Kommentar : Klaus Woltron: Die gekaufte Wahrheit

Klaus Woltron
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Über den Begriff Wahrheit wurde immer schon erbittert gestritten. Eine Vielzahl von Theorien dazu gibt es, von Aristoteles bis Marx, von Kant bis Habermas. Tiefes Grübeln hilft nicht, man greife auf praxistaugliche Definitionen zurück: Wahrheit ist die aus vielen Gesichtspunkten her überprüfbare Stimmigkeit einer Feststellung. Wie Semmeln, Aktien und Autos kann man heutzutage auch (relative) Wahrheiten kaufen: Sie werden zunehmend zu einem handelbaren Gut. Der Wille, einen Zeitungsbericht, eine Statistik, die Aussagen von Politikern und Wertpapierhändlern, die mild abführende Wirkung eines Milchprodukts auf Übereinstimmung mit den Fakten zu überprüfen, hat wegen der Oberflächlichkeit von uns allen erheblich gelitten. Das allein aber ist noch nicht der ganze Schaden: Es werden immer größere Summen zwecks Manipulation von Fakten auf den Markt geworfen. Vermittels gewaltiger Summen wird ein ganz bestimmtes Bild von Produkten und Dienstleistungen angestrebt, welches nicht immer mit deren tatsächlichen Qualitäten übereinstimmt. Der ORF wird offensiv von politischen Parteien umworben: Für das Bild der Wirklichkeit in den Köpfen von Millionen Menschen ist es nicht gleichgültig, worüber und in welcher Form berichtet oder nicht berichtet wird, welche Scheinwelten in soap – operas und Seitenblicken konstruiert werden. Hollywood war nur ein Anfang. Journalisten, die finanziell von den Eigentümern ihrer Medien abhängig sind, berichten nicht selten manipulativ. Das ist für jeden Zeitungsleser, der mehrere Medien studiert, offenkundig. Differenzen in Nachrichten über ein und denselben Sachverhalt gehen mittlerweile weit über weltanschauliche Positionsunterschiede hinaus, demonstrieren bewusste und offensichtliche Manipulation: Gekaufte „Wahrheit“. Der Beruf des Wahrheits- und Stimmenverkäufers in wichtigen Gremien – des Lobbyisten – ist jüngst wegen allzu großer Dreistigkeit arg in Verruf geraten. Die Metapher von den „Sümpfen und sauren Wiesen“ (© Bundespräsident Kirchschläger) ist etwa 30 Jahre alt. Damit wird die Vergesslichkeit der Öffentlichkeit von einem Skandal zum anderen evident. Der Mechanismus ist immer der gleiche; die Dimensionen der Malversationen allerdings haben sich verzigfacht. Politiker brauchen angeblich keine Sachkenntnis. Daher sind sie, je fachfremder, umso abhängiger von ihren Ratgebern. Ein unerhörtes Beispiel vom Entstehen verzerrter Wirklichkeiten stellt das Ergebnis der Manipulation von Politikern durch Experten dar. Wenn Herr Barroso, Frau Merkel oder Frau Fekter die Finanzgurus ihrer Organisationen oder Parteien, die allesamt Interessengruppen im System repräsentieren, um Rat, beispielsweise betreffend „Rettungsschirme“ in ´zig – Milliardenhöhe, fragen, bekommen sie Antworten, die nur einen Teil der Wahrheit abdecken – nämlich jenen, der diesen Ratgebern nützt. Die allermeisten Betroffenen bleiben ungefragt und müssen mit den Folgen der „Ratschläge“ leben. Eine der gewaltigsten Enteignungsaktionen der Geschichte – eines wohl geplanten Raubzugs! soll den zu Schröpfenden auf diese unappetitliche Weise schmackhaft gemacht werden. All das führt dazu, dass man immer weniger glaubt, was berichtet wird. Das Grundvertrauen in Politik, Presse und Informationssysteme als Ganzes ist nachhaltig erschüttert. Das führt so weit, dass man Interviews und Berichte von einzelnen Politikern und Journalisten nur mehr als Überschrift registriert, weil man, erstens, deren fixe Ideen schon kennt und, zweitens, auch ihre individuelle Art des Lügens und Verdrehens. Für das demokratische System führt das zu einer existentiellen Krise: Zur Skeptokratie.