KI-Strategien : Macht KI einen Unterschied?

Johannes koch hpe

Johannes Koch, Geschäftsführer Zentraleuropa, Hewlett Packard Enterprise: Wie können wir verhindern, dass sich bei KI die Geschichte wiederholt?

- © Ulrich Aydt

Kurz nachdem um die Jahrtausendwende der Börsentraum zahlreicher Internet-Unternehmen platze, stellte Nicholas G. Carr in der Harvard Business Review eine These auf, die in der IT-Branche heftige Empörung auslöste. „IT doesn’t matter“ lautete die Überschrift seines Artikels, also: IT macht keinen Unterschied.

Carr wandte sich darin frontal gegen das herrschende Axiom, wonach Informationstechnik (IT) der neue Schlüssel zu Wettbewerbsvorteilen sei. Die IT werde sich mit der Zeit zu einem standardisierten, überall und jederzeit verfügbaren Gebrauchsgut entwickeln, ähnlich wie Strom aus der Steckdose. Das werde die Wirtschaft insgesamt produktiver machen, aber es werde sich niemand im Wettbewerb damit absetzen können.

Hatte Carr recht?

Zwanzig Jahre später zeigt sich diesbezüglich ein zweigeteiltes Bild. Nimmt man zum Beispiel den DAX als Spiegel der deutschen Wirtschaft, dann finden sich nur wenige Spuren von digitaler Disruption. Viele der großenteils sehr traditionsreichen DAX-Unternehmen konnten seit der Jahrtausendwende ihre Marktkapitalisierung zwar vervielfachen. Gleichzeitig gelang es einer kleinen Zahl amerikanischer IT- und Internet-Firmen, immense Wettbewerbsvorteile zu erzielen und ihren Wert zu verhundertfachen.

Heute befinden wir uns wieder in einer ähnlichen Situation: Mit generativer künstlicher Intelligenz (KI) ist eine Technologie auf den Plan getreten, der alle zutrauen, „alles zu verändern“ und die Karten im Wettbewerb neu zu mischen. Und nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte gibt es allen Grund, erneut die Frage zu stellen: Macht KI einen Unterschied?

Produktivitätsvorteile ebnen sich mit der Zeit aus

Die etablierte Sprachregelung lautet, man könne mit KI Produktivitätsvorteile erzielen. Aber desto ausgereifter und leichter zugänglich kommerzielle KI-Lösungen werden, desto mehr Erfahrungen die Firmen damit sammeln, und desto mehr „Best Practices“ sich dazu etablieren – desto weniger wird erhöhte Produktivität ein Wettbewerbsvorteil sein.

Gleichzeitig deutet vieles darauf hin, dass wir bei generativer KI auf eine ähnliche Marktkonzentration zusteuern wie beim Cloud Computing. Obwohl das KI-Ökosystem derzeit Hunderte von kommerziellen und quelloffenen Modellen, Werkzeugen und Anwendungen umfasst, gibt es eine natürliche Gravitation in Richtung von KI-Diensten „aus der Steckdose“, wie sie beispielsweise von den amerikanischen Digitalgiganten angeboten werden.

Souveränität schafft keine Wettbewerbsvorteile

Wie können wir verhindern, dass sich bei KI die Geschichte wiederholt? Die Antwort darauf lautet oft: mit digitaler Souveränität – verstanden als eine Kombination aus KI von europäischen Anbietern, quelloffener Software, Datenspeicherung in der EU und Einhaltung der europäischen Datenschutzgrundverordnung.

Es ist offensichtlich, dass damit das Problem nicht gelöst wird. Denn damit verteidigt man „europäische Werte“, generiert aber keine Wertschöpfung. Man gewinnt Kontrolle, schafft aber keine Wettbewerbsvorteile. Diese entstehen nur, wenn man ähnliche Dinge besser als die Konkurrenz macht, oder wenn man die Dinge anders macht und dadurch für Kunden einen einzigartigen Wertbeitrag schafft. 

Bessermachen ist relativ leicht kopierbar, zumal wenn das einschlägige Produktionsmittel für alle Konkurrenten „aus der Steckdose“ kommt. Die Chance liegt also im Andersmachen. Möglichkeiten dafür es überall dort, wo Firmen einen exklusiven Zugang zu Daten haben, die sie für das KI-Training nutzen können, etwa in ihrer Produktion, in ihren internen Wissensdatenbanken oder in ihrem Kundenstamm.

Hoheit über die Wertschöpfungskette

Andersmachen ist aber nicht gleichbedeutend mit Selbermachen. KI ist komplex und erfordert Expertise in so unterschiedlichen Disziplinen wie IT-Infrastruktur, Datenwissenschaft, Datenlogistik, Modelltraining, KI-Inferenz und Qualitätssicherung. Vielen Firmen fehlt diese Expertise, und sie sind deshalb nicht in der Lage, KI-Anwendungen in Eigenregie aufzusetzen und zu betreiben.

Aber dann müssen sie die erforderlichen Leistungen eben von außen zukaufen. Das ist so lange unproblematisch, wie sie dabei die Hoheit über die Strategie und die Gestaltung ihrer Wertschöpfungskette nicht aus der Hand geben – und solange sie Abhängigkeiten von einzelnen Lieferanten in Grenzen halten.

Wechselkosten in Grenzen halten

Unabhängigkeit erreicht man nicht dadurch, dass man europäische statt amerikanischer oder chinesischer Lieferanten wählt – sondern indem man sicherstellt, dass jeder Lieferant ohne überbordende Wechselkosten austauschbar ist. Denn sonst sind Firmen relativ hilflos, wenn ein Lieferant Preise erhöht, seine Strategie ändert oder technologisch in Rückstand gerät. Letzteres ist in der sich schnell entwickelnden KI-Anbieterlandschaft recht wahrscheinlich.

Wenn eine Firma zum Beispiel viel Geld in das sogenannte Feintuning eines großen kommerziellen Sprachmodells investiert, dann ist die dem Modell antrainierte „Intelligenz“ kaum auf andere Modelle übertragbar. Es kann also je nach Anwendungsfall ratsam sein, die kommerziellen Modelle im Standard oder aber quelloffene Modelle zu nutzen. Eine offene, hybride Architektur ist die beste Voraussetzung, um Austauschbarkeit sicherzustellen.

Wenn KI einen Unterschied macht, wiederholt sich die Geschichte nicht

Ja, KI macht einen Unterschied – und zwar in dem Maße, in dem Firmen KI anders einsetzen als ihre Konkurrenten und dadurch einen einzigartigen Wertbeitrag für ihre Kunden schaffen. Die größten Hindernisse für diese Entwicklung sind nicht Mangel an Kapital oder technischer Expertise, sondern ein Mangel an Führung und Phantasie.

Firmen müssen anfangen, Daten und KI ebenso als Produktionsmittel zu behandeln wie Rohstoffe, Maschinen und Fuhrpark. Und sie müssen bei Datenerfassung, Datenlogistik und Modelltraining genauso auf Innovation und kontinuierliche Verbesserung aus sein wie bei Beschaffung, Güterlogistik und Produktion. 

Wenn viele Firmen diesen Wandel vollziehen, können sie auch verhindern, dass sich bei KI die Geschichte wiederholt. Denn dann stehen die Chancen gut, dass keine Monokultur von standardisierten KI-Diensten entsteht, sondern ein vielfältiges Ökosystem.