Wie aktiv engagiert sich Boehlerit im Bereich Nachhaltigkeit, neben der Digitalisierung das zweite Meta-Thema?
Melcher: Richtig, man muss allerdings aufpassen, dass es nicht inflationär wird und irgendwann mit Greenwashing vermischt wird. Wir gehen deshalb mit dem Thema sehr vorsichtig um. Nachhaltigkeit beginnt zuerst einmal im eigenen Betrieb. In der ganzen Gruppe wird sehr konsequent darauf geachtet, von der Wasseraufbereitung bis zur Entsorgung von Hartmetallschrott, der bei uns wieder recycelt eingespeist wird. Nachhaltigkeit bedeutet für uns aber auch sich zu entsprechenden Marktsegmenten hinzuwenden. Wir sind noch stark vom Verbrennungsmotor abhängig. Würde er zu 100 Prozent durch den Elektromotor ersetzt wird, dann ginge der Bedarf nach unseren Zerspanungsprodukten um 80 Prozent zurück. Da hätten wir dann ein Problem. Nachhaltig ist die schon angesprochene Agrartechnik, nachhaltig ist auch die Windkraft, wo wir zum Beispiel sehr eng mit dem Sondermaschinenbauer Miba Automation zusammen arbeiten und für ihn die Werkzeuge bauen. Die Offshore-Windtürme sind ja bis zu 220 Meter hoch, im Grunde aber nichts anderes wie Rohre, die eine Aufbereitung mit unseren Hartmetallwerkzeugen für eine Längs- und eine Rundnaht brauchen.
Das heißt im Umkehrschluss, den typischen Boehlerit-Kunden gibt es nicht mehr.
Melcher: Den gibt es schon noch, klassisch als Stahl verarbeitender Betrieb. Stahl ist gefragter denn je. Wir sind unter anderem Weltmarktführer bei der Bearbeitung von Schweißkanten für Gas- und Ölpipelines. Wir sind Weltmarktführer in der Großkurbelwelle für Schiffe und Züge. Im Pkw-Bereich sind wir eher die Nummer 6 oder Nummer 7 …
Welchen Anteil hat demnach dieser klassische Metallbereich?
Melcher: Er ist sicher bei 80 Prozent und er wird auch der Dominierende bleiben. Wir bearbeiten jedoch auch Kunststoff, Nichteisenmetalle und unser Schwesterunternehmen Leitz bearbeitet Holz. Sie sehen, wir sind in den Werkstoffkomponenten überall drinnen, bis zur Raumfahrt.
Bleiben wir auf der Erde. Die wird gerade arg gebeutelt. Pandemie, Lieferkettenprobleme, jetzt hinzu Energieversorgung. Wie wirkt sich all das auf Boehlerit aus?
Melcher: Die Pandemie hatte auch uns hart getroffen. Das Geschäft war 2020 um bis zu 60 Prozent eingebrochen, doch schon nach wenigen Monaten ging die Rallye nach oben los. 2021 erzielten wir einen neuen Rekord im Auftragseingang und Umsatz. Das erste Quartal 2022 ist hinter uns und da liegen wir wieder im zweistelligen Wachstumsbereich gegenüber dem Rekordjahr. Jetzt könnte man sagen, die Welt ist wieder in Ordnung, aber das ist sie eben nicht. Wir steuern zwar einem neuen Rekord zu, aber ich habe die Befürchtung, dass wir noch Mitte des Jahres nach Himmelhochjauchzend einen Einbruch am Markt geben wird – weil die Rohstoffpreise überhitzt sind. Stahl zieht wieder ganz stark an, auch weil die Rüstungsindustrie anzieht – das ist leider so. Wir haben weltweit über 10.000 Kunden, die haben zwar volle Auftragsbücher, aber keinen Stahl zum Bearbeiten, weil die Lieferkette beim Stahl total aus den Fugen geraten ist. Auch das hat mehrere Gründe. Einmal, weil das einfache Erz aus der Ukraine bezogen wird, der teure Transport die Alternative aus Brasilien nicht wirtschaftlich ist; und dann haben wir das Problem, dass die Stahlwerke teilweise zwei, drei Wochen abschalten, weil die Energiekosten so hoch sind. Ich bin überzeugt, dass wir wieder eine gute Wirtschaftslage haben werden, sobald sich das alles wieder stabilisiert. Was ich nicht sagen kann, weil ich kein Prophet bin: Wann kommt das Loch und wie groß wird es sein.
Ich höre jedoch heraus, Boehlerit geht es grosso modo gut …
Melcher: … eine Einschränkung! Natürlich kämpfen auch wir mit enormen Kostensteigerungen. Wolfram, und Kobalthaben sich im letzten Jahr fast verdoppelt, für Strom zahlen wir im Moment dreimal so viel wie im letzten Jahr … Oder Krypton: eine Gasflasche ist von 2400 auf fast 44.000 Euro hinaufgegangen. Verrückt! Wir sind mitten drin, Preisanpassungen an den Markt weiterzugeben. Sie bewegen sich in einer Größenordnung von 4,5 bis 6 Prozent und bei rohstoffintensiven Produkten kann es auch über 10 Prozent gehen. Das heißt die Ertragslage ist zwar im schwarzen Bereich, ich würde sie aber nicht als sehr gut bezeichnen. Wir sind weit weg vom Rekord!
Eine Voraussetzung für Erfolg sind qualifizierte Mitarbeiter. Gelingt es Boehlerit, sie in ausreichender Zahl zu bekommen?
Melcher: Mitarbeiter … entschuldigen Sie den Begriff: sind der schwierigste „Rohstoff“. Wir haben schon heute ein Problem in Mitteleuropa, aber das wird noch größer werden, weil die Babyboomer jetzt in Pension gehen. Ausreichend Facharbeiter zu kriegen ist fast ein Ding der Unmöglichkeit. Deshalb bilden wir viele selber aus, haben aber auch die Strategie geändert: Wir erhöhen den Frauenanteil. Vor rund zehn Jahren waren von zehn Lehrlingen neun männlich, heute sind mehr als die Hälfte weiblich.