Industriekongress 2025 : Geopolitischer Neustart: Drei strategische Chancen für Österreichs Industrie

Tchakarova warnt am Industriekongress 2025 vor einem mentalen Zustand, der sich vielerorts beobachten lässt: Passivität als Folge von Überforderung.
- © Matthias HeschlDie Welt befindet sich in einem geopolitischen Strukturwandel, dessen Dynamik auch für die österreichische Industrie tiefgreifende Konsequenzen hat. Velina Tchakarova, Politikwissenschaftlerin und geopolitische Strategin, stellte beim diesjährigen Industriekongress zentrale Überlegungen zur Frage vor, wie Unternehmen nicht nur auf geopolitische Risiken reagieren, sondern diese aktiv in wirtschaftliche Chancen ummünzen können. Ihr Vortrag mit dem Titel „Drei Chancen für Österreichs Industrie im Zeitalter globaler Umbrüche“ umriss ein strategisches Rahmenwerk, das Orientierung in einer zunehmend komplexen Weltordnung bietet.
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Tchakarova warnt gleich zu Beginn vor einem mentalen Zustand, der sich vielerorts beobachten lässt: Passivität als Folge von Überforderung. Die Vielzahl globaler Krisenherde, Spannungen und wirtschaftspolitischer Konflikte könne dazu führen, dass notwendige strategische Entscheidungen aufgeschoben oder gar nicht erst getroffen werden. Dabei sei genau diese Untätigkeit die eigentliche Bedrohung. „Die größte Gefahr ist nicht die geopolitische Lage selbst, sondern die Lähmung, die daraus resultiert“, so Tchakarova.
Im Zentrum ihres Vortrags standen drei geopolitische Entwicklungen, die sie in strategische Chancen für Österreichs Industrie übersetzte.
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Erstens: Der neue Eiserne Vorhang und die Chance zur Mitgestaltung europäischer Infrastrukturprojekte
Die erste These betraf die sich abzeichnende geopolitische Spaltung Europas. Tchakarova spricht von einem „zweiten Eisernen Vorhang“, der sich in den nächsten fünf bis zehn Jahren entlang der Ostflanke der NATO herausbilden könnte – von der Arktis über das Baltikum und Osteuropa bis in den südosteuropäischen Raum und die Türkei. Diese Zone müsse nicht nur verteidigungspolitisch gesichert, sondern auch wirtschaftlich und infrastrukturell gestärkt werden.
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Hier eröffnet sich laut Tchakarova ein bedeutender Handlungsraum für österreichische Unternehmen. In diesem Kontext verwies sie auf die sogenannte „Dreimeeres-Initiative“ – ein Zusammenschluss von 13 EU-Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa, der sich unter anderem der wirtschaftlichen und infrastrukturellen Vernetzung widmet. Obwohl Österreich Mitglied dieser Initiative ist, sei deren Potenzial vielen Unternehmen kaum bewusst. Der Investitionsbedarf in der Region sei enorm: rund 600 Milliarden Euro werden für den Aufbau physischer, digitaler und energiebezogener Infrastruktur benötigt.
Ein zusätzlicher Impuls kommt von der NATO. Beim jüngsten Gipfeltreffen wurde beschlossen, 5 % des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungsausgaben bereitzustellen – davon sollen 1,5 % gezielt in sogenannte Resilienzprojekte fließen, etwa in Infrastruktur und Digitalisierung. Tchakarova betont: „Hier gibt es für österreichische Industrieunternehmen die Gelegenheit, aktiv in einer Region Fuß zu fassen, die künftig massiv gefördert und entwickelt wird.“
Die größte Gefahr ist nicht die geopolitische Lage selbst, sondern die Lähmung, die daraus resultiert.Velina Tchakarova am Industriekongress 2025
Zweitens: Strategische Transport- und Handelskorridore im Umbruch
Ein weiteres zentrales Thema war der globale Wettbewerb um Transport- und Handelsrouten. Tchakarova wies auf zwei europäische Großprojekte hin, die als Antwort auf die chinesische Belt-and-Road-Initiative zu verstehen sind: das Global Gateway-Programm mit einem geplanten Investitionsvolumen von 600 Milliarden Euro sowie der neue IMEC-Korridor (India-Middle East-Europe Economic Corridor), der 2023 vorgestellt wurde.
Der IMEC-Korridor soll Indien über den Nahen Osten (inklusive Israel) mit europäischen Häfen in Griechenland, Kroatien, Italien und Frankreich verbinden – mit potenziellen Anschlussknoten im Schwarzmeerraum. In Zeiten zunehmender Unsicherheit in der Seeschifffahrt – Stichwort Suezkanal und die anhaltende Krise im Roten Meer – ist eine Diversifizierung der Handelswege nicht nur wirtschaftlich, sondern auch geopolitisch notwendig.
Für die österreichische Industrie bedeutet dies: Jetzt ist der Zeitpunkt, aktiv in neue Märkte und Partnerschaften zu investieren, insbesondere entlang dieser neuen Korridore. Das umfasst nicht nur den Aufbau logistischer Infrastruktur, sondern auch die Etablierung von Tochtergesellschaften und Joint Ventures in strategisch relevanten Ländern. „Nicht abwarten, bis sich Krisen legen – sondern proaktiv handeln“, lautet Tchakarovas Empfehlung.
Drittens: Handelsabkommen als Schlüsselfaktor in einer neuen Weltordnung
Der dritte Impuls richtete den Blick auf die makroökonomische Systemkonkurrenz zwischen den USA, China und einer zunehmend selbstbewussten EU. Tchakarova sieht Europa hier in einer vermittelnden Rolle zwischen den geopolitischen Machtzentren – allerdings mit abnehmender Attraktivität als Wirtschaftsstandort im globalen Vergleich.
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Ein Grund dafür sei die mangelnde Dynamik bei Handelsabkommen. Tchakarova fordert, dass die Europäische Kommission Freihandelsverträge nicht erst in zehn oder fünfzehn Jahren, sondern in einem Zeitraum von zwei bis fünf Jahren abschließen müsse. Nur so könnten europäische und insbesondere österreichische Unternehmen weiterhin von ihrer Exportorientierung profitieren.
Sie betonte zudem das Potenzial von Abkommen mit Ländern in Süd- und Südostasien – etwa Indien, Malaysia, Indonesien oder Vietnam. Der entscheidende Punkt dabei: Die Initiative müsse von unten kommen, von den Unternehmen selbst, durch Druck auf nationale und europäische Entscheidungsträger. Nur durch aktives Engagement könne verhindert werden, dass Europa wirtschaftlich ins Hintertreffen gerät.
„Wer jetzt handelt, handelt nicht trotz all dieser Unsicherheiten, sondern wegen der Unsicherheit.“
Velina Tchakarovas zentrale Botschaft: Die geopolitische Zeitenwende ist real, sie ist ein objektiver, systemischer Prozess – und sie ist nicht umkehrbar. Doch genau darin liege auch die Chance. Unternehmen, die sich der geopolitischen Komplexität stellen, können daraus strategische Vorteile ziehen. „Wer jetzt handelt, handelt nicht trotz all dieser Unsicherheiten, sondern wegen der Unsicherheit“, betonte sie zum Abschluss ihres Vortrags.
Für Österreichs Industrie bedeutet das: Sich nicht auf bestehendem Erfolg auszuruhen, sondern neue Chancen aktiv zu ergreifen – sei es durch Beteiligung an Infrastrukturprojekten in Osteuropa, Investitionen in neue Handelskorridore oder die Mitgestaltung globaler Wirtschaftsabkommen. Denn wer heute gestaltet, sichert sich die Märkte von morgen.
Zur Person: Velina Tchakarova
Position:
Geopolitische Strategin, Politikberaterin und Gründerin von FACE – For A Conscious Experience, einer Plattform für geopolitische Analyse und Strategieentwicklung.
Expertise:
Tchakarova gilt als eine der profiliertesten Stimmen im deutschsprachigen Raum, wenn es um die Einordnung globaler Machtverschiebungen, geopolitischer Risiken und geoökonomischer Entwicklungen geht. Ihr Fokus liegt auf der strategischen Relevanz geopolitischer Trends für Unternehmen und Industrie.
Karriere:
Sie war langjährige Direktorin des Austrian Institute for European and Security Policy (AIES). Aktuell ist sie international als Rednerin, Analystin und Panelistin gefragt – u. a. bei NATO-Gipfeln, internationalen Wirtschaftsforen und Medienformaten.
Themenschwerpunkte:
- Systemrivalität USA–China–EU
- Geopolitik der Infrastruktur
- Energie- und Sicherheitspolitik
- Strategische Industriepolitik im globalen Wettbewerb
Medienpräsenz:
Regelmäßige Beiträge in internationalen Fachzeitschriften, Interviews in Wirtschaftsmedien sowie Analysen auf Plattformen wie Twitter/X, LinkedIn und Think-Tank-Portalen.