Europas Rüstungsindustrie : Rüstungszulieferer macht deutliche Ansage: "Wir haben das Potenzial zur Supermacht"

Herbert Decker, Geschäftsführer der Maschinenfabrik Liezen (MFL), am Industriekongress 2025: Wer nicht zu Hause bei sich selber einkauft, verlagert nicht nur das Geld, sondern insbesondere auch die strategische Kontrolle.“
- © Matthias HeschlBeim Industriekongress 2025 schlug Herbert Decker, Geschäftsführer der Maschinenfabrik Liezen (MFL), in einer mit Spannung erwarteten Keynote zum Thema „Rüstungsproduktion – eine Chance für Europas industrielle Basis?“ deutliche Töne an. Seine Diagnose: Europa sei sicherheitspolitisch zum Spielball fremder Mächte geworden – und verpasse zugleich eine industriepolitische Chance historischen Ausmaßes.
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Decker eröffnete mit einem pointierten Bild: „Europa ist nicht die Königin im Spiel. Europa ist nicht einmal ein Spieler. Europa ist das Brett, auf dem geopolitisch Schach gespielt wird.“ Während die USA, China oder Russland machtpolitisch agieren, beschränke sich Europa auf Reaktionen, Gipfeltreffen und wohlmeinende Absichtserklärungen.
Diese passive Rolle habe unmittelbare sicherheitspolitische wie wirtschaftliche Konsequenzen, betonte der MFL-Chef. Europa hänge in zentralen militärischen Schlüsselbereichen wie Satellitenaufklärung, Luftbetankung, strategischem Lufttransport oder Cyberabwehr nahezu vollständig von den Vereinigten Staaten ab. Ohne US-Beteiligung wäre die NATO auf hohem Niveau nicht einsatzfähig.
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Rüstung in Europa: Verteidigungsausgaben fließen ins Ausland
Ein besonders gravierender Aspekt: 78 % aller militärischen Beschaffungen der EU-Mitgliedsstaaten im Jahr 2023 – ein Volumen von rund 50 Milliarden Euro – gingen laut European Defence Agency an Unternehmen außerhalb der EU. Das Gros davon an US-amerikanische Anbieter. Decker spricht hier von einer „verpassten Chance auf europäische Wertschöpfung“ und kritisiert eine „wirtschaftliche Subventionierung nicht-europäischer Industrien“.
Zwar gäbe es mit Konzernen wie KNDS, Leonardo, Rheinmetall oder Saab sehr wohl leistungsfähige Anbieter auf dem Kontinent – doch selbst bei dringlichem Bedarf werde oft auf US-Systeme zurückgegriffen. Der Grund sei weniger technischer Natur als vielmehr ein „vermeintlich höheres Maß an Verlässlichkeit“ aus Sicht der politischen Entscheidungsträger.
Durch diese Rüstungsaufträge verliert Europa Milliarden
„Diese Entscheidungen kosten Europa rund 30 Milliarden Euro an entgangener industrieller Wertschöpfung“, rechnet Decker vor. Und er präzisiert: „Keine lokale Produktion, keine Arbeitsplätze, keine Steuereinnahmen – stattdessen langfristige Abhängigkeit bei Wartung, Ersatzteilen und Upgrades.“
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Die Beispiele, die Decker nennt, sind zahlreich:
- Kampfjets vom Typ F-35,
- Patriot-Raketensysteme,
- Black-Hawk-Hubschrauber oder
- Drohnen von General Atomics
Dabei handelt es sich allesamt um Milliardenaufträge, die an die US-Rüstungsindustrie gingen. Ein ähnliches Bild zeigt sich in Osteuropa: So habe etwa Polen innerhalb von vier Jahren Waffensysteme im Volumen von 13 bis 14 Milliarden Euro in Südkorea bestellt – darunter 180 K2-Panzer und rund 50 Kampfflugzeuge. „Die europäische Wertschöpfung dabei: null“, so Decker.
Europäische Rüstungsindustrie als industrielles Rückgrat
Dabei sei die europäische Industrie in vielen Bereichen sehr wohl in der Lage, einen signifikanten Beitrag zu leisten. Auch in Österreich existierten hochspezialisierte Fertigungs- und Zulieferbetriebe. Die Maschinenfabrik Liezen selbst liefert etwa Schweißbaugruppen und Stahlgussteile für gepanzerte Fahrzeuge, darunter auch Turmgehäuse für den Leopard 2 oder Komponenten für das Pandur-System von General Dynamics.
Doch der Zugang zum Rüstungsmarkt sei hochreguliert und von strengen Sicherheitsanforderungen geprägt – Qualifikationen, Zulassungen und Zertifizierungen seien Hürden, die gerade KMU nicht ohne weiteres überwinden könnten.
Decker plädiert daher für eine europäische Strategie, die die eigene industrielle Basis systematisch einbindet und stärkt: „Wir haben die Fähigkeiten, wir haben die Ressourcen. Was fehlt, ist die Einigkeit, die Strategie und der Mut, europäisch zu denken.“
Europäische Rüstungsprojekte: Warum es an strategischer Einheit fehlt
Ein wiederkehrendes Thema in Deckers Ausführungen ist die strategische Fragmentierung Europas. Die EU verfüge – aggregiert – über eines der höchsten Verteidigungsbudgets weltweit. Zusammengenommen rangiere man sogar noch vor China. Doch weil nationale Alleingänge und Interessenkonflikte überwiegen, bleibe das Potenzial ungenutzt.
So schließt etwa China bilaterale Abkommen mit Einzelstaaten wie Ungarn oder Griechenland, während Russland Europa als „verlängerten Arm der USA“ wahrnehme – nicht aber als eigenständige Ordnungsmacht. Und auch die USA unter Donald Trump hätten mehrfach Zweifel an der Bündnistreue geäußert – mit potenziell weitreichenden Folgen.
Decker ruft dazu auf, die Rüstungsproduktion nicht länger allein unter sicherheitspolitischen, sondern auch unter industriepolitischen Gesichtspunkten zu betrachten. Die Verteidigungsindustrie könne ein nachhaltiger Treiber für Beschäftigung, Forschung und technologische Souveränität in Europa sein – vorausgesetzt, politische Rahmenbedingungen würden entsprechend angepasst.
Mit Blick auf Österreich kritisiert er die zunehmende Tendenz, auch bei steigenden Verteidigungsbudgets vor allem im Ausland einzukaufen – ohne Rücksicht auf die inländische Wertschöpfungskette. „Das ist politisch kurzsichtig und wirtschaftlich fahrlässig“, so Decker.
Rüstungsindustrie in Europa: Schlüsselrolle für Jobs, Technologie und Sicherheit
Deckers Vortrag war ein eindringlicher Appell an europäische Souveränität und industriepolitische Vernunft. Die sicherheitspolitischen Abhängigkeiten der EU seien nicht nur geopolitisch riskant, sondern auch ökonomisch untragbar. Eine Stärkung der heimischen Rüstungsindustrie – eingebettet in eine europäische Gesamtstrategie – könne ein entscheidender Hebel sein, um wirtschaftliche Resilienz und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit zu verbinden.
„Wir haben das Potenzial zur Supermacht – intellektuell, technologisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich. Jetzt ist es Zeit, dieses Potenzial zu nutzen“, so Deckers abschließender Appell an Politik und Industrie.
Aufrüstung, Deindustrialisierung, geopolitische Spannungen: Darum ging es beim Industriekongress 2025
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