Logistik : So wird das Physical Internet Realität

Marco Gattringer-Ebner Gattringer geschäftsführer Lenze Austria
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Es war ein Vortrag mit weit reichenden Folgen. Knapp zwei Jahre ist es her, dass der kanadische Logistikforscher Benoit Montreuil in Linz sein visionäres Konzept vom Physical Internet präsentierte. Unter den Zuhörern damals: Marco Gattringer-Ebner, der Geschäftsführer des Antriebstechnik- und Automatisierungs-Spezialisten Lenze Operations Austria. Wie die meisten, die damals dabei waren, konnte auch er sich dem, was der bescheiden und unauffällig auftretende, im Casual Look erschienene Montreuil da vorstellte, kaum entziehen. "Die Idee, dass physischer Warentransport analog zum Datentransport im Internet funktionieren kann, hat mich wirklich fasziniert."

Eine Faszination, die in eines der spannendsten Forschungsprojekte Österreichs mündete. „Atropine“ versammelt unter Federführung des Logistikum in Steyr mehrere Forschungseinrichtungen und 14 Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen, um die Vision von Benoit Montreuil der Realisierung einen großen Schritt näher zu bringen.

Material im Fluss

Physical Internet (PI) ist die Idee eines globalen, offenen Logistik-Systems, das sich die Funktionalität des digitalen Internet zum Vorbild nimmt: Im Web sind der Sender und der Empfänger definiert – der tatsächliche, physische Weg, den die Datenpakete nehmen, ist jedoch von den verfügbaren Ressourcen abhängig und kann daher stark variieren. Und interessiert darüber hinaus niemanden: Wer eine E-Mail verschickt, interessiert sich nicht für den Verlauf, nur für das Ergebnis.

Umgelegt auf die physische Welt, bedeutet das: Material könnte in Zukunft fließen wie Daten – möglich gemacht durch einheitliche Protokolle und Modularisierung, die zu physischer, digitaler und operativer Interkonnektivität führen. Cargo würde in vereinheitlichten (und mit intelligenter Sensorik ausgestatteten) Transportbehältern dank gemeinsamer und weitgehend schnittstellenfreier Protokolle über jeweils jenen Kanal transportiert, den Algorithmen als den günstigsten identifiziert haben.

Das Physical Internet ist also die radikale Abkehr von der Optimierung des Bestehenden. „Die heutigen Logistik-Systeme wurden und werden laufend optimiert, und das immer wieder mit erstaunlichen Erfolgen“, sagt Oliver Schauer, Professor am Logistikum und Leiter des Atropine-Projekts. "Doch viele Probleme, die wir nicht lösen können, sind die Folge insularer Netzwerke. Die Optimierungen erfolgen immer nur innerhalb der Grenzen des jeweiligen Systems." Dementsprechend unbefriedigend bleiben die Ergebnisse letztendlich oft. Die Auslastung eines Lkw liegt heute im Schnitt bei rund 60 Prozent. Und auch im Warehousing sieht es – betrachtet man die durchschnittliche Auslastung der Lagerflächen – oftmals enttäuschend aus. "Logistiksysteme sind also immer noch ein Teil der Verschwendung", sagt Oliver Schauer. Aus dem Mund eines Logistikers ein durchaus bemerkenswerter Satz.

Vier Schwerpunkte

Angesichts der gewaltigen Implikationen des Physical Internet konzentriert sich das Atropine-Projekt auf vier Aspekte:

auf die Frage der standardisierten Kommunikation zwischen allen am PI Beteiligten;

auf die Forschung an standardisierten, intelligenten Ladungsträgern – was prinzipiell von der Palette bis hin zum Sattelauflieger reicht. Ausgestattet mit Sensorik, die Identifikation, Lokalisation und, wenn möglich, auch Informationen über den Zustand ermöglicht. Die gewonnenen Daten müssen überdies Device-to-Cloud-fähig sein;

auf Fragen der Shared Infrastructure sowohl im Transport- als auch im Warehousing-Bereich;

auf die Entwicklung von Businessmodellen und innovativen Kooperationsformen.

Die Businessmodelle, betont Oliver Schauer, sind wesentlicher Bestandteil des Projekts – und sie führen zu einer ganzen Reihe weiterer Fragen: Wem gehört eigentlich die Cloud? Wem gehören die Algorithmen? Wie steht es mit kartellrechtlichen Fragen? Wie löst man die Frage des Loss&Gain-Sharing? Ist die Cloud eigentlich Infrastruktur? Und wie sehen die Betreibermodelle aus? "Wichtig dabei“, sagt Schauer, "ist auch, dass wir hier nicht nur vom Lkw sprechen – es geht um co-modale Modelle bis hin zum Binnenschiff.“

Fokus Businessmodelle

Die Betonung der Businessmodelle und Kooperationsformen macht Atropine wohl auch so interessant für die teilnehmenden Unternehmen. Marco Gattringer-Ebner meint, gerade die Europäer neigten immer wieder dazu, sich in Forschungsprojekten zu sehr auf Grundlagenforschung, Standardisierungen und Normen zu konzentrieren. "Ich meine, wir sollten hier ein wenig nach den USA schielen: Dort geht es immer sehr schnell um Geschäftsmodelle, um Verwertbares. Genau jetzt ist der ideale Zeitpunkt dafür, etwas in Bewegung zu bringen. Etwas entstehen zu lassen, das nicht wieder von den großen amerikanischen Konzernen kommt.“

Auch seitens der Hofer KG, dem führenden Einzelhandelskonzern im Atropine-Projekt, wird mit der Hoffnung auf konkretes argumentiert. "Wir möchten durch das Forschungsprojekt einen anderen Blickwinkel auf unsere aktuelle Logistik und Supply-Chain sowie auf die zukünftigen Herausforderungen in diesem Kontext bekommen“, heißt es seitens des Handelsriesen gegenüber INDUSTRIEMAGAZIN. "Wir streben außerdem im Zuge des Projekts an, neben strategisch wichtigen Erkenntnissen für die ferne Zukunft auch Potenziale und Ideen für unsere aktuelle Lieferkette – Stichwort: Quick-Wins – zu generieren.“

Wie weit geht das Sharing?

Interessanterweise scheinen die technischen Hürden eher geringe Sorgen zu bereiten. Das meiste, meint Marco Gattringer-Ebner, sei bereits lösbar oder werde es in absehbarer Zeit sein. Ein zentrales Problem kündigt sich eher im Bereich des Teilens von Information an: Den insularen Systemen stellt das Physical Internet ja den Grundgedanken des Sharings gegenüber. Alle am System Beteiligten melden ihre Bedarfe und ihre Kapazitäten in das gemeinsame System, in eine Art Hyper-Cloud.

Was bedeutet, dass auch unmittelbare Konkurrenten, die am System teilnehmen wollen, ihre Türen zumindest zum Teil öffnen müssen. Die Antwort der Hofer KG auf die Frage nach dem Sharing fällt erwartungsgemäß strikt aus: "Der Handel ist definitiv eine sehr restriktive Branche. Heikle Daten wie Einkaufspreise, Angaben zu Lieferanten oder Details in Bezug auf die Lieferkette sind wichtige Erfolgsfaktoren und werden als Betriebsgeheimnisse streng gehütet.“ Hofer beteilgt sich mit mehreren Mitarbeitern aus dem zentralen Supply-Chain-Management-Team und Mitarbeitern aus der Logistik-IT am Projekt. Zusätzlich zum Know-how der Mitarbeiter „können wir uns vorstellen, bestimmte Daten unserer Supply-Chain für Simulationszwecke zur Verfügung zu stellen oder Systeme von uns testweise in einem Piloten zu integrieren. Dies hängt allerdings von der weiteren Projektentwicklung ab.“

"Natürlich ist das Sharing ein nicht unerhebliches Problem“, räumt auch Lenze-Chef Gattringer-Ebner ein. Er betont aber, dass das Teilen ja auch begrenzt sei. Spreche man etwa über Warehouse-Sharing, stelle sich die Frage, welche Daten man denn überhaupt teilen müsse. "Selbstverständlich müssen Informationen über den Ladungsträger oder auch die Gefahrenklasse weitergegeben werden. Aber doch nicht zwingend über den Inhalt oder den Eigentümer.“

Europäische Dimension

Dass das zweijährige Atropine-Projekt - vom Land Oberösterreich im Rahmen des strategischen Forschungsprogrammes "Innovatives OÖ 2020" gefördert - nur als Teil einer weit größer gedachten Idee funktioniert, ist offensichtlich. "Ich denke, dass viele Unternehmen von dem gewaltigen Umbruch verunsichert sind, der hier zweifellos auf uns zukommt“, sagt Marco Gattringer-Ebner, „viele sehen ihre Geschäftsmodelle bedroht. Daher ist es ja so wichtig, neue zu entwickeln.“ Vor allem aber geht es nicht nur um Geschäftsmodelle für einzelne Firmen: "Es geht hier um Modelle für das Land und letztlich für den ganzen europäischen Wirtschaftsraum!“ Sollten am Ende von Atropine auch konkrete Kooperationen stehen, wie Oliver Schauer hofft, wird es allerdings auch niemanden stören.

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