig ohne deutsche Steuerung

Ein Jahr später: Wo steht Volkswagen?

Das erste Jahr der Rivian-Kooperation ist geprägt von intensiven internen Debatten – teilweise auch öffentlich ausgetragen.

Manche Stimmen im Konzern reden das Projekt schlecht. Und Anreiz dazu gibt es genug: Vor allem aus der ehemals mächtigen Cariad. 

Einige im Konzern wünschen sich mehr Entwicklgunsressourcen direkt bei den Marken, andere spekulieren auf ein Cariad-Comeback, nachdem Verbrenner und Hybride vorübergehend wieder einen höheren Stellenwert haben – und Cariad hier die Kompetenzen hält. 

Doch die Fakten sprechen für sich: Während Cariad über etliche Jahre kaum serienreife Software liefern konnte, hat RV Tech offenbar im ersten Jahr nach der Gründung deutliche Fortschritte bei der Entwicklung und im Aufbau der neuen Auto-Architektur gemacht und fahrfähige Prototypen damit ausgestattet.

Die neue Architektur für das softwaredefinierte Fahrzeug steht offenbar. Eine zonale Architektur, in der Zentrale Hochleistungsrechner fast alle Fahrzeugfunktionen kontrollieren.

Das Auto ist modular aufgebaut: Statt, wie bisher, eines Wildwuchses von hundert Steuergeräten werden wenige Zonencontroller in jeder Fahrzeugzone (z. B. Front, Heck, Türen) die Steuerung übernehmen. 

Die Komplexität sinkt damit drastisch, die Skalierbarkeit steigt.

VW sieht diese Architektur als Grundlage für die nächste Fahrzeuggeneration auf der SSP-Plattform, die bis zu 30 Millionen Fahrzeuge tragen soll.

Erste Tests mit Referenzfahrzeugen von Audi, Volkswagen, der VW-Tochter Scout auch unter hochwinterlichen Bedingungen sind für die nächsten Wochen geplant. 

Am bisherigen Zeitplan dürfte festgtehalten werden: Das erste Auto mit der RV-Technologie wird der Rivian-SUV R2 sein, der 2026 an den Start geht. 

Im Jahr darauf soll der erste elektrische Kleinwagen von VW, der ID.Every1 folgen.

Ein Jahr nachdem Volkswagen und Rivian ihren Pakt besiegelt haben – und ein Jahr bevor mit dem ID.Every1 der erste VW mit Rivian Architektur auf den Markt kommen soll, steht fest: Rivian bringt Tempo, Volkswagen bringt Geld – und beide bringen Risiko.

Die bisherigen Fortschritte können sich sehen lassen. 

Ob VWs riskanteste Wette aufgeht – oder ob sie als teuerster Notnagel der deutschen Autoindustrie endet – das entscheidet sich wohl in den nächsten 12 Monaten.