Mixed Reality : Digitaler Zwilling statt Schießereien mit Monstern

Ein ungewohntes Bild, das Vertreter dieser drei Firmen an einem Oktobertag in der deutschen Stadt Essen abgeben. Gemeinsam stehen da Topmanager des deutschen Industrieriesen Thyssenkrupp, des amerikanischen Weltkonzerns Microsoft und des Schweizer IT-Dienstleisters Zühlke auf der Bühne und berichten begeistert über eine Neuheit in der Fertigung eines Produkts.
Auch dieses Produkt steht bei der Industrie nicht oft im Mittelpunkt: Es sind Treppenlifte, die Menschen bestellen, denen das Stiegensteigen mit dem Alter Schmerzen bereitet. Die Neuheit dabei ist der Einsatz der klobigen schwarzen Datenbrille „Hololens“, die 3D-Bilder vom Stiegenhaus erstellt, den noch gar nicht eingebauten Lift am Bildschirm zeigt und dann die Daten direkt an die Fabrik sendet.
Alles in Losgröße 1
Bei näherem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass es um mehr geht als um Treppenlifte. Hier präsentiert Thyssenkrupp die erste industriereife Anwendung für Mixed Reality überhaupt. Virtuelle Welten für reale Stiegenhäuser. Internet der Dinge via Cloud für die Metallverarbeitung in der Fabrik. Und alles in Losgröße 1.
Lesen Sie im Interview Nikolaus Kawka, Geschäftsführer von Zühlke Österreich: Warum Mixed Reality zu einem regelrechten Umsatz-Generator werden kann
Die Arbeitsteilung bei dem Projekt: Thyssenkrupp steht im Mittelpunkt und liefert das Knowhow aus der Fertigung. Microsoft steuert mit der Hololens seine hochtechnologische Brille mit sechs Kameras und Sensoren bei, die eigentlich für Computerspiele entwickelt wurde. Zühlke schließlich hat geschafft, was die beiden anderen alleine nicht konnten: Die Systeme im Hintergrund so aufeinander abzustimmen, dass das Ganze tatsächlich reibungslos funktioniert. Und die Begeisterung rührt daher, dass alle drei Player damit völliges Neuland betreten.
Hololens: Wie funktioniert die Datenbrille?
Das fertige System funktioniert so: Der Verkäufer setzt im Stiegenhaus die Hololens auf und hält ein Tablet in der Hand. Anders als bei VR-Brillen sieht er gleichzeitig Projektionen der Brille genauso wie den realen Raum. Die Projektionen reagieren interaktiv auf das Geschen im Raum. Zuerst platziert der Anwender dann einen virtuellen „Ankerpunkt“, an dem sich die Hololens orientiert. Dann legt er einen kleinen Zeiger aus Plastik in die Ecke einer Stufe und berührt Zeigefinger und Daumen – ein sogenannter „Luft-Klick“, mit dem die Datenbrille diesen Punkt des Zeigers registriert.
Das gesamte Stiegenhaus ist in kaum einer halben Stunde ausgemessen statt wie früher an einem Tag. Millimetergenau. Nun kann der Verkäufer zusammen mit dem Kunden die Details des Lifts auswählen, während der Kunde auf dem Bildschirm oder über die Datenbrille sein eigenes Stiegenhaus in 3D betrachtet – mit dem virtiuell schon fertig eingebauten Lift.
„Erste Anwendung im industriellen Maßstab“
Ist der Vertrag fixiert, reicht ein Knopfdruck auf dem Tablet, und sämtliche Produktionsdaten rasen über „Azure“, die Cloud von Microsoft, zu einer Fabrik von Thyssenkrupp in den Niederlanden, wo sofort eine Metallbiegemaschine starten kann. Die Zeit zwischen dem ersten Kundenkontakt und der Installation beträgt damit 14 Tage. Das ist eine Verkürzung um den Faktor vier. Und ganz nebenbei sei es in jedem Wohnzimmer die perfekte Verkaufshilfe, berichten Verkäufer von Thyssenkrupp.
„In der Industrie laufen gerade viele Projekte, um Mixed Reality zu implementieren. Aber das sind alles eigentlich kleine Feldversuche. Unser Projekt ist die erste Anwendung im industriellen Maßstab“, sagt Christoph Buchbender, Finanzchef der Sparte Home Solutions bei Thyssenkrupp Elevator.
Thyssen unter Druck: Aufzugsparte als Ertragsperle
Dabei hält sich der Innovationsdruck in dieser Sparte durchaus in Grenzen: Thyssenkrupp Elevator ist weltweit sehr erfolgreich unterwegs. Das Aufzuggeschäft gilt mit einem Umsatz von zuletzt 7,7 Milliarden Euro als die Ertragsperle des Konzerns, der sich wie die Voestalpine immer stärker als Zulieferer anderer Industrien positioniert. Die traditionsreiche Stahlsparte fusioniert Thyssen gerade der indischen Tata Steel – und bringt unter dem Druck aggressiv auftretender Finanzfirmen weitere Umstrukturierungen auf den Weg.
Im Aufzuggeschäft dagegen könnten die Aussichten besser nicht sein, berichtet Andreas Schierenbeck, Vorstand von Thyssenkrupp Elevator: „Die Urbanisierung ist ein Megatrend. Bis 2050 werden 70 Prozent der Menschheit in Städten wohnen. Um das zu bewältigen, ist an jedem einzelnen Tag der Bau sämtlicher Stockwerke von Manhattan nötig. Und gleichzeitig werden Menschen immer älter.“
Das zeigt sich auch bei den Treppenliften, bei denen Thyssen Marktführer ist. Hier hat der Hersteller allein in den letzten drei Jahren um 20 Prozent zugelegt und erwirtschaftet einen Umsatz „irgendwo zwischen 300 und 600 Millionen Euro", so Schierenbeck. In etwa fünf Jahren will Thyssenkrupp damit die Milliardenmarke knacken.
Microsoft will Partner der Industrie werden
Trotzdem war das alltägliche Geschäft mit den Treppenliften bisher recht mühsam. Jedes Stiegenhaus ist ein Unikat – und zwischen dem detaillierten Ausmessen, der Auswahl der Technik, der Maßarbeit in der Fabrik und der Installation vergingen bis zu 70 Tage. Der Hersteller entschied sich für die Digitalisierung und fragte beim Softwareriesen Microsoft nach. „Noch nie hat Microsoft so schnell einen Kooperationsvertrag unterzeichnet“, berichten Verantwortliche. „Wir waren tatsächlich sehr an dem Projekt interessiert“, bestätigt Thorsten Herrmann, Geschäftsführer von Microsoft Deutschland. „Wir wollen weg vom reinen Lizenzenverkauf und ein Technologiepartner der Industrie werden. Gerade arbeiten wir zum Beispiel mit Volkswagen an autonomen Autos.“
Also trafen sich dutzende Spezialisten beider Seiten ab 2016 in Seattle und London. Für Thyssen eine neue Erfahrung, so Andreas Schierenbeck: „Wir sind Mechaniker. Unsere Leute wollten sofort Entwürfe zeichnen. Microsoft dagegen wollte zuerst sämtliche Prozesse studieren und Designs entwerfen.“ Doch irgendwann kam auch der Weltkonzern mit seiner Brille, die eigentlich für halbvirtuelle Schießereien mit Monstern gebaut ist, an seine Grenzen – weil die Hololens einfach keine auf Zehntelmillimeter genauen Messdaten liefern konnte.
IT-Dienstleister Zühlke sorgt für Skalierbarkeit
Und hier kommt der IT-Dienstleister Zühlke ins Spiel. Das Schweizer Unternehmen beschäftigt 960 Mitarbeiter, ist mit einer großen Dependance auch in Österreich vertreten und hat sich auf unterschiedlichste Digitalisierungsprojekte in der Industrie spezialisiert – etwa im Bereich Mobilität oder Konnektivität.
„Der Einsatz der Hololens für Thyssenkrupp musste skalierbar werden“, erklärt Jürgen Pronebner, Mitglied der Geschäftsleitung bei Zühlke. Neun Monate ging dann die Arbeit weiter, bis die Lösung schließlich einsatzbereit war. „Wir haben es geschafft, die Präzision nochmals zu steigern. Das kann natürlich auch für andere Branchen interessant sein“, so Pronebner weiter.
„Das ist nur der Anfang, wir arbeiten bereits an neuen Ideen“, sagt auch Fabrizio Ferrandina, Konzernchef von Zühlke. Bei anderen denkbaren Anwendungen verweisen die Beteiligten auf alle Bereiche, in denen es um genaues Messen und 3D-Modelle geht – etwa in der Autoindustrie, beim Einbau von Turbinen in Flugzeugen oder beim BIM in der Bauindustrie.
Konkurrenz plötzlich sehr nervös
Die Konkurrenz bei Treppenliften sei jedenfalls plötzlich mächtig nervös geworden, erzählt Finanzchef Christoph Buchbender: „Plötzlich versuchen es andere auch mit Visualisierungen. Aber das Entscheidende sind gar nicht die Visualisierungen. Es ist das Zusammenspiel des ganzen Systems und der Datenströme im Hintergrund – nahtlos von der Datenbrille zum digitalen Zwilling, und dann über die Cloud in die Fabrik. Das ist tatsächlich Industrie 4.0.“
Dieser Artikel stammt aus unserem Archiv und wurde erstmals Oktober 2018 veröffentlicht.