30 Jahre INDUSTRIEMAGAZIN : Lohmann & Rauscher: Der lange Abschied des Dr. Leu

Helmut leuprecht
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Den Parkplatz bedeckt schon eine feste Schneedecke, als Helmut Leuprecht zu seinem Auto geht. Es ist wieder spät geworden im Büro. Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigt ihm, dass er erst nach neun Uhr bei seiner Familie im Wiener Nobelvorort Hietzing ankommen wird.

Vorsichtig manövriert er den Wagen über die glatten Straßen. Doch als ihn nur noch eine steile Gasse von seiner Haustür trennt, bleibt das Auto plötzlich im Schnee stecken. Helmut Leuprecht gibt Gas, der Motor heult kurz auf, aber voran kommt er nicht mehr. Er überlegt noch, den letzten Kilometer zu Fuß zu gehen, da klopft es an der Scheibe. Ein groß gewachsener Geschäftsmann, Anfang dreißig, bietet ihm seine Hilfe an.

Er stellt sich kurz als Dr. Doppler vor, holt dann seine Moonboots und eine Schaufel aus seinem Golf und fängt an, die Reifen des anderen Autos freizulegen. Als auch das nicht reicht, setzt er sich kurzerhand in den Kofferraum, so dass mehr Gewicht vorhanden ist, um die steile Gasse bewältigen zu können.

„Ja, an diesem Schneetag bin ich Herrn Dr. Doppler zum ersten Mal begegnet“, sagt Helmut Leuprecht. Das war vor über sechzehn Jahren, im kalten Winter 1993.

Als das INDUSTRIEMAGAZIN 20 Jahre alt wurde, war dieser Artikel Teil der großen Jubiläumsserie.

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Leu Lohmann Rauscher
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An der eigenen Academy bildet das Unternehmen seine Mitarbeiter weiter.

- © Lohmann & Rauscher

Der verdiente Pate

Mittlerweile verbindet die beiden ungleichen Männer aber weit mehr als eine spontane Pannenhilfe im verschneiten Wien. Der eine ist in die Fußstapfen des anderen getreten, hat den Patriarchen eines traditionellen Familienunternehmens beerbt. Es ist die Geschichte eines merkwürdigen Generationswechsels.

Helmut Leuprecht war das letzte aktive Familienmitglied des Traditionsunternehmens Rauscher. 1899 als Hersteller und Vertreiber von chirurgischen Verbandstoffen und Artikeln zur Krankenpflege in Wien gegründet, stieg das Unternehmen bald zum K. u. K. Hoflieferanten auf.

Fast vierzig Jahre lang bestimmte Helmut Leuprecht – zuletzt als Vorsitzender der Geschäftsführung – die Geschicke des Medizinprodukte-Herstellers. In dieser Zeit fusionierte er den mittelständischen Familienbetrieb zu einer schlagkräftigen Gruppe, errichtete ein riesiges Werk im Reich der Mitte und ergänzte das Sortiment durch kluge Zukäufe in den Nachbarländern als auch in Übersee. Heute zählt Lohmann & Rauscher zu den fünf größten Herstellern von Verbandmitteln, OP-Utensilien und Bandagen in Europa.

Als der Abschied nahte rätselte man im Unternehmen schon lange, wann sich „Dr. Leu“ – der Löwe, wie ihn die Mitarbeiter ehrfürchtig nennen – zur Ruhe setzen würde. Und vor allem wer ihn, der keinen Nachfolger aufgebaut hatte, wohl beerben würde.

Eine Rede vor 350 geladenen Gästen anlässlich des zehnjährigen Fusionsjubiläums im Herbst 2008 sollte die Marschrichtung abstecken. In einem Hotel im deutschen Bonn lässt Helmut Leuprecht seine wichtigsten Erfolge Revue passieren, gibt „gezieltes Wachstum und sicheren Ertrag“ für die Zukunft vor – und kündigt seinen Nachfolger an: Josef Doppler. Jenen Mann, der dereinst seinen Karren aus dem Schnee zog.

Am 1. Januar 2010 wechselt Helmut Leuprecht in den Beirat. Er ist zu diesem Zeitpunkt 68 Jahre alt. Es ist ein vernünftiger Schritt, aber sicherlich keiner, der dem Langzeitchef leicht fällt. Denn an diesem Tag endet eine Ära. Erstmals seit mehr als hundert Jahren wird die Verantwortung für das Unternehmen mit 3500 Mitarbeitern in 19 Ländern ausschließlich in den Händen familienfremder Manager liegen.

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Akkurat oder buschig

Es ist der 18. August 2009, ein spätsommerlicher Vormittag. Die Sonnenstrahlen fallen in die Eingangshalle von Lohmann & Rauscher in Wien-Penzing. Josef Doppler trägt an diesem Tag einen modernen dunkelblauen Anzug mit einer orangefarbenen Krawatte – und ist sichtlich gut gelaunt. Er plaudert über die Lage des Unternehmens im Gewerbegebiet und die gute Erreichbarkeit der Autobahn, während er auf den Konferenzraum zugeht. Hier nimmt er Platz auf dem Stuhl neben Helmut Leuprecht.

Bis auf den Oberlippenbart – der „Alte“ trägt ihn akkurat gestutzt, der „Junge“ mag es buschiger – gibt es keine Ähnlichkeiten zwischen den beiden. Doppler ist mehr als einen Kopf größer und wirkt von der Statur her robuster. Dass er damals ohne viel Mühe das Auto freischaufelte, verwundert da nicht. So beherzt wie die Schneeschaufel – das legt die kurze Vorstellung seiner Person „Dipl.-Ing. Dr. Josef Doppler, MSM“ nahe – packt er auch als Manager internationaler Konzerne und Unternehmensberater zu.

Vom Konsumgüterriesen Procter & Gamble ging es zu Roland Berger, vom Schalungsspezialisten Umdasch Doka zu PricewaterhouseCoopers. „Seit acht Monaten arbeite ich nun für Helmut Leuprecht“, sagt Doppler an diesem Tag.

Doch der ist selbst noch zu viel ungeduldiger Chef, als dass er den Ausführungen seines Nachfolgers mit uneingeschränkter Aufmerksamkeit folgen könnte. Mitten in der Vorstellungsrunde steht er auf und verlässt den Raum, um noch Unterlagen zu holen. Das Machtspiel eines Alphatiers?

Dann ist er selbst mit der Vorstellung an der Reihe. Leuprecht promovierte und trat mit Anfang dreißig in das Unternehmen seines Schwiegervaters ein, übernahm sechs Jahre später zusammen mit seinen zwei Schwagern die Geschäftsführung und wurde 1998 Sprecher der Gruppe. Die Branche kennt ihn als „Mr. Verbandstoffe“, viele Jahre war er als ihr Präsident in Österreich tätig. Wer in einer Position so aufgeht, kann nicht einfach leise Servus sagen, nur weil es Zeit ist. Dazu bedarf es einer anderen Persönlichkeit.

„Jeder in dem Haus gesteht Helmut Leuprecht absolute Stärke zu“, sagt ein langjähriger Mitarbeiter. Aus dieser Eigenschaft entwickelte sich auch der Spitzname „Dr. Leu“, der auf einen Löwen anspielt. Entsprechend groß sind auch die Erwartungen, die die Belegschaft an den Nachfolger stellt. „Mit Dr. Doppler wurde ein Mann engagiert, der in die Lage ist, in die Fußstapfen von Dr. Leuprecht zu treten. Aber dabei wird ihm jeder genau auf die Finger schauen“, heißt es hinter vorgehaltener Hand.

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Zwölf Monate lang muss Josef Doppler unter Beweis stellen, dass er die richtige Wahl ist, dass er die hohen Erwartungen erfüllt, die an seine Person gestellt werden. Doch wie verlässlich sind Zeugnisse und Referenzen, wenn es darum geht, sein Lebenswerk – einen Konzern mit rund 400 Millionen Euro Umsatz – in die Hände eines Menschen zu legen, den man nicht von Kindesbeinen auf kennt?

Eigentlich könnte ein Nachfolger auch aus der Familie kommen. Helmut Leuprecht hat mit seiner Frau Dagmar drei Kinder. Doch diese entschieden sich – zumindest vorerst – nicht für eine Karriere im Familienunternehmen. Tochter Andrea heiratete den Filmemacher Philipp Weck, Sohn Lukas beschäftigt sich beruflich mit Finanzen, und der jüngste, Lorenz, befindet sich mitten im Studium.

„Ob mal irgendwer aus der Familie kommt, kann man noch nicht sagen. Da müsste sich jemand qualifizieren. Das ist derzeit nicht der Fall“, sagt Helmut Leuprecht. Sein sehnlichster Wunsch, so scheint es, hat derzeit keinerlei Aussicht auf Erfüllung.

5400 Mitarbeiter in 19 Ländern zählt das Unternehmen.

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Viele Medizin- und Hygieneprodukte kommen aus dem Hause – etwa Verbandstoff.

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Das „Super-Entree“

Profis übernahmen daher die Suche nach einem Nachfolger. Als die Personalentwickler – darunter renommierte Headhunter – begannen, sich umzuhören, fiel immer wieder ein Name: Josef Doppler. In den Gesprächsrunden setzte sich dieser dann gegen alle Konkurrenten durch.

Kann gut sein, dass die Erfahrung Dopplers mit Rauscher den Ausschlag dafür gab. Im Jahr 1993 hatte Helmut Leuprecht Experten zu einem Strategiegespräch geladen. Josef Doppler arbeitete damals als Berater für Roland Berger in Wien und war als solcher mit der Vorstellung des Konzeptes beauftragt worden. Als er den Konferenzraum betrat und Helmut Leuprecht sah, erkannte der ihn gleich wieder als denjenigen, den ihm einige Wochen zuvor im Schnee geholfen hatte.

Es gibt Menschen, denen könnte so ein Zufall unheimlich sein. Nicht so Josef Doppler: „Ich habe dadurch ein super Entree gehabt und das Projekt bekommen.“ Acht Monate lang verbrachte er danach im Unternehmen, analysierte Prozesse, sprach mit den Mitarbeitern, begutachtete die Produktion. Die Empfehlung, die er danach aussprach, zeugte von Mut: Er schlug vor, das Unternehmen zu internationalisieren, Produktionskapazitäten in Tschechien und in China aufzubauen. Helmut Leuprecht stimmte – nach einer Bedenkzeit – zu.

In Slavkov bei Brünn und in Nova Paka bei Prag fertigt Lohmann & Rauscher heute Kompressen, Binden und Schlauchverbände, im chinesischen Xishui OP-Mäntelund Abdecksysteme. Keine fünf Jahre später wurde Josef Doppler erneut geholt. Dieses Mal war die Aufgabe aber noch anspruchsvoller. Es ging darum, den Zusammenschluss des österreichischen Unternehmens Rauscher mit dem deutschen Unternehmen Lohmann Medical zu beurteilen, ob also aus zwei familiengeführten mittelständischen Traditionsbetrieben ein Konzern geformt werden soll.

Er als Berater empfahl diesen Schritt, der den stärksten Eingriff in die Struktur des Unternehmens Rauscher seit seiner Gründung bedeutete. Bis dahin hatte es zwar auch verschiedene Zukäufe gegeben, aber keine der Firmen reichte an die damalige Größe Rauschers heran. Lohmann Medical – dabei handelt es sich um den Medizinprodukte-Bereich des Lohmann-Konzerns – hingegen schon. In seinem Fusionspapier bezifferte Doppler die zu erwartenden Synergien mit 40 Millionen Mark. „Das Fusionspapier, das ich geschrieben habe, wurde zu einhundert Prozent umgesetzt“, sagt er – und klingt dabei ein wenig wie ein Schüler, der gelobt werden will. Am 1. Juli 1998 starte das neue Unternehmen Lohmann & Rauscher.

Damit begann auch für Helmut Leuprecht ein neuer Lebensabschnitt. Er war nun der Chef eines Unternehmens, das damals mit 2600 Mitarbeitern 275 Millionen Euro Umsatz machte. Freitags und montags arbeitete er fortan in der Wiener Niederlassung und wohnte bei seiner Familie in Hietzing, von Dienstag bis Donnerstag fuhr er in das rheinland-pfälzische Rengsdorf, wo der fusionierte Konzern seinen rechtlichen Sitz in einer sandsteinfarbenen Villa aus dem 19. Jahrhundert und er selbst eine Wohnung hat. Da auch zahlreiche Firmen in Europa, den USA und Asien zu dem neuen Konzern gehören, fliegt er zudem regelmäßig dorthin.

Die Flexibilität in der Lebensführung erwartet er auch von seinem Nachfolger. „Der Herr Doktor Doppler wird es sicher genauso handhaben“, sagt er. Ein Satz, der sicherlich auch schon in anderen Zusammenhängen gefallen sein dürfte.

So gut wie Josef Doppler kennt sicherlich kein anderer externer Manager das Unternehmen Lohmann & Rauscher. Allerdings trat er bis zu seiner Wahl als Nachfolger stets als Berater auf. Er lieferte die Vorschläge, Helmut Leuprecht, der Macher, traf aber letztlich die Entscheidung und übernahm die Umsetzung. Die Rolle des Beraters abzustreifen und sich auch gegenüber Dr. Leu und Mitarbeitern zu profilieren, wird eine der großen Herausforderungen für Josef Doppler sein. Dass die neue Rollenverteilung für beide ungewohnt ist, ist an jenem Augustmorgen ganz offensichtlich. Leuprecht doziert, Doppler lässt ihn gewähren, ja hängt an seinen Lippen.

„Doktor Doppler wird jetzt die Strategie für die nächsten Jahre ausarbeiten“, sagt Leuprecht. Doppler nickt. „Das ist seine Hausaufgabe.“ Es wird wohl ein harter Weg für Dr. Doppler aus der dritten Person in einer Konversation zur ersten Person im Unternehmen.

Eine der Produktionsstätten liegt in Österreich.

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Am 1. Juli 1998 starte das neue Unternehmen Lohmann & Rauscher.

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Von K. u. K. zum Weltkonzern

Seit 1899 befindet sich der Verbandstoff Hersteller in Familienbesitz. Unter Helmut Leuprecht begann Anfang der 70er Jahre die Expansion. Die Geschichte des Verbandstoffherstellers Rauscher hat das Zeug, so manchen Monarchisten sentimental zu machen. 1899 als Hersteller und Vertreiber von chirurgischen Artikeln zur Krankenpflege in Wien gegründet, stieg das Unternehmen Rauscher Co. in kürzester Zeit zum größten Hersteller in der Donaumonarchie und zum Haus- und Hoflieferanten der Monarchie auf.

Den Wegfall der Kernmärkte in Osteuropa nach dem ersten Weltkrieg und die Wirren des Zweiten Weltkrieges steckte Rauscher mehr schlecht als recht weg. Erst als Helmut Leuprecht Anfang der 70er Jahre in das Unternehmen seines Schwiegervaters eintritt, werden die Weichen auf Expansion gestellt. Er gründet Vertriebsbüros in ganz Europa und verschmilzt 1998 den Familienbetrieb mit dem deutschen Hersteller von Medizinprodukten, der Lohmann Medical.

Das Gemeinschaftsunternehmen Lohmann & Rauscher International Gmbh & Co KG mit Sitz im deutschen Rengsdorf, aber unter österreichischer Führung, unterhält Produktionsstätten in Österreich, Deutschland, Frankreich, Tschechien und China und beschäftigt 5400 Mitarbeiter in 19 Ländern.