Lieferketten : Wie verändert die Corona-Epidemie die globalen Wertschöpfungsketten?

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Eingeschneite Täler, ein spiegelglatter See - wenn alljährlich Anfang März weit über 50 aus der ganzen Welt angereiste Plansee-Manager ihr Meeting abhalten, zeigt sich die Tiroler Gemeinde Reutte von ihrer wildromantischen Seite. Heuer fällt das Treffen des Tiroler Herstellers von Hochleistungswerkstoffen aus. Es hätte ohne die chinesischen Kollegen abgehalten werden müssen, was für Vorstand Bernhard Schretter angesichts der Wichtigkeit des Marktes nicht einmal im Ansatz eine Option war.

Ein ganz anderes Bild vermittelt der Hamburger Hafen. Hier, am drittgrößten Schiffs-Umschlagplatz Europas, wo jeder dritte Container aus China kommt, herrscht hektisches Treiben. Noch kommen hier Container an, die vor sechs Wochen in China verschifft wurden. Doch das "business as usual" wird sich bald ändern: Allein die großen Reedereien Cosco und Maersk haben in den vergangenen vier Wochen jeweils 70 Containerschiffe "blank sailen", also ausfallen lassen. Die Seefrachtexperten von Lloyds schätzen (bis 20. Februar), dass auf der Europa-Route 700.000 Zwanzig-Fuss-Standardcontainer (teu) aus dem Verkehr genommen wurden. "Wir rechnen mit einem Rückgang von rund 50 Prozent am Asien-Track" sagt Alexander Till von Hafen Hamburg Marketing anläßlich einer Fachkonferenz des Verband Netzwerk Logistik (VNL) Ende Februar in Wien. "Vor allem auch weil Transporte aus anderen asiatischen Ländern über Umschlagshubs in China indirekt betroffen sind."

Was passiert mit dem Hinterlandverkehr?

Wenn bald schlecht ausgelastete Schiffe eintreffen und danach die Anzahl der Schiffe sinkt, bringt das den Hinterlandverkehr unter Druck. "Wir wissen, dass schon jetzt massiv Zug- und LKW-Kapazitäten herausgenommen werden" bestätigt INDUSTRIEMAGAZIN ein Insider. Über Schulungen für Fahrer und Services wird versucht, die Stillstandszeiten zu überbrücken. Der Sprecher der Deutsche-Bahn-Tochter TFG Transfracht bestätigt, dass „bereits bestellte Züge ausgelegt“ also Trassenverträge für einzelne Tage massiv abbestellt werden. "Die gesamte weltweite Supply Chain wird hart getroffen, das hat keiner so erwartet, aber es ist eingetreten“ sagt TFG-Chef Bernd Pahnke.

Produziert China?

In China selbst, wo die Container herkommen, läuft die Produktion (entgegen offizieller Meldungen chinesischer Stellen) derzeit nur sehr schleppend wieder an. Zwar sind die meisten heimischen Unternehmen mit lokaler Produktion (von Voestalpine bis Magna) bereits wieder operativ, doch vor allem die chinesischen Klein- und Mittelbetriebe (von Verpackungsvormaterial bis zu essenziellen Dienstleistungen) liegen zumeist noch still. "Daher heisst es sehr oft: Produktion läuft, aber Output Null" sagt Günter Gruber, Head of Group Logistics bei der Semperit AG.

Die offiziellen Zahlen, die die Shanghaier Börse sammelt, zeichnen ein durchwachsenes Bild: Zwar beträgt die Rate der produzierenden Unternehmen in der nicht besonders stark betroffenen Provinz Jiangsu, in der viele heimische Unternehmen produzieren (Stand 20. Februar) 75 Prozent, doch die Mitarbeiterrückkehrrate liegt nur bei 57 Prozent. In Peking sind die Zahlen mit 61,2 Prozent und 47,5 Prozent noch ernüchternder. So arbeitet auch der Kranbauer Palfinger in Rudong (Provinz Jiangsu, bei Shanghai) derzeit nur mit einem Drittel der Belegschaft. "225 Arbeitnehmer dürfen weiterhin nicht aus ihren Neujahrsferien zurückkehren" sagt Palfinger-COO Martin Zehnder.

Besonders schwierig gestaltet sich die Administration der Government Audits, den ziemlich strengen Hygienekontrollen, die Voraussetzung dafür sind, dass die Behörden Unternehmensbereiche freigeben. "Oft wird die Fertigung freigegeben, aber das Lager und Versand sind noch gesperrt" sagt Semperit-Logistikchef Gruber anlässlich der VNL-Veranstaltung zum Thema Corona-Epidemie. Und: "Wenn ein neuer Infektionsfall in einem der Bereiche auftritt, geht das ganze Spiel von vorne los."

Wie funktional sind Logistikketten in China?

"Nach fünfwöchiger Sperre fertigen wir seit Ende Februar wieder in Jiangsu“ sagt Wolfgang Meyer, CEO des Spritzgussmaschinenherstellers Maplan erleichtert. Auftretende Lieferengpässe bei Maschinenkomponenten fängt man derzeit vor Ort mit Mindestbeständen ab. Allerdings: Bei Elektronik- oder Hydraulikteilen europäischer Zulieferer, die in China verbaut werden, erwartet Meyer früher oder später Lieferprobleme, da diese europäischen Zulieferer wiederum viele ihrer Teile aus China beziehen und Lieferungen aktuell schwierig sind. Die Belieferung nach (und der Umschlag aus anderen Asiatischen Ländern in) China stockt derzeit, weil es an Kran-, Lkw-Fahrern und Hafenarbeitern fehlt. Nur weil gleichzeitig auch die geringeren Rohstoffimporte Chinas das Umschlagvolumen vermindert haben, ist dieser Effekt bislang gering.

Wie stabil ist die Produktion in Europa?

Dabei ist noch nicht einmal ausgemacht, dass Lieferengpässe aus Europa auch in Zukunft nur an den Logistikketten liegen. Seit dem Ausbruch lokaler Ansteckungsherde in Europa Ende Februar stehen auch durchaus Quarantänemaßnahmen von Unternehmen in Europa im Raum. "Wenn ein Werk unter Quarantäne gestellt wird, dann müssen wir damit leben" sagt etwa Heimo Scheuch, CEO des Ziegelherstellers Wienerberger, der vier Fabriken in dem derzeit besonders betroffenen Nord- und Mittelitalien betreibt. Viele Unternehmen geben im INDUSTRIEMAGAZIN-Rundruf an, im Rahmen von Task Forces Lagerbestände an unverzichtbaren Vorleistungsprodukte derzeit auch innerhalb Europas besonders in den Fokus zu rücken.

Was bedeutet das für die LIeferketten in Europa?

Die globalen Lieferketten sind derzeit enormen Spannungen ausgesetzt - ob und wie sich diese auf europäische Wertschöpfungsketten überträgt hängt von der weiteren Entwicklung der Epidemie in Europa ab. Experten zeichnen derzeit zwei Szenarien für die unmittelbare Zukunft: Jenes einer milden Verlaufsform für Europa bei gleichzeitigem Abflauen der Folgen in China - und jenes für eine anhaltende Epidemie. Ersteres stellt die Industrie in den nächsten Wochen vor Herausforderungen in Produktionsplanung und im Absatz - und die Lieferketten ab April vor einen dramatischen Stresstest: "Wenn in drei bis vier Wochen in China wieder Vollbetrieb ist, werden wir einen Peak mit Wachstumsraten im zweistelligen Prozentbereich sehen, der gemanagt werden muss" sagt Bernd Pahnke. Etwa den Mangel an Leercontainern für den Export. "Das wird eine Herausforderung" sagt Alexander Till von Hafen Hamburg. "Mit Pufferlägern und der Zufütterung von Containern aus den USA und den VAE können wird das ausgleichen. Aber nur für kurze Zeit."

Sollte die Epidemie jedoch nicht wie erhofft abflauen, wird sich ganz Grundsätzliches ändern.

"Uns droht ein Lehman-Moment" sagt der Präsident des deutschen Instituts für Weltwirtschaft (IfW), der gebürtige Österreicher Gabriel Felbermayr. "Die aktuellen Entwicklungen zeigen uns plötzlich, wie fragil das System der Weltwirtschaft ist. Allein das Bewusstsein für die Fragilität kann einschneidende Effekte haben." Er geht davon aus, dass viele Führungskräfte eine Lehre aus der derzeitigen Situation ziehen: Mit Hochdruck Konzentrationsrisken zu minimieren und Wertschöpfungsketten zu verkürzen. Ein Effekt, den Plansee-CEO Bernhard Schretter in Reutte bereits zu spüren vermeint: "Ich bemerke eine große Verunsicherung. Wir erhalten Anfragen für Produkte, die Kunden bisher in China beschafft haben".