Digitalisierung : "Es ist wichtig, auch den Ausschaltknopf zu kennen"
Herr Raberger, ausgerechnet ein Technologieunternehmen gibt eine Studie in Auftrag, die herausfindet, dass sich fast jeder zweite Arbeitnehmer von Technologie überfordert fühlt. Eigentlich wäre es doch in Ihrem Job die Aufgabe, technische Errungenschaften zu bejubeln. Warum tun Sie sich das an?
Michael Raberger Ricoh wurde heuer 80 Jahre alt. Für uns war das ein guter Anlass, einmal zu reflektieren, wo wir herkommen. Wir haben uns jahrzehntelang damit beschäftigt, möglichst schnell und effizient Papier zu bedrucken. Nur ist es so, dass es mit der Weiterentwicklung von Technologie nicht mehr getan ist. Alleine schon deshalb, weil seit drei bis vier Jahren insgesamt weniger gedruckt wird.
Es wird tatsächlich weniger gedruckt?
Raberger Das gesamte Volumen unserer Kunden von etwa 2,5 Milliarden Seiten sinkt leicht um zwei bis drei Prozent pro Jahr. Vor allem jüngere Menschen drucken weniger. Das hängt freilich stark von der Tätigkeit ab. Während jene Leute, die E-Mails ausdrucken, immer weniger werden, werden zu bearbeitende Texte fast unverändert häufig weiterhin auf Papier gebraucht.
Das heißt, letztlich ist auch für die Ricoh die Digitalisierung eine Bedrohung.
Raberger Aber nein, wir sind längst am Weg dazu, die Bearbeitung sämtlicher Dokumente auf ihrem Weg durchs Unternehmen zu unterstützen. Wir sehen das nicht als Bedrohung, aber wir müssen uns mehr damit beschäftigten, wie die Menschen arbeiten.
41 Prozent aller Arbeitnehmer fühlen sich zuweilen überfordert von der sie umgebenden Technik. Ist das nicht eine schwere Niederlage für Ihre Branche?
Raberger Ich würde das nicht als Niederlage bezeichnen, aber Handlungsbedarf haben wir auf jeden Fall. Ein gängiger Kopierer hat heute rund 500 Funktionen. Wissen Sie, wie viele davon der durchschnittliche Anwender benutzt? Zwischen zwei und drei Prozent. Wir müssen unseren Auftrag darin verstehen, nicht noch mehr Funktionen zu erfinden, sondern die Technologie näher zu den Menschen zu bringen.
Nun kennt man dieses Missverhältnis von angebotenen und genutzten Funktionen ja spätestens seit den ersten Videorecordern aus den achtziger Jahren. Warum dauert es so lange, bis die Hersteller etwas lernen?
Raberger Ich glaube, sie haben schon gelernt und die Benutzer haben sich geändert. Die Generation unserer Eltern war noch viel technologiegläubiger und ist den Geräten teilweise mit unglaublichem Respekt begegnet. Das hat sich eingebremst – heute wagen sie es auch, völlig unverständliche Technologie einfach abzulehnen.
Was sind für Sie die drei wichtigsten Erkenntnisse aus Ihrer Studie?
Raberger Wir haben ein ambivalentes Bild: Auf der einen Seite fordert Technologie die Menschen sehr, auf der anderen Seite haben sie eine erstaunlich hohe Technologieaffinität. Fast 85 Prozent arbeiten gerne mit technischen Geräten – totale Ablehnung gibt es praktisch nicht. Allerdings, und das ist die zweite Erkenntnis, wird "in between", also das Arbeiten von unterwegs oder etwa von zu Hause, trotz aller Möglichkeiten nicht unbedingt gewollt. Ich glaube, für die Menschen ist es einerseits wichtig, auch eine berufliche Home-Base abseits der eigenen vier Wände zu haben. Dies u. a. auch, um den persönlichen Ausschaltknopf zu kennen und aktiv zu nutzen. Darüber sollten sich die Arbeitgeber auch Gedanken machen. Technologie ist zwar ein Enabler, aber wenn das Organisationsmodell nicht daran angepasst wird, bringt sie nicht weiter.
Und drittens?
Raberger Und drittens suchen die Menschen viel mehr zwischenmenschliche Nähe. Wir waren zum Beispiel immer unglaublich stolz auf unsere Hotlines und sind mit den Studienergebnissen draufgekommen, dass sie bei Benutzern völlig ungeliebt sind. Fast zwei Drittel erwarten sich mehr nahe, menschliche Hilfe im Umgang mit
technischen Geräten. Das haben wir lange ignoriert, aber wir müssen darauf eingehen.
Was ändert sich nun bei Ihnen in der Kundenbetreuung?
Raberger Wir gehen mit vielen Maßnahmen auf die Erkenntnisse ein. Wir machen verstärkt Customer-Coachings. Wir gehen stärker darauf ein, dass Technologieeinführung auch für die Anwender eine Herausforderung ist. Ein weiterer Punkt ist das Key-User-Konzept: Wir identifizieren besonders routinierte User, die anderen Anwendern zeitlich begrenzt zur Seite stehen. Damit kommen wir dem Wunsch nach menschlicher Hilfe nach.
Das klingt ein bisschen so, also würden Sie die Behebung des Ärgers über einen nicht funktionierenden Drucker nun an die IT-begabteren Mitarbeiter Ihrer Kunden delegieren.
Raberger Nein, keinesfalls. Aber die Studie hat auch gezeigt, dass sich der Großteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei Problemen zuerst einmal an die Kollegen wenden möchte. Daneben arbeiten wir mit dem Service-in-Advance-Konzept daran, dass es erst gar nicht zu diesem Ärger kommt. Wir haben bisher immer über "Reaktionszeiten" gesprochen – das gehört damit der Vergangenheit an, weil wir im Service schon tätig werden, bevor überhaupt ein Problem auftritt.
Sie haben vorhin gemeint, die Arbeitgeber müssten auch ihr Organisationsmodell weiterentwickeln. Wie sieht für Ihre 300 Mitarbeiter in Österreich die Organisation der Zukunft aus?
Raberger Wir arbeiten derzeit an einem neuen Organisationskonzept, das eine Kombination aus Nahtstellenorganisation und Holocracy ist. Es geht hier sehr viel um Eigenverantwortung der Mitarbeiter, die aktiv an der Entwicklung unserer künftigen Strukturen beteiligt sind. Die Prämissen sind Kundenfokus, Vereinfachung, das Gleichziehen von Beeinflussungs- und Verantwortungsstrecke und ein von Interventionen durch Führungskräfte freier operativer Arbeitsalltag. Konkret: Bin ich für etwas verantwortlich, muss ich es auch beeinflussen und im jeweiligen Kontext selbstständig entscheiden können.
Woran messen Sie, dass Sie damit erfolgreich sind?
Raberger Wenn am Ende auch unser Kunde spürt, dass bei uns etwas anders geworden ist und dadurch begeistert ist.