Siemens-Umbau : Siemens unter Druck: Die riskante Milliarden-Wette auf das industrielle Metaverse
Die Zukunftspläne von Roland Busch und Siemens sorgen derzeit nicht nur in der Tech-Industrie für Aufsehen.
- © photothek.deUnter der Führung von Roland Busch präsentiert sich Siemens längst nicht mehr als klassischer Industriekonzern: Von der Keynote beim CES über das World Economic Forum bis zur spektakulären Allianz mit NVIDIA Corporation (und dessen charismatischem Gründer Jensen Huang) rückt Siemens zunehmend in die Rolle eines globalen Technologie‑Players.
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Busch selbst spricht von Siemens als „One Tech Company“, einem digitalen Schwergewicht mit industriellem Herzen — eine Transformation, die derzeit in der Tech‑Industrie wie auch bei Finanzanalysten für Aufsehen sorgt.
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Vom Vielkonzern zur Tech-Plattform: Siemens vollzieht radikalen Umbau
Der Siemens‑Konzern der 2000er und 2010er Jahre ist heute kaum wiederzuerkennen: Hausgeräte, Handys, Lichttechnik und Kraftwerksbau sind weitgehend Geschichte. Noch Mitte der 2010er Jahre operierte Siemens mit rund 420.000 Mitarbeitenden und mehr als 20 Geschäftsbereichen — vom Glühbirnen‑Geschäft bis zum Gasturbinenrotor.
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Doch unter dem damaligen Vorstandschef Joe Kaeser sowie Busch als Strategiechef wurde ein radikaler Umbau eingeleitet: Bereiche, die sich nicht ausreichend digitalisieren oder vernetzen ließen, wurden verkauft oder abgespalten. Im Zentrum verblieben nur noch die Geschäftseinheiten Digital Industries, Smart Infrastructure und Mobility. Ende 2021 übernahm Busch die Unternehmensspitze mit der klaren Mission: Siemens neu zu definieren — als digitale Plattform für Industrie, Infrastruktur und Mobilität.
Digitale Doppelgänger: Siemens baut auf Simulation, KI und virtuelle Fabriken
Im Zentrum von Buschs Strategie steht eine technologische Vision: Ein industrielles Metaverse, in dem reale Produktion, Entwicklung und Wartung virtuell gespiegelt, simuliert und optimiert werden — eingebettet in das Herzstück des digitalen Siemens‑Umbauprogramms. So übernimmt Siemens im März 2025 das US‑Simulationssoftwareunternehmen Altair Engineering Inc. für rund 10 Milliarden US‑Dollar. Damit baut Siemens gezielt seine Kompetenzen in den Bereichen Simulation, High‑Performance‑Computing, KI und digitaler Zwillinge aus.
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Parallel intensiviert Siemens seine Zusammenarbeit mit NVIDIA: Gemeinsam wurde gezeigt, wie durch die Integration der Plattform NVIDIA Omniverse mit der Siemens‑Plattform Siemens Xcelerator ein digitaler Zwilling mit realistischer 3‑DVisualisierung, Simulationskapazität und Echtzeit‑Fabrikdaten entsteht.
Siemens Presse
Diese Wette ist hoch: Der industrielle Mehrwert eines Metaverse‑Modells – von der Konstruktion über die Fertigung bis zu Betrieb und Wartung – soll nicht eine Spielerei bleiben, sondern reale Effizienzgewinne bringen.
Zukunftslabor in München: Wie Siemens Industrie-KI und AR in die Praxis bringt
Ein konkretes Vorzeigeprojekt ist das Zukunftslabor Munich Urban Colab in München, in dem Siemens gemeinsam mit Partnern wie SAP SE digitale Technologien für die Industrie von morgen testet. Dort wird etwa ein Roboterhund («Victor») eingesetzt, um zu zeigen, wie Maschinen und Cloudinfrastruktur sowie generative KI Produktionsprozesse verändern können.
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Während Tech‑Brillen für Consumer‑Anwendungen noch nach einem wirklichen Nutzen suchen, hat Siemens für seine gemeinsam mit Sony entwickelte Datenbrille bereits konkrete Einsatzgebiete in der Fernwartung, Ausbildung und digitalen Zusammenarbeit gefunden – ein Beispiel dafür, wie Industrie‑AR ihren Weg in den Alltag findet.
Xcelerator-Offensive: Siemens baut ein digitales Ökosystem für die Industrie auf
Siemens ist längst ein führender Anbieter von Industriesoftware. Mit der Einführung der Plattform Siemens Xcelerator im Juni 2022 wurde der Schritt unternommen, nicht nur Werkzeuge zu liefern, sondern ein ganzes digitales Ökosystem zu orchestrieren.
Xcelerator verbindet Hardware, Software und digitale Services mit einem Marktplatz für Partner und Anwendungen – quasi ein App‑Store für die Industrie. So möchte Siemens künftig nicht nur Programme verkaufen, sondern auch bestimmen, wie Industrie digitalisiert wird.
Schwäche in China, Stellenabbau, Investitionsdruck: Siemens steht vor der Bewährungsprobe
Doch so ambitioniert die Visionen, so schwierig die Gegenwart: Die Sparte Digital Industries – das industrielle Herz von Buschs Strategie – steht aktuell unter Druck. Umsatzwachstum stagniert, Margen werden enger, und Siemens kündigt den Abbau von rund 5 600 Jobs an. Gleichzeitig schwächt sich insbesondere das Geschäft in China ab, und Wettbewerber drängen auf den Markt.
>>> Künstliche Intelligenz: Software-Giganten fordern Umbau europäischer KI-Gesetze
Um die hohen Investitionen in Software‑Übernahmen zu finanzieren, greift Siemens zu ungewöhnlichen Maßnahmen: Die Beteiligung am Medizintechnikunternehmen Siemens Healthineers, bislang ein profitabler Konzernteil, wird reduziert. Ein Tauschgeschäft, das verdeutlicht, wie ernst Siemens den Umbau nimmt – aber auch wie hoch das Risiko ist.
In internen Führungskräftetagungen wurde Busch zum Bild gegriffen: Siemens solle künftig wie Lego gedacht werden – Bausteine, die perfekt ineinandergreifen. Der Vergleich: Künstliche Intelligenz und eigene Softwareentwicklung seien heute so bedeutend wie einst für Werner von Siemens die Erfindung des Telegrafen und Elektrizität.
Siemens am Scheideweg: Wird der Konzern zur europäischen Antwort auf Big Tech?
Roland Busch riskiert mit dem Umbau von Siemens einen gewaltigen Schritt: Er will Siemens nicht neu programmieren, sondern einen klassischen Industriekonzern zur Technologie‑Plattform machen. Sollte es gelingen, könnte Siemens Europas Antwort auf große Software‑Konzerne werden. Misslingt das Vorhaben, bleibt Siemens — wie schon einmal — ein Konzern, der sich neu erfunden hat, um dann erneut anzusetzen.
Eines steht jedoch fest: Der Wandel ist bereits im Gange — und für Branchen und Beobachter steht viel auf dem Spiel.