Präzisionswerkzeuge : Boehlerit-Manager Melcher: "Nachhaltigkeit beginnt im eigenen Betrieb"

Mitarbeiterin bei Boehlerit: "Weil Boehlerit heuer 90 wird, findet ein großes Kundenevent am 12. Mai statt."
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Mitarbeiterin bei Boehlerit: "Weil Boehlerit heuer 90 wird, findet ein großes Kundenevent am 12. Mai statt."
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INDUSTRIEMAGAZIN: Diesen Monat findet nach Pandemiepause die Intertool wieder und erstmals in Wels statt. Boehlerit hat mit 220 m2 einen der größten Stände. Was erwartet dort die Besucher?
Gerhard Melcher: Lassen Sie mich vorausschicken: Wir bestücken im Jahr weltweit an die 25 Messen. Am Heimmarkt ist die Intertool so etwas wie die Leitmesse. Wir binden dazu auch unsere Vertretungen aus ganz Europa ein, in diesem Jahr sogar aus Indien. Und weil Boehlerit heuer 90 wird, findet auch ein großes Kundenevent am 12. Mai unter dem Motto „90 Jahre Boehlerit – best of results“ statt. Es wird also ein sehr internationaler Auftritt. In den Pandemiejahren wurden sehr viel neue Produkte für die Zerspanungstechnik auf den Markt gebracht, die wir vorstellen wollen, auch für unser zweites Segment, die spanlose Formgebung und Verschleißschutz.
Werden wir so etwas wie die absolute Weltneuheit sehen?
Melcher: Die gibt es in der Zerspanung derzeit nicht, das muss ich ganz ehrlich sagen. Es sind immer viele kleine Schritte, die die Technik weiterbringen. Doch wo sich sehr viel tut ist der Bereich Digitalisierung. Dinge, die nicht aufs Erste sichtbar sind. Dass wir zum Beispiel in Fräswerkzeuge RFID-Chips einbauen, damit der Kunde die Möglichkeit hat, sie mit seiner Maschinensensorik zu verbinden und alle Werkzeugdaten zu erfassen. Wir arbeiten daran, damit der Kunde mit seinem Werkzeug noch schneller, noch länger, noch produktiver fahren kann – im Servicebereich geht momentan die Post ab!
Geht das quer über alle Branchen?
Melcher: Ja. Die Anwendungen und Produkte gehen rein in Richtung Automobilzulieferindustrie, Stahlindustrie, Maschinenbau, Energietechnik, Medizintechnik, machen aber auch für die Lebensmittelindustrie sehr viele Hartmetallteile, bzw. auch für Hygieneindustrie. Ein gutes Beispiel ist Procter & Gamble, die mit unseren Hygienewalzen die Pampers herstellen.
Boehlerit ist weiter sehr vielfältig aufgestellt.
Melcher: Das geht hin bis zu den neuen Produkten. Wir sind vor ca. drei Jahren mit unseren Hartmetallen in die Agrarindustrie eingestiegen, wo wir Grubberscharen machen …
Pardon?
Melcher: … der Bauer würde sagen: Pflüge. Es sind Pflüge aus speziellem Metall, die zu umweltfreundlicherer Bearbeitung von Äckern eingesetzt werden, weil weniger Pestizide verwendet werden müssen. Damit treten wir jedoch nicht selbst am Markt auf, sondern stellen die Erstausrüstungen, z.B. für John Deere, her. Das sind nach kurzer Zeit profitable OEM-Geschäfte.
Was tut sich zum Stichwort Digitalisierung bei Boehlerit selbst?
Melcher: Wir haben ein Investitionsprogramm über rund 15 Millionen Euro am Standort Kapfenberg hinter uns und rollen gerade für die nächsten zwei, zweieinhalb Jahre weitere 20 Millionen Euro aus. Die Förderinitiative der Bundesregierung hat einen großen Schub auch bei uns ausgelöst. Nur zwei greifbare Dinge, die in Richtung Industrie 4.0 gehen und wir schon leben: Sämtliche Messmaschinen an unseren drei Produktionsstandorten in Deutschland, der Türkei und hier in Kapfenberg haben wir vernetzt und für gewisse Anlagen können unsere Mitarbeiter über ihre Handys den Life-Status verfolgen. Das heißt auch jederzeit von außerhalb.
Mit dem Einstieg unserer Hartmetalle in der Agrarindustrie schufen wir in kurzer Zeit profitables OEM-Geschäft."
Gerhard Melcher, Leiter Vertrieb Zerspanung und Marketing, Boehlerit
Prozessexzellenz: Längs- und Rundnahtfräsen für Windkraftanwendungen bei Miba Automations
- © BoehleritWie aktiv engagiert sich Boehlerit im Bereich Nachhaltigkeit, neben der Digitalisierung das zweite Meta-Thema?
Melcher: Richtig, man muss allerdings aufpassen, dass es nicht inflationär wird und irgendwann mit Greenwashing vermischt wird. Wir gehen deshalb mit dem Thema sehr vorsichtig um. Nachhaltigkeit beginnt zuerst einmal im eigenen Betrieb. In der ganzen Gruppe wird sehr konsequent darauf geachtet, von der Wasseraufbereitung bis zur Entsorgung von Hartmetallschrott, der bei uns wieder recycelt eingespeist wird. Nachhaltigkeit bedeutet für uns aber auch sich zu entsprechenden Marktsegmenten hinzuwenden. Wir sind noch stark vom Verbrennungsmotor abhängig. Würde er zu 100 Prozent durch den Elektromotor ersetzt wird, dann ginge der Bedarf nach unseren Zerspanungsprodukten um 80 Prozent zurück. Da hätten wir dann ein Problem. Nachhaltig ist die schon angesprochene Agrartechnik, nachhaltig ist auch die Windkraft, wo wir zum Beispiel sehr eng mit dem Sondermaschinenbauer Miba Automation zusammen arbeiten und für ihn die Werkzeuge bauen. Die Offshore-Windtürme sind ja bis zu 220 Meter hoch, im Grunde aber nichts anderes wie Rohre, die eine Aufbereitung mit unseren Hartmetallwerkzeugen für eine Längs- und eine Rundnaht brauchen.
Das heißt im Umkehrschluss, den typischen Boehlerit-Kunden gibt es nicht mehr.
Melcher: Den gibt es schon noch, klassisch als Stahl verarbeitender Betrieb. Stahl ist gefragter denn je. Wir sind unter anderem Weltmarktführer bei der Bearbeitung von Schweißkanten für Gas- und Ölpipelines. Wir sind Weltmarktführer in der Großkurbelwelle für Schiffe und Züge. Im Pkw-Bereich sind wir eher die Nummer 6 oder Nummer 7 …
Welchen Anteil hat demnach dieser klassische Metallbereich?
Melcher: Er ist sicher bei 80 Prozent und er wird auch der Dominierende bleiben. Wir bearbeiten jedoch auch Kunststoff, Nichteisenmetalle und unser Schwesterunternehmen Leitz bearbeitet Holz. Sie sehen, wir sind in den Werkstoffkomponenten überall drinnen, bis zur Raumfahrt.
Bleiben wir auf der Erde. Die wird gerade arg gebeutelt. Pandemie, Lieferkettenprobleme, jetzt hinzu Energieversorgung. Wie wirkt sich all das auf Boehlerit aus?
Melcher: Die Pandemie hatte auch uns hart getroffen. Das Geschäft war 2020 um bis zu 60 Prozent eingebrochen, doch schon nach wenigen Monaten ging die Rallye nach oben los. 2021 erzielten wir einen neuen Rekord im Auftragseingang und Umsatz. Das erste Quartal 2022 ist hinter uns und da liegen wir wieder im zweistelligen Wachstumsbereich gegenüber dem Rekordjahr. Jetzt könnte man sagen, die Welt ist wieder in Ordnung, aber das ist sie eben nicht. Wir steuern zwar einem neuen Rekord zu, aber ich habe die Befürchtung, dass wir noch Mitte des Jahres nach Himmelhochjauchzend einen Einbruch am Markt geben wird – weil die Rohstoffpreise überhitzt sind. Stahl zieht wieder ganz stark an, auch weil die Rüstungsindustrie anzieht – das ist leider so. Wir haben weltweit über 10.000 Kunden, die haben zwar volle Auftragsbücher, aber keinen Stahl zum Bearbeiten, weil die Lieferkette beim Stahl total aus den Fugen geraten ist. Auch das hat mehrere Gründe. Einmal, weil das einfache Erz aus der Ukraine bezogen wird, der teure Transport die Alternative aus Brasilien nicht wirtschaftlich ist; und dann haben wir das Problem, dass die Stahlwerke teilweise zwei, drei Wochen abschalten, weil die Energiekosten so hoch sind. Ich bin überzeugt, dass wir wieder eine gute Wirtschaftslage haben werden, sobald sich das alles wieder stabilisiert. Was ich nicht sagen kann, weil ich kein Prophet bin: Wann kommt das Loch und wie groß wird es sein.
Ich höre jedoch heraus, Boehlerit geht es grosso modo gut …
Melcher: … eine Einschränkung! Natürlich kämpfen auch wir mit enormen Kostensteigerungen. Wolfram, und Kobalthaben sich im letzten Jahr fast verdoppelt, für Strom zahlen wir im Moment dreimal so viel wie im letzten Jahr … Oder Krypton: eine Gasflasche ist von 2400 auf fast 44.000 Euro hinaufgegangen. Verrückt! Wir sind mitten drin, Preisanpassungen an den Markt weiterzugeben. Sie bewegen sich in einer Größenordnung von 4,5 bis 6 Prozent und bei rohstoffintensiven Produkten kann es auch über 10 Prozent gehen. Das heißt die Ertragslage ist zwar im schwarzen Bereich, ich würde sie aber nicht als sehr gut bezeichnen. Wir sind weit weg vom Rekord!
Eine Voraussetzung für Erfolg sind qualifizierte Mitarbeiter. Gelingt es Boehlerit, sie in ausreichender Zahl zu bekommen?
Melcher: Mitarbeiter … entschuldigen Sie den Begriff: sind der schwierigste „Rohstoff“. Wir haben schon heute ein Problem in Mitteleuropa, aber das wird noch größer werden, weil die Babyboomer jetzt in Pension gehen. Ausreichend Facharbeiter zu kriegen ist fast ein Ding der Unmöglichkeit. Deshalb bilden wir viele selber aus, haben aber auch die Strategie geändert: Wir erhöhen den Frauenanteil. Vor rund zehn Jahren waren von zehn Lehrlingen neun männlich, heute sind mehr als die Hälfte weiblich.

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Das scheint zu funktionieren …
Melcher: Lassen wir es beim Schein, denn wir wollen acht Lehrlinge pro Jahr aufnehmen, schaffen das aber nicht, weil wir nur vier oder sechs bekommen.
Gehen wir abschließend von Kapfenberg nochmals zurück zur Intertool in Wels. Boehlerit bewirbt die Messe in seiner Mail-Signatur mit „Steirereck“. Was hat es damit auf sich?
Melcher: Das ist der Name einer Plattform, die wir gemeinsam mit anderen steirischen Ausstellern vorbereitet haben und eine Anspielung auf das beste Restaurant Österreichs. Wir verbinden auf der Messe auf 820 m2 die Kulinarik mit der Innovationskraft. Denn die Steiermark ist eine der innovativsten Regionen Europas – 2018 haben wir sogar Baden-Württemberg bei der Innovationsrate überholt.
ZUM UNTERNEHMEN
Boehlerit GmbH & Co.KG
Boehlerit feiert dieses Jahr sein 90-jähriges Bestehen. Das Unternehmen hat seine Wurzeln in Düsseldorf und ist seit 1950 in Kapfenberg, dem heutigen Hauptsitz und stellt Hartmetallwerkzeuge aus Wolframcarbid-Kobalt-Verbundmaterial her. 1991 wurde Boehlerit von der ehemaligen „Mutter“ Böhler AG vom Familienunternehmen Leitz in Oberkochen/D übernommen. Produziert wird in der Steiermark, in Deutschland und in der Türkei. Der Umsatz betrug 2021 € 110 Mio. Aufgrund der Kurzarbeitsregelung musste der Hartmetallspezialist während der Pandemie keinen Mitarbeiter freistellen – man dürfe nicht immer nur jammern, heißt es: Waren am Standort Kapfenberg zu Beginn der Pandemie noch 470 Mitarbeiter beschäftigt, sind es aktuell sogar 530.