DIN, ISO, ÖNORM & Co : Wie Industriestandards zum Spielball für Lobbyisten verkommen

Eigentlich unterscheidet die beiden nur ein Zähler. Denn die ÖNORM 7535 und 7536 regeln denselben Umstand: Wie müssen Geräte zur Abgasmessung von Heizkesseln geprüft werden? Und trotzdem liegen zwischen den beiden Industriestandards Welten. Wer wüsste das besser als Christoph Fischer von Testo. Er ist der Leiter der Wiener Rauchgas-Prüfstelle des deutschen Herstellers für elektronische Messgeräte. Anfang 2008, so Fischer, habe die Norm 7536, Nachfolgenorm der 7535, Gültigkeit erlangt. Das kam freilich nicht ganz überraschend für den Wiener Betrieb – immerhin saß man in der einschlägigen Normenarbeitsgruppe im Austrian Standards Institute (ASI) und gestaltete die Norm mit. Die Arbeitsgruppe sprach dem Komitee eine Empfehlung für ein restriktiveres Prüfszenario aus: Nach ÖNORM 7536 dürfen Abgasmessgeräte nur mehr durch akkreditierte Prüflabors geprüft werden. Ein für Testo durchaus vorteilhaftes Szenario. Denn derartige Labors gab es 2008, kurz nach Veröffentlichung der Norm, aufseiten der Hersteller genau eins: Jenes von Testo. Noch ist ÖNORM 7536 kein Bundesgesetz Zwingen, ein akkreditiertes Prüflabor aufzusuchen, kann Käufer von Abgasmessgeräten in Österreich noch keiner. Nur Betriebe mit hohen Qualitätsstandards gehen derzeit mit gutem Beispiel voran. Es ist freilich nicht ausgeschlossen, dass die technischen Empfehlungen der Norm demnächst in das eine oder andere verbindliche Landes- oder Bundesgesetz gegossen werden. Denn immer wieder werden Entscheidungen, die in Normierungsgremien in Wien (ÖNORM), Berlin (DIN), Brüssel (EN) oder Genf (ISO) geschlossen werden, in nationale Gesetze und europäische Verordnungen festgeschrieben. Ebenso regelmäßig wie der Gesetzgeber bei der Formulierung von Gesetzen auf die Expertise der Normierungssachverständigen zurückgreift, werden diese von Partikularinteressen unterwandert. Zwar achten die Normungsinstitute in Wien (ASI), Berlin (DIN), Brüssel (CEN) oder die Internationale Organisation für Normung in Genf (ISO) penibel auf eine ausgewogene Zusammensetzung der Normierungsgremien, doch immer öfter setzen sich industrielle Allianzen in den Arbeitsgruppen gegen Experten der Wissenschaft durch. Manchmal existiert zwischen Wirtschaftsinteresse und Wissenschaft gar keine Diskrepanz mehr: Immer mehr Universitätsinstitute gelten als „industrienah“. Kleine und mittlere Unternehmen – und deren Interessen – bleiben, auch aufgrund erheblicher Informationsdefizite, auf der Strecke. Eine ganze Industrie an Zertifizierern und Normierern hat es sich in dieser Gemengelage gemütlich eingerichtet. Ein Stück Normungsrealität in drei Kapiteln. Hier gehts weiter: Kapitel 1: Im Glaspalast der Normierer
Das um 2,6 Millionen Euro umgebaute Meeting Center des Austrian Standards Institute (ASI) hat in Sachen Technik einiges los. In Sekundenschnelle wechselt die Stimmung in der Zentrale der Gralshüter heimischer Normen von Büroheimeligkeit zu Sonnenuntergang am Meer. Sodawasser fließt in der Wiener Heinestraße aus dem Wasserhahn. Der Cafeteria fehlt es, so stellen Gäste fest, an keinem Luxus. „Wie viele der zig Normen beim Umbau wohl missachtet wurden?“, fragte ein Eröffnungsgast in kleiner Runde spitz, aber unüberhörbar. „Die Klage über zu viele Normen ist uns nicht ganz neu“, räumt Johannes Stern, Kommunikationschef des ASI, ein. Nicht weniger als 24.497 Industriestandards bietet das österreichische Normungsinstitut derzeit (Oktober 2012) zum Verkauf an. Allein an der Veräußerung der Papierversionen von Normen verdient das Institut (laut Selbstbild „Europas bestorganisiertes Normungsinstitut) je nach Umfang zwischen 30 und 250 Euro. Hinzu kommen Einnahmen aus der Zertifizierungstätigkeit. Doch die edelste Aufgabe des ASI ist die Bereitstellung von Dienstleistungen zum Zustandekommen von heimischen Industriestandards. Sieht die Wirtschaft oder Verwaltung Bedarf an einer neuen Norm (oder der Aktualisierung einer bestehenden), recherchiert das ASI das Umfeld. Häufig existiert schon ein Komitee, dem eine neue Arbeitsgruppe angehängt werden kann. Das ASI ruft dann etwa über Interessenvertretungen zur Mitarbeit. Einbringen? Konnte sich bis dato jeder, der rechtzeitig davon wusste ab 1. 1. 2013 – müssen Betriebe nun eine finanzielle Hürde nehmen. Hier gehts weiter: Das "Starterpaket": Die Eintrittskarte für Lobbyisten
Ab 1. Jänner 2013 hebt das Austrian Standards Institute einen Jahresbeitrag von 450 Euro unter Teilnehmern an der Normung aus dem nichtöffentlichen Bereich ein. Das beschloss das ASI-Präsidium im Oktober. Der Grund: Die Finanzierungsbeiträge der öffentlichen Hand seien spürbar zurückgegangen. „Wir mussten zuletzt unsere eigenen Reserven anknabbern“, heißt es beim ASI (Jahresbudget 2011: 14 Millionen Euro). Tatsächlich wird das Normungsinstitut seit Jahren von Bundesmitteln ausgetrocknet. Experten müssen für ihre Expertise zahlen Die Inkassoaktion könnte aber die Falschen treffen: Statt dass seit Jahrzehnten in den Normungsausschüssen Tätige für ihre korrekte, fachlich gute Arbeit honoriert werden, sollen sie jetzt zahlen, kritisieren die Experten in den Ausschüssen. „Wer wird da wohl noch mitarbeiten?“, fragt sich Rechtsanwalt Rainer Kurbos (siehe Kommentar Seite 28). „Alte Hasen“ in der Normierungsszene drohen deshalb schon mit Konsequenzen: Josef Fink von der TU Wien überlegt ernsthaft, seinen Komiteevorsitz im Normungsausschuss Stahl-Verbund und Aluminiumbau zurückzulegen, wenn nur eine „Rumpfmannschaft“ aufgrund einer Austrittswelle „übrig bleibt“. Mit der Einhebung eines Jahresbeitrags, so die mitschwingende Kritik vieler, mache sich das ASI anfällig für Partikularinteressen einiger weniger. Hier gehts weiter: Kapitel 2: Im Hinterzimmer der Normungsgremien
Normungsprofis von Motorenbauern wissen genau, wann sich die Mitarbeit in einer Arbeitsgruppe bezahlt macht. Und in der IEC-Arbeitsgruppe TC2/WG31 war dies der Fall. Das Gremium ist für die Erstellung der Drehstrom-Asynchronmotoren- Norm IEC 60034-30-1 zuständig. Eine Norm, die Zündstoff birgt: Brüssel will auf Basis der neuen Normengeneration rigidere Energieeffizienzziele in eine Verordnung packen. Selbst eine Ausweitung der Norm auf Hochspannungsmotoren bis 6000 Volt stand im Raum. Motorenbauer wie Siemens oder ABB waren darüber „not amused“. Bei einer Sitzung der IEC in Kyoto Mitte Juni „hagelte es in dem Punkt Kritik“, erinnert sich ein Antriebsspezialist. Die Gefahr ist nun vorerst gebannt: Die Norm dürfte auf 1000 Volt – also den Mittelspannungsbereich – zurückgefahren werden. Wie es dazu kam? In der Arbeitsgruppe bildete sich erfolgreich eine Allianz gegen die Normierung im höheren Voltbereich. Hier gehts weiter: Wie auf einer Tauschbörse
Was vorkommt: „Wir Techniker verstehen uns untereinander ausgezeichnet“, meint ein Mitglied der IEC-Arbeitsgruppe. In seinen weiteren Schilderungen zur Arbeit in Normungsgremien klingt es aber ein wenig nach Tauschbörse. „ABB wollte größere Leistungen in einer Norm, also haben wir sie hineingeschrieben“, erzählt er. Er pochte im Gegenzug auf die Verankerung „kleinerer Einphasenmotoren“ in der Norm. Mittelständler haben es da schon schwerer, sich in der Normenwelt einen Namen zu machen. Selbst der bestens vernetzte Unternehmer Günter Rübig muss bei dem Thema passen. Um (markt)gestalterische Akzente zu setzen, müssen KMU eher auf Wunder hoffen. Glücklicher Zufall Ein solches Wunder geschah Christian Riedler. Ein Industriekontakt lenkte die Aufmerksamkeit des Produktentwicklers beim Sondermaschinenbauer Fill im Sommer 2011 nach Frankfurt. Dort, im Hessischen, nahm gerade ein Arbeitskreis des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer VDMA seine Arbeit auf. Dieser – AK4 des Arbeitsausschusses 060-30-05 (MES-Schnittstelle) – weckte Riedlers Neugier. Denn die Oberösterreicher sind mittlerweile auch unter die Softwarehersteller gegangen. Teil 6: Generalmobilmachung
Mit Fertigungsmanagementsystemen will Fill die nächsten Jahre gutes Geld verdienen. Angesichts der Situations- schwere entscheidet sich der Betrieb, Mitglied des Gremiums, in dem ein VDMA-Einheitsblatt entsteht, zu werden. Und schafft es fortan auch, Prozessgrößen für den Datenaustausch zwischen Arbeitsplätzen und MES-Systemen mizudefinieren. „Geht alles glatt, können wir unser Produkt bald als schnittstellenkonform gemäß VDMA-Arbeitsblatt vertreiben“, sagt Riedler. Nicht nur das. Das Ergebnis des Arbeitskreises soll auch die Eintrittskarte für die Welt der Normen sein. Denn es soll auch einem Normungsausschuss vorgelegt werden, was eine ISO-Norm zur Folge haben könnte. Das Problem: Ohne den Zufall – den Tipp des Industriekontakts – hätte der Mittelständler gar nicht erst Wind vom Normungsversuch gekriegt. „Die rasche Integration von MES-Systemen wäre uns künftig schwerer gefallen“, glaubt Riedler. Mitunter müssen sogar Interessenvertretungen mobil gemacht werden, um nicht zum Spielball einiger weniger in der Welt der Normen zu werden. Generalmobilmachung Manchmal hilft gegen den Partikularismus in den Normierungsgremien sogar nur eine Generalmobilmachung. Ein Entschluss im Normengremium hätte heuer österreichische Baufachleute beinah massiv schlechter gestellt. Anfang des Jahres brachten die Baudirektionen Wiens und Niederösterreichs in der Normungsarbeitsgruppe ON-AG 011.04 einen pikanten Antrag ein. Das Thema Nachhaltigkeit im ASI solle, so der Plan, künftig in einem „übergeordneten Norumgsgremium behandelt werden“, kennt ein Experte die Details der übers europäische Normungsgremium ins nationale Spiegelkabinett geschwappten Materie. Bauexperten konterten: „Absurd.“ Deshalb, weil Kosten und Aufwand für KMU explodieren würden, wenn nun auch „bauferne Leute“ Umweltindikatoren durchackern würden. Nur um Haaresbreite setzten sich die Wirtschaftskammer- Fachverbände „in einer Kampfabstimmung“ in der Arbeitsgruppe durch. Hier gehts weiter: Kapitel 3: Die Wirtschaft im Würgegriff der Zertifizierungsindustrie
Wer Anton Höller im Oktober länger an den Hörer seines Telefons fesseln wollte, hatte schlechte Karten. „Wir sind in der Vorbereitung zu unserem dreitägigen Überwachungsaudit nach ISO 9001 und haben derzeit keine Ressourcen zur Verfügung“, sagte der Produktionschef (und Qualifizierungsbeauftragte) des Kunststoffhalbzeugeherstellers Senoplast freundlich, aber bestimmt. Die Umsetzung von Industriestandards und deren Zertifizierung (Gütesiegel, die bestätigen, dass diese Normen auch eingehalten werden) binden – siehe Senoplast – nicht nur unglaubliche Ressourcen. Sie entwickelt mitunter auch ein erstaunliches Eigenleben. „Fast alle 14 Tage muss unsere Produktion irgendeinen Nachweis erbringen, dass das Qualitätslevel in der Produktion angehoben werden konnte“, erzählt etwa der Produktionsleiter eines Automobilzulieferers, der seinen Namen hier nicht lesen will. „Es geht doch heute hauptsächlich darum, Zertifikate zu sammeln“, sein Fazit. Eigentlich sollten Normen die Verständigung in Wirtschaft, Technik oder Wissenschaft erleichtern. Angesichts der Normenflut und immer kürzerer Normierungs- und Zertifizierungszyklen ist dieser Auftrag aber immer schwerer zu erfüllen. „Wir verzeichnen einen zweistelligen Anstieg an Umweltaudits und der Vergabe von Zertifikaten“, freut sich die Zertifizierungsstelle Quality Austria über genügend Arbeit. Für Betriebe wird die wachsende Fülle an neuen technischen Regeln und Erfordernissen wie vorweisbaren Zertifikaten aber immer undurchschaubarer. „Schneller als man es sich versieht, steht das Audit vor der Tür“, heißt es auf der Website des TÜV Austria fast schon höhnisch. Teil 8: "Die Welt wird halt komplexer"
Kritik dafür ernten die Zertifizierer nur hinter vorgehaltener Hand. Wer will sich denn schon offen dem Trend der Qualitätssteigerung in der Industrie entgegenstellen? So wächst im Schatten des industriellen Qualitätsstrebens eine zunehmend selbstbewusster agierende, gewinnorientierte Zertifizierungsindustrie, deren Selbstzweck die „Produktion“ immer weiterer Normen ist. Am Beispiel eines durchschnittlichen österreichischen Stahlbaubetriebes wird dies deutlich: Laut Auskunft der Wirtschaftskammer kommen auf durchschnittliche Stahlbaubetriebe mittlerweile jährliche Zertifizierungskosten von rund 20.000 Euro zu. Und die Zertifizierer haben kein Interesse, daran etwas zu ändern. „Wie kann etwa beim ASI, das die Normung voran- treibt und sich die Zertifizierung bezahlen lässt, ein wirtschaftliches Interesse an schlanker Normung gegeben sein?“, fragen sich selbst Mitglieder von Normungsausschüssen.Doch Zertifizierungsinstitute haben längst gelernt, wie man für ein weiter florierendes Geschäft sorgt: Durch geschicktes Lobbying, bis hinauf zu den mächtigen Normungsausschüssen in Brüssel. Im europäischen Stahlbau- Normenausschuss etwa ventilierte Finnland das Ansinnen, die erforderlichen Zertifizierungszeiträume im Stahlbaubereich von drei Jahren auf ein Jahr herabzusetzen. Eine Allianz zugunsten einer solchen Norm war rasch gefunden: Finnische Vertreter (des tendenziell starken Holzbaus) waren sofort Feuer und Flamme für die Idee – „und natürlich auch die Zertifizierer“, weiß ein Normungsspezialist. Die noch Oberwasser haben in der Welt der Normen und im Qualitätsmanagement. Wie heißt es beim TÜV AUSTRIA so schön: „Bei uns erfahren Sie, wie Sie Audits mit Freude abwickeln.“ Teil 9: Kommentar: "Was war mei' (Gegen-)leistung?
Durch missverstandene Privatisierung und Effizienzsteigerung ist dem ÖNORM-Institut (neudeutsch ASI) das Geld ausgegangen. Daher werden zukünftig Teilnehmern an der Normung Jahresgebühren von 450 Euro abverlangt. In Zeiten wie diesen stellt sich die Frage „Wo ist die Leistung?“: Der Zahler dieser Gebühr erwartet füglich eine Gegenleistung, beispielsweise im exklusiven Zugang zu wettbewerbsbeschränkenden Regelungsmechanismen. Dafür sind EUR 450,00 wohlfeil und gut angelegtes Geld, als Eintrittskarte in einen staatlich autorisierten Wettbewerbsbeschränkungsmechanismus quasi als Lobbyistengebühr? Das haben sich die ehrlich seit Jahrzehnten in den Normungsausschüssen Tätigen nicht verdient, anstatt dass ihre ehrliche, fachlich hervorragende Arbeit honoriert wird, sollen sie jetzt eine Gebühr zahlen. Wer wird da noch mitarbeiten? Man stelle sich bloß vor, die Rechtsanwälte würden jetzt jährlich EUR 10.000,00 dafür einzahlen müssen, dass sie exklusiv an der Gestaltung der Gesetze basteln dürften. Gerade die Befugnis, Normen mit dem Anspruch auf Allgemeingeltung zu schaffen, erfordert zwingend eine objektive, unparteiische, von allen Interessen losgelöste und damit rein öffentliche Finanzierung. Teil 10: Klaus Woltron: "Die kritische (Bürokraten-)Masse"
„Je mehr Normen er schafft, desto mehr verdient irgendjemand im Staat.“ So etwa könnte die Modernisierung des Tacitus-Zitats lauten: „Je verdorbener der Staat ist, desto mehr Gesetze hat er.“ Durch die Überlagerung mit dem Parkinson’schen Gesetz („Arbeit dehnt sich in genau dem Maß aus, wie Zeit für ihre Erledigung zur Verfügung steht“) sehen sich in die Jahre gekommene Staaten mit einer lawinenartig steigenden Zahl von Gesetzen und Normen konfrontiert. Es gilt das eherne Gesetz der Alterung: Erstarren, Verdorren, Verkrüppeln. Da Demokratien sich aus Angst vor der Wählergunst scheuen, ihren Gesetzen mit abschreckenden Sanktionen Autorität zu verschaffen, werden im Anlassfall hurtig Annexe und Durchführungsverordnungen in die Welt gesetzt, um den Volkszorn scheinheilig zufriedenzustellen. An der Missachtung durch Missetäter ändert dies wenig. Immer neue Paragraphen, Artikel und Bestimmungen werden geboren, die wiederum missachtet oder gar nicht mehr zur Kenntnis genommen werden. Zwecks Administration des schnell anschwellenden Materials giert man auf EU-, Staats-, Ministeriums-, Beamten- und Gerichtsebene stets nach neuem Personal. Dieses, selten bis zur Erschöpfung ausgelastet, sucht sich neue Betätigungsmöglichkeiten, eröffnet Fehden mit konkurrierenden Ämtern und erfindet immer neue Kontrollsysteme, was zu neuen Regulativgebirgen sowie explodierenden Kosten führt. Solcherart beschäftigt sich eine abgehobene Büro-Bonzo-Normokratie in steigendem Maße mit sich selbst. Ganz außer Zweifel steht, dass dieser Apparat ab einem gewissen Punkt – man könnte ihn die kritische Bürokratenmasse nennen – der operativen Wirtschaft nicht mehr bedürfte, um zu existieren: Er hätte mit sich selbst genug zu tun. Dass insbesondere technische, medizinische und sonstige sicherheitsrelevante Bereiche einer Standardisierung und Normierung samt dem dazugehörigen Überwachungs-, Zertifizierungs- und Begutachtungssystem bedürfen, steht außer Diskussion. Wie alles aber, das lange genug Zeit zum Wachsen hat, „geht’s ins Blöde über“. Ein Beispiel aus der dahingegangenen UdSSR macht recht nachdenklich: A. G. Stachanow (1905– 1977) förderte am 31. August 1935 in einer Kohlegrube als Hauer im Donezbecken in einer Schicht 102 Tonnen Kohle. Somit übererfüllte er, mithilfe von sieben Zuarbeitern, die ihm zur Seite standen, die Norm um das 13-Fache. Es hat, leider Gottes und Lenins, angesichts des Schicksals dieses Kohlebergbaus und der UdSSR, letztendlich nichts genützt. Teil 11: Georg Matzner Kommentar: Auf die Bremse!
Die 2011 (zum Glück!) verworfene Norm über das „Gendering in der schriftlichen Kommunikation“ steht für vieles, was derzeit falsch läuft. Normen, die der Verringerung von Handelshemmnissen und der Sicherstellung von bestimmten Merkmalen einer Ware dienen sollen, werden von Partikularinteressen geleitet. Hinzu kommt ein Wildwuchs: Wer heute ein Unternehmen startet, dem kann es, wie im Bauwesen, leicht passieren, 20.000 Euro für Normen auszugeben. Diese verweisen auf zig mitgeltende weitere Standards, die dann auch alle einzuhalten sind. Auf diese Art werden Kreativität und Ideenreichtum der Unternehmer weiter geknebelt und Neues wird blockiert. Ein probates Mittel, diese Normierungslust zu bremsen, wäre die verpflichtende Einführung von Auswirkungsberichten, wie sie für Gesetze schon ansatzweise umgesetzt sind: Die Vorlage eines Vorhabensberichtes mit Begutachtungsmöglichkeit für jede neue Norm. Wenn darin die Auswirkungen, die die neue Norm auf die Volkswirtschaft hat (z. B. Kosten für Marktaufsicht, Arbeitsmarkt …), und die Kosten für die Erfüllung der Norm für Betriebe offengelegt würden, wäre ein Neuanfang getan.