Top-Manager zum Standort Europa : Fachkräftemangel, Energiekrise, Bürokratie: Die stille Deindustrialisierung Europas?

Auf dem Podium beim Industriekongress 2025: vier Spitzenmanager aus der produzierenden Industrie – Thomas Friess (Tyrolit), Andreas Gerstenmayer (ehemaliger CEO von AT&S), Klaus Mader (SBO) und Hans Kostwein (Kostwein Gruppe).
- © Matthias Heschl„Hätten Sie Ihr Unternehmen noch einmal in Europa gegründet?“ Diese Frage leitete eine der spannendsten Diskussionsrunden des diesjährigen Industriekongresses ein. Auf dem Podium: vier Spitzenmanager aus der produzierenden Industrie – Thomas Friess (Tyrolit), Andreas Gerstenmayer (ehemaliger CEO von AT&S), Klaus Mader (SBO) und Hans Kostwein (Kostwein Gruppe). Die Antwort: ein differenziertes Ja – doch mit einem zunehmend kritischen Unterton.
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Im Zentrum der Diskussion stand ein Paradigmenwechsel, der sich leise, aber unaufhaltsam vollzieht: der Abschied vom einst bewährten Just-in-Time-Modell und der Übergang zu Just-in-Case-Strategien. Die Gründe dafür sind vielfältig – globale Krisen, geopolitische Spannungen, explodierende Energiepreise und ein wachsender Fachkräftemangel. Doch die Frage ist drängender denn je: Hat Europa als Industriestandort unter diesen Bedingungen noch eine Zukunft?
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Standort Europa: einst solide, jetzt fragil
„Österreich ist unser unprofitabelster Standort“, brachte Thomas Friess, CEO von Tyrolit, die Situation auf den Punkt. In einer wirtschaftlichen Weltlage, die von Unsicherheiten geprägt ist, werde Flexibilität zum zentralen Erfolgsfaktor. Tyrolit habe deshalb längst reagiert: „Unsere Strategie ist lokal für lokal. Wir sind sehr froh, dass wir viele Produktionsstandorte haben – das macht uns unabhängig von Zöllen, politischen Verwerfungen und unterbrochenen Lieferketten.“
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Während das Just-in-Time-Prinzip jahrzehntelang als Effizienz-Garant galt, stößt es in Zeiten globaler Krisen zunehmend an seine Grenzen. Statt minimaler Lagerbestände und punktgenauer Zulieferung wird nun Redundanz zur neuen Maxime – mit einem klaren Ziel: Resilienz.
Wenn wir in Europa so weitermachen, dann werden Entscheidungen getroffen, dass man hier nicht mehr investiert.Hans Kostwein beim Industriekongress 2025
Kostenlawinen und Bürokratie lähmen Investitionsklima
Dass Europa auf diesem Weg ins Hintertreffen geraten könnte, war Konsens unter den Podiumsteilnehmern. Friess kritisierte die Entwicklungen der letzten Jahre scharf: „Die Personalkosten sind in drei Jahren um 30 Prozent gestiegen. Die Energiekosten in Europa sind vollkommen aus dem Ruder gelaufen.“ Auch die Bürokratie sei ein wachsendes Problem: „Wenn ich eine Investition mache, ist sie zur Hälfte getriggert vom Arbeitsinspektor – wegen Details, die sonst niemand interessieren.“
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Der ehemalige AT&S-Chef Andreas Gerstenmayer blickte auf die 500-Millionen-Euro-Investition von AT&S in Österreich zurück – und stellte offen infrage, ob sie heute noch so entschieden würde: „Wahrscheinlich würde man es anders dimensionieren, wahrscheinlich anders ausrichten.“ Besonders die Fachkräfteverfügbarkeit und die sinkende Wettbewerbsfähigkeit des Standorts machten der Hightech-Industrie zu schaffen.
Segmentierte Produktion: die neue Normalität
Die Antwort der Industrie auf diese Herausforderungen lautet: Dezentralisierung. Hans Kostwein beschreibt das Modell seines Familienunternehmens mit Produktionsstandorten in Österreich, Kroatien, Indien und den USA: „Wir segmentieren nach Produkten. High-End-Produktion und Entwicklung machen wir in Österreich, das B-Segment wird in Indien gefertigt. Durch unsere Globalisierung haben wir den österreichischen Standort sogar gestärkt.“
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Ein Modell, das auch für Klaus Mader von SBO funktioniert – mit einem entscheidenden strategischen Vorteil: Redundanz. „Wir fertigen unsere hochpräzisen Komponenten in Österreich, Saudi-Arabien, Singapur und Vietnam. Wenn ein Standort ausfällt, springen die anderen ein. Das macht uns krisensicher.“
Asien als Vorbild? Der Mindset-Unterschied
Was Europa zusätzlich unter Druck setzt: Der Mentalitätsunterschied zu asiatischen Märkten. Kostwein berichtet von einem eindrücklichen Erlebnis in Vietnam während der Corona-Pandemie: „Unsere Arbeiter haben gefragt, ob sie im Werk leben dürfen, um weiterproduzieren zu können.“ Solch ein Engagement sei in Europa kaum vorstellbar. Stattdessen werde über Arbeitszeitverkürzungen und Frühpension diskutiert. „Wenn ich höre, 32-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, dann flipp ich aus“, so Kostwein.
Mader ergänzt: „Wir gehen zu früh in Pension, arbeiten zu wenig, haben zu viel Teilzeit – und wundern uns, dass wir an Wettbewerbsfähigkeit verlieren.“
Just-in-Case als Chance für Europa
Doch bei aller Kritik bleibt Optimismus: Europa habe weiterhin die besten Voraussetzungen für Hightech-Produktion, insbesondere durch Werkstoffkompetenz, Engineering-Know-how und verlässliche Partnernetzwerke. Friess betont: „Wir produzieren in Österreich Midtech-Produkte, die sehr viel Know-how erfordern. Dafür lohnt sich der Standort.“
Auch Klaus Mader verweist auf die metallurgischen Fähigkeiten, die SBO in Österreich mit dem Stahlhersteller Böhler entwickelt: „Wir haben gemeinsam Patente, arbeiten mit 3D-Metalldruckern. Das ist absolute Spitze – nicht billig, aber weltweit führend.“
Der Industriekongress 2025 offenbarte einen industriepolitischen Wendepunkt. Europas Industrie braucht nicht nur neue Produktionsstrategien – sie braucht politische und gesellschaftliche Reformen. Denn Just-in-Case-Strategien lassen sich nicht erfolgreich umsetzen, wenn die Standorte unter Lohn-, Energie- und Bürokratielast zusammenbrechen.
Die Botschaft der Unternehmer ist klar: Der Industriestandort Europa kann resilient, technologisch führend und zukunftssicher sein – wenn er sich an die neuen Realitäten anpasst. Die Zeit für diese Kurskorrektur ist jetzt.