Krisen der letzten Jahre : Steht Österreich durch versäumte Reformen vor einem Wohlstandsverlust?
Die wirtschaftlichen Nachrichten aus Österreich fallen zunehmend negativ aus. Laut aktuellen Daten der Statistik Austria zeigte sich die Konjunktur im ersten Halbjahr wider Erwarten schwächer. Sowohl das Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) als auch das Institut für Höhere Studien (IHS) prognostizieren deshalb für 2024 ein weiteres Schrumpfen der Wirtschaftsleistung. Sollte dies eintreten, wäre es das erste Mal seit 1950, dass die Wirtschaft zwei Jahre in Folge rückläufig ist.
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Zudem verliert Österreich im globalen Wettbewerb an Boden. Im aktuellen World Competitiveness Report des IMD aus Lausanne belegt das Land nur noch Rang 26 von 67 analysierten Staaten. Ein Bericht der EU aus dem Juli hebt hervor, dass die Dynamik der Unternehmensgründungen deutlich nachgelassen hat – die Gründungsquote zählt zu den geringsten innerhalb der EU. Auch die OECD stellt in ihrem Economic Survey fest, dass das Produktivitätswachstum nachlässt und die Innovationskraft nach wie vor schwach ausgeprägt ist.
Hat Österreich die Krisen der letzten Jahre schlechter gemeistert?
Besonders besorgniserregend sind die jüngsten Zahlen der Denkfabrik Agenda Austria, die zeigen, dass das reale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf – ein wichtiger Indikator für den Wohlstand – in den letzten fünf Jahren um 1,7 Prozent gesunken ist. Damit nimmt Österreich in der gesamten Europäischen Union den letzten Platz ein. Zwar wurden diese Jahre von der Pandemie und den Folgen des Krieges in der Ukraine überschattet, doch scheint Österreich im Vergleich zu anderen Ländern diese Krisen schlechter gemeistert zu haben.
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Wifo-Leiter Gabriel Felbermayr betonte im Sommer, dass Österreich nun einem Realitätscheck unterzogen werden müsse. Die gegenwärtige Lage ist ernüchternd: Der Zweiradhersteller Pierer Mobility, früher unter dem Namen KTM bekannt, streicht aufgrund eines deutlichen Umsatzrückgangs rund 500 Stellen. Bei Infineon Österreich sollen in den nächsten zwei Jahren etwa 400 Arbeitsplätze wegfallen, und bei Steyr Automotive wurden kürzlich 200 Mitarbeiter zur Kündigung angemeldet. Zudem stieg die Zahl der Insolvenzen im ersten Halbjahr um über 26 Prozent auf insgesamt 3.300 Fälle.
Österreichs Industrie, das Fundament der nationalen Wirtschaft, steckt weiterhin tief in der Krise. Einer der Hauptfaktoren liegt in der Struktur der Wirtschaft: Mit einem hohen Anteil energieintensiver Betriebe war das Land nach dem russischen Angriff auf die Ukraine besonders von den steigenden Energiepreisen betroffen, so Christoph Badelt, ehemaliger Rektor der Wirtschaftsuniversität Wien und derzeitiger Präsident des Fiskalrats.
Allerdings sind viele der aktuellen Herausforderungen hausgemacht. Die aggressive staatliche Ausgabenpolitik zur Bekämpfung der verschiedenen Krisen hat die Inflation zusätzlich angeheizt. In den vergangenen zwei Jahren lag die Inflationsrate in Österreich über dem Durchschnitt der Eurozone, was auch zu höheren Lohnsteigerungen führte.
Zweithöchste Teilzeitquote in der EU
Ein weiterer Faktor ist das stark regulierte Lohnsystem: Etwa 98 Prozent der Arbeitnehmer in Österreich sind durch Kollektivverträge gebunden, wobei die jährliche Inflation und ein Teil des Produktivitätszuwachses bei den Lohnverhandlungen berücksichtigt werden. Dies hat dazu geführt, dass die Löhne in Österreich seit 2023 nahezu doppelt so stark gestiegen sind (voraussichtlich 8,2 Prozent bis Ende des Jahres) wie im Euro-Raum (4,4 Prozent), so der Think-Tank Agenda Austria. In der Vergangenheit konnten solche Lohnerhöhungen durch Produktivitätssteigerungen ausgeglichen werden, erklärt Franz Schellhorn, Direktor des Instituts. Doch die Produktivität stagniert, da die Arbeitszeit pro Kopf in Österreich sinkt.
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Die wachsende Teilzeitbeschäftigung hat sich als wesentlicher Grund dafür erwiesen. Fast ein Drittel der Erwerbstätigen arbeitet mittlerweile in Teilzeit, was Österreich zum Land mit der zweithöchsten Teilzeitquote in der EU macht. Insbesondere Frauen sind betroffen, wobei über die Hälfte nur noch in Teilzeit arbeitet. Dies ist oft auf den Mangel an Kinderbetreuungsmöglichkeiten in ländlichen Regionen zurückzuführen. Zudem schrecken hohe Steuern viele davon ab, ihre Arbeitszeit zu erhöhen: Wer seine Wochenarbeitszeit von 20 auf 40 Stunden verdoppelt, erhält netto nur 68 Prozent mehr Lohn, rechnet Agenda Austria vor.
Diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass die Lohnstückkosten in Österreich in Westeuropa am stärksten gestiegen sind. Laut Wirtschaftskammer belief sich der Anstieg seit 2015 auf über 30 Prozent – ein Wert, der um neun Prozentpunkte über dem EU-Durchschnitt liegt.
Österreich muss 2,6 Milliarden Euro einsparen
Die Reduktion der Lohnnebenkosten ist ein zentrales Anliegen österreichischer Unternehmen und Wirtschaftsvertreter, um die Wettbewerbsfähigkeit des Landes zu stärken. Die Industriellenvereinigung sieht darin die entscheidende Maßnahme, um der heimischen Wirtschaft wieder Schwung zu verleihen. Auch die ÖVP, die sich als wirtschaftsfreundliche Partei positioniert, plant in ihrem im Juli vorgestellten „Wachstumsplan“ unter Bundeskanzler Karl Nehammer eine solche Senkung. Doch diese Versprechungen sind nicht neu, und ihre Umsetzung hängt von der politischen Mehrheit im Parlament ab, das Ende September neu gewählt wird.
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Angesichts des steigenden Budgetdefizits, das nach Schätzungen über der von Maastricht festgelegten Grenze liegen wird, könnten solche Maßnahme entweder zu einer weiteren Haushaltsbelastung oder zu Kürzungen bei staatlichen Leistungen führen könnte. Hinzu kommt die Forderung der EU-Kommission, dass Österreich im nächsten Jahr Einsparungen in Höhe von 2,6 Milliarden Euro vornehmen müsse. Dies erschwert auch die Pläne des Kanzlers, Überstunden steuerfrei zu stellen und einen „Vollzeitbonus“ von 1000 Euro pro Jahr einzuführen.
Trotz der wirtschaftlichen und politischen Hürden könnten solche Maßnahmen dem Fachkräftemangel entgegenwirken. Laut einer aktuellen Umfrage der Wirtschaftskammer sind 82 Prozent der Unternehmen von fehlenden qualifizierten Arbeitskräften betroffen.
Reformen notwendig
Um die Wettbewerbsfähigkeit Österreichs zu steigern, seien verstärkte Investitionen in technologische Innovationen und die wirtschaftliche Transformation erforderlich. Zwar verfügt das Land über eine hohe Forschungsquote, jedoch bleiben die tatsächlichen Ergebnisse hinter den Erwartungen zurück. Zudem ist eine gezielte Verbesserung der Qualifizierung unerlässlich, um dem durch den demografischen Wandel verschärften Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Besonders Kinder mit Migrationshintergrund bräuchten bessere Bildungsangebote. Gleichzeitig muss die Regierung den Staatshaushalt nachhaltig sanieren, um die notwendigen Mittel für diese Maßnahmen bereitzustellen.
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Bundeskanzler Karl Nehammer bezeichnete Österreich bei der Vorstellung seiner Steuererleichterungspläne Ende August dennoch als einen der attraktivsten, innovativsten und produktivsten Standorte in Europa. Damit das so bleibt, sollte die künftige Regierung dringend notwendige Reformen nicht weiter aufschieben.