Software-Defined Vehicles : NXP übernimmt TTTech Auto: Ein strategischer Meilenstein für die Zukunft der Software-definierten Fahrzeuge

Martin Kocher, Henrietta Egerth-Stadlhuber, Markus Stäblein, Jens Hinrichsen, Georg Kopetz

Martin Kocher, Henrietta Egerth-Stadlhuber, Markus Stäblein, Jens Hinrichsen, Georg Kopetz 

- © Nicky Webb Photography

Ein Zusammenschluss mit weitreichender Bedeutung

Die Übernahme sichert NXP nicht nur einen direkten Zugang zu einer bewährten und weitverbreiteten Middleware-Lösung, sondern stärkt auch seine Position als führender Anbieter von Hardware- und Softwarelösungen für die Automobilbranche. TTTech Auto, eine Wiener Erfolgsgeschichte, hat sich mit MotionWise als zentrale Plattform für Software-Updates, Sicherheit und Echtzeitkommunikation in Millionen von Fahrzeugen weltweit etabliert.

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Jens Hinrichsen, Executive Vice President für NXPs Automotive-Sparte, betont die Bedeutung dieser Fusion: „Wir kombinieren die unübertroffene Halbleiterkompetenz von NXP mit der branchenführenden Middleware-Technologie von TTTech Auto, um eine vollständig integrierte Plattform für das softwaredefinierte Fahrzeug der Zukunft zu schaffen.“

Diese technologische Fusion stellt einen entscheidenden Schritt für die Automobilindustrie dar, die sich in einem tiefgreifenden Wandel befindet. Traditionelle Fahrzeugarchitekturen weichen zunehmend softwaregesteuerten Systemen, die durch regelmäßige Over-the-Air-Updates und individualisierbare Funktionen eine völlig neue Dimension der Mobilität ermöglichen.

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Österreichs Technologiestandort im Fokus

Die Übernahme von TTTech Auto durch NXP wurde am Mittwoch in einem hochrangigen Pressegespräch im Hotel Sacher in Wien diskutiert, bei dem zahlreiche Industrievertreter, Politiker und Technologieführer ihre Einschätzungen zur strategischen Bedeutung dieser Fusion äußerten​. Bundesminister Martin Kocher sieht in der Transaktion einen klaren Gewinn für den österreichischen Wirtschaftsstandort: „Diese Übernahme zeigt, dass Österreich als Innovationsstandort eine zentrale Rolle in der globalen Technologieentwicklung spielt. NXP investiert nicht nur in eine österreichische Firma, sondern stärkt langfristig den Forschungs- und Entwicklungsstandort.“

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Kocher verwies auf die strategische Bedeutung der Halbleiterindustrie für Österreich, das innerhalb Europas eine Spitzenposition bei Forschungsausgaben und Umsatz pro Kopf im Halbleitersektor einnimmt. Die Forschungsförderungsgesellschaft (FFG), die TTTech in den vergangenen Jahren durch verschiedene Programme unterstützt hat, unterstreicht die Bedeutung solcher Kooperationen für die Innovationskraft der Region. FFG-Geschäftsführerin Dr. Henrietta Egerth-Stadlhuber betonte die Rolle der engen Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Industrie: „Der hohe Kooperationsgrad in Österreich ermöglicht es Unternehmen wie TTTech, sich schnell weiterzuentwickeln und global zu wachsen.“

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Software-Defined Vehicles (SDV): Die Zukunft der Automobilindustrie

Ein Software-Defined Vehicle (SDV) ist ein Fahrzeug, dessen zentrale Funktionen – von der Steuerung über Sicherheits- und Assistenzsysteme bis hin zu Infotainment und Connectivity – größtenteils durch Software definiert und gesteuert werden. Im Gegensatz zu herkömmlichen Fahrzeugen, bei denen die Fahrzeugfunktionen stark von der verbauten Hardware abhängen, ermöglicht das SDV-Konzept eine kontinuierliche Weiterentwicklung und Anpassung durch Software-Updates.

Österreich hat als kleines Land einen großen Vorteil. Wir sind sehr nah beisammen – Industrie, KMUs und Wissenschaft arbeiten eng zusammen. Das fördert Innovation und globale Wettbewerbsfähigkeit.
Henrietta Egerth-Stadlhuber (FFG)

Technologische Synergien: Halbleiter trifft Middleware

Aber warum übernimmt ein Halbleiterunternehmen wie NXP eine spezialisierte Softwarefirma? Die Antwort darauf liegt in der zunehmenden Verschmelzung von Hardware und Software in der Automobilindustrie. Jens Hinrichsen erläuterte diesen Aspekt: „Ein softwaredefiniertes Fahrzeug benötigt eine hochleistungsfähige Hardware-Plattform, die mit einer sicheren, integrierten Softwarelösung kombiniert wird. Das ist genau das, was NXP und TTTech Auto gemeinsam bieten.“

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Während NXP die Mikrocontroller, Netzwerke und Power-Management-Systeme liefert, stellt TTTech Auto mit MotionWise die Middleware bereit, die all diese Komponenten orchestriert. Die Kombination beider Technologien soll Automobilherstellern eine vorkonfigurierte, validierte Plattform bieten, die Entwicklungszeiten verkürzt und Systemkomplexität reduziert.

Ein besonders kritischer Punkt ist dabei die funktionale Sicherheit. Die Fähigkeit, sicherheitskritische Funktionen wie Brems- oder Lenkassistenten in Echtzeit zu steuern, ist essenziell für moderne Fahrerassistenzsysteme und autonomes Fahren. Die robuste Sicherheitsarchitektur von MotionWise garantiert, dass Latenzen keine Rolle spielen und sicherheitsrelevante Prozesse priorisiert behandelt werden.

Hinrichsen verdeutlichte dies mit einem Beispiel: „Stellen Sie sich vor, Sie starten Ihr Auto und es braucht genauso lange zum Hochfahren wie ein Computer – das wäre inakzeptabel. MotionWise sorgt dafür, dass sicherheitskritische Funktionen sofort einsatzbereit sind.“

Jens-Hinrichsen, Markus-Stäblein, Dr.Martin Kocher, Dr. Henrietta Egerth-Stadlhuber, Georg-Kopetz

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Unsere Unternehmensgruppe ist um das Thema Safety gebaut. Funktionale Sicherheit und Cybersecurity sind essenziell für die Zukunft softwaredefinierter Fahrzeuge.
Georg Kopetz (TTTech Auto)

Merkmale eines Software-Defined Vehicles

  1. Trennung von Hardware und Software
    • In traditionellen Fahrzeugen sind viele Funktionen fest an die Hardware gekoppelt. Beim SDV laufen Softwareanwendungen unabhängig von spezifischer Hardware, ähnlich wie bei Smartphones oder Computern.
  2. Over-the-Air (OTA)-Updates
    • Neue Funktionen, Leistungsverbesserungen und Sicherheitsupdates können wie bei Smartphones drahtlos aufgespielt werden, ohne dass der Fahrer die Werkstatt aufsuchen muss.
  3. Zentrale Steuerarchitektur
    • SDVs setzen auf leistungsfähige zentrale Steuergeräte anstelle vieler einzelner elektronischer Steuergeräte (ECUs). Diese High-Performance-Computer koordinieren verschiedene Fahrzeugfunktionen effizienter.
  4. Personalisierung und neue Geschäftsmodelle
    • Fahrzeuge können individuell angepasst werden, etwa durch den Kauf oder das Abonnieren neuer Softwarefunktionen (z. B. autonomes Fahren, bessere Fahrmodi oder erweiterte Assistenzsysteme).
  5. Künstliche Intelligenz und Vernetzung
    • SDVs nutzen KI, um das Fahrerlebnis zu optimieren, etwa durch vorausschauende Wartung oder intelligente Fahrassistenzsysteme. Gleichzeitig sind sie mit der Cloud und anderen Fahrzeugen vernetzt, um Daten auszutauschen und von anderen Fahrern zu lernen.
Europa kann und muss im Bereich sicherer, softwaredefinierter Systeme weltweit führend sein. Diese Partnerschaft ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.
Lars Reger (NXP)

Wachstumspotenziale in neuen Märkten

Neben der Stärkung seiner Position im Automobilbereich plant TTTech, einen erheblichen Teil der Verkaufserlöse in neue Märkte zu investieren. CEO Georg Kopetz sieht vor allem in den Bereichen Luft- und Raumfahrt, Off-Highway-Fahrzeuge sowie Energie-IoT große Wachstumschancen: „Mit der Investition aus dem Verkauf unserer Anteile können wir unsere Entwicklungen im Bereich intelligenter Maschinen, autonomer Systeme und sicherer Netzwerktechnologien deutlich beschleunigen.“

Besonders hervorzuheben sind innovative Anwendungen wie Fusion AI – ein System für autonome landwirtschaftliche Maschinen, das bereits bei Hitachi in Japan im Einsatz ist. Darüber hinaus arbeitet TTTech mit Honeywell an Cockpitlösungen für Flugzeuge der nächsten Generation.

Warum sind SDVs so wichtig?

Mit der Übernahme von TTTech Auto durch NXP wird eine der wichtigsten Software-Architekturen für SDVs – MotionWise – weiterentwickelt und skaliert. NXP stellt die Hardware in Form leistungsstarker Halbleiter, während TTTech Auto mit seiner Middleware für funktionale Sicherheit und Echtzeit-Datenverarbeitung die Basis für moderne SDVs legt.

  • Schnellere Innovationszyklen: Autohersteller können neue Funktionen per Software-Update bereitstellen, ohne dass eine neue Hardware-Generation nötig ist.
  • Höhere Sicherheit: Fehlerbehebungen und Sicherheitsupdates können jederzeit aufgespielt werden, um Cyberangriffe zu verhindern.
  • Bessere Nachhaltigkeit: Durch Software-Optimierung kann der Energieverbrauch von Elektroautos effizienter gesteuert werden.
  • Neue Umsatzquellen für Hersteller: Kunden können nachträglich Funktionen freischalten oder abonnieren, was den Automobilsektor in Richtung Software- und Service-Geschäftsmodelle verändert.
Die Kombination von NXP und TTTech Auto stärkt die gesamte europäische Mikroelektronik- und Automobilindustrie. Wir bringen Hardware und Software zusammen und ermöglichen so eine wettbewerbsfähige SDV-Architektur.
Markus Stäbler (NXP Österreich)

Ein entscheidender Schritt für Europas Technologie-Souveränität

Die Fusion von NXP und TTTech Auto ist auch ein strategisches Signal für die europäische Technologiebranche. Während die USA und China verstärkt in eigene Chip- und Softwarelösungen investieren, zeigt diese Übernahme, dass Europa in der Lage ist, eigene Standards für die Mobilität der Zukunft zu setzen.

Lars Reger von NXP betonte, dass diese Allianz dazu beiträgt, die technologische Souveränität Europas zu stärken: „Europa kann und muss im Bereich sicherer, softwaredefinierter Systeme weltweit führend sein. Diese Partnerschaft ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.“ Georg Kopetz ergänzte: „Diese Übernahme ermöglicht es uns, unsere Technologieführerschaft weiter auszubauen und europäische Innovationen auf den globalen Markt zu bringen.“

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Europa gilt als ein stark regulierter Markt, doch anstatt als Innovationsbremse zu wirken, haben hohe Standards in den Bereichen Sicherheit, Datenschutz und Nachhaltigkeit europäische Unternehmen zu internationalen Technologieführern gemacht. Gerade im Bereich der Software-Defined Vehicles (SDV), also softwarezentrierter Fahrzeugarchitekturen, erweisen sich diese strengen Vorschriften als strategischer Vorteil.

In der Diskussion um Software-Defined Vehicles wurde besonders deutlich, dass Europas Fokus auf Sicherheit, Regulierung und technologische Souveränität entscheidende Wettbewerbsvorteile schafft. Georg Kopetz, CEO von TTTech, betonte in diesem Zusammenhang: „Wir haben uns immer darauf konzentriert, sicherheitskritische Technologien aus der Luft- und Raumfahrt auf die Automobilindustrie zu übertragen. Mit NXP als Partner können wir diese Lösungen global skalieren und neue Standards für sichere, softwaredefinierte Fahrzeuge setzen.“

Auch die europäische Politik erkennt die Bedeutung solcher Kooperationen für die Zukunft der Automobilindustrie. Bundesminister Martin Kocher hob hervor, dass der Standort Österreich durch die Übernahme nicht nur gestärkt werde, sondern auch eine zentrale Rolle im Innovationsnetzwerk Europas einnimmt: „Österreich hat bewiesen, dass es nicht nur ein Produktionsstandort ist, sondern eine treibende Kraft in Forschung und Entwicklung. Diese Akquisition zeigt, dass wir globale Technologien mitgestalten.“

Die enge Zusammenarbeit zwischen Forschung, Industrie und Politik hat Europa eine starke Ausgangsposition verschafft. Jens Hinrichsen, Executive Vice President von NXP, sieht darin eine große Chance für die Zukunft: „Fahrzeuge müssen nicht nur vernetzt und intelligent, sondern vor allem sicher sein. Europa hat hier eine klare Vorreiterrolle, weil wir Innovation von Anfang an mit Sicherheit verbinden.“

Europas Führungsrolle in Sicherheit und Datenschutz bei Software-Defined Vehicles

Ein zentraler Faktor ist die funktionale Sicherheit, die nach ISO 26262 weltweit höchste Maßstäbe setzt. Europäische Unternehmen wie TTTech Auto sind führend in der Entwicklung sicherheitskritischer Middleware, die auch in der Luft- und Raumfahrt eingesetzt wird. Auch im Bereich Cybersecurity setzt Europa mit der UNECE WP.29 Verordnung und ISO 21434 Maßstäbe für den Schutz vor Hackerangriffen in vernetzten Fahrzeugen. Ein weiterer essenzieller Aspekt ist der Datenschutz. Die strengen Vorgaben der DSGVO haben europäische Firmen gezwungen, von Beginn an sichere und datenschutzfreundliche Technologien zu entwickeln – ein Vorteil auf globalen Märkten, in denen ähnliche Vorschriften zunehmend an Bedeutung gewinnen.

Diese hohen Sicherheits- und Qualitätsstandards machen europäische Technologien besonders attraktiv für Automobilhersteller weltweit. Während andere Regionen nachträglich Sicherheitslösungen integrieren müssen, bieten europäische Firmen von Anfang an ausgereifte, regelkonforme und zukunftssichere Systeme an. In Kombination mit gezielter Förderung und starken Industriekooperationen sichert sich Europa damit eine führende Position im SDV-Sektor – trotz oder gerade wegen seiner hohen Regulierungsdichte.