Digitalisierung : Trumpf, Palfinger, Greiner: Wie die Industrie Digital Thinking lernt

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Gert Reichetseder ist in seinem Element. Er spricht über das Produkt: Bagger. Wie sich im Baumaschinenbereich Marken erfolgreich mit Emotionen aufladen lassen. Und darüber, warum in seiner Branche kein Stein auf dem anderen bleiben wird. Reichetseder, Geschäftsführer von Wacker Neuson Linz, sitzt in einem Münchner Hotelzimmer und blickt der Eröffnung der Bauma entgegen, der wichtigsten Messe für den Baumaschinensektor. Technologisch gewappnet für die nächsten Jahre sind die Oberösterreicher, die als Aussteller natürlich gesetzt sind, allemal: Betriebszeiten, Bewegung und Maschinenzustand – all diese Informationen können Kunden mittels eines optional im Leistungsumfang der Bagger enthaltenen GPS-Ortungssystems bereits heute abrufen, schildert der Geschäftsführer. Dass die technologische Vernetzung der Produkte eine weitaus größere Zäsur für bestehende Geschäftsmodelle darstellen wird als bisher angenommen, ist Reichetseder überzeugt. Durchaus vorstellbar ist für ihn eine Zukunft, in der Kunden nicht mehr die Baumaschine erwerben, sondern nur noch deren (Aushub-) Leistung situativ abrufen – ähnlich wie beim Beziehen von Serverkapazität aus der Cloud. Schon heute stellen die Oberösterreicher dafür die Weichen: Den Testballon eines noch zu entwickelnden Softwareportals will Reichetseder lieber früher als später in den USA steigen lassen. Hilfe holt er sich aus der heimischen Start-up-Szene. Warum er aufs Tempo drückt, argumentiert er so: "Wenn wir es jetzt nicht machen, dann macht es ein anderer. Und das wird deutlich unlustiger".

Klassische Geschäftsmodelle wanken

Sie lachen sich Partner aus der Start-up-Szene an, scharen App-Entwickler um sich, basteln an Big- Data-Algorithmen und denken ihre Geschäftsmodelle radikal neu: In der produzierenden Industrie setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, sich jetzt besser selber mit disruptiven Technologien unter Beschuss zu nehmen, als anderen – vor allem Mitbewerbern, die man heute noch nicht kennt – das Feld dabei zu überlassen. Denn plötzlich sind die klassischen Mittel der Performancesteigerung in der Produktgestaltung nicht mehr ein Garant für die alteingesessenen Industrien, schöne Umsätze zu generieren: Die digitale Revolution hat neue Konkurrenz auf den Plan gerufen. Mit geringstem Personalaufwand betriebene Online-Börsen für Produktions- und Personalkapazitäten lassen das Geschäftsmodell klassischer Maschinenbauer wanken. App-Entwickler knabbern am Dienstleistungsgeschäft von Herstellern. Jahrzehntelang gepflegte Strategien zur Kundenbindung sind schlagartig obsolet. Und besonders irritierend: Die klassischen Mittel der Konkurrenzbeobachtung greifen nicht mehr. Disruptionen folgen stets dem gleichen Muster –"sie treten dort auf, wo man sie am wenigsten erwartet", sagt ein Innovationsmanager.

Mit Start-up-Methoden zum Erfolg

Wer jetzt noch nicht Datenprofis und App-Bastler um sich schart, ist spät dran. Das beobachtet Hannes Möseneder, ein Mann mit stolzer Industrieerfahrung: 30 Jahre ist er schon bei Greiner. "Es gibt da draußen mehr und mehr Start-ups, die das Potenzial haben, beides zu sein: Gefahr, aber auch Chance", beobachtet der Geschäftsführer der Greiner Technologie & Innovation. Natürlich trimme man Produkte auch weiterhin auf mehr Effizienz und sondiere Wachstumsmärkte. Doch auch unangenehmere Fragen müsse sich ein Konzern jetzt stellen: Welche Rolle spielt ein Kunststoffverarbeiter in einer Welt, in der es vielleicht einmal für den Verzehr geeignetete Joghurtbecher oder Supermärkte, die Waren nicht mehr verpacken, gibt? Fragen, die der Greiner-Konzern sich freilich nicht zum ersten Mal stellt. Die Strategien des Unternehmens sind trotzdem neu. Zum professionellen Management von Innovationen zählt seit Kurzem auch, "dass wir Tools aus der Start-up-Szene einsetzen, um Trends und zukünftige Bilder abzuleiten", schildert Innovationschef Möseneder. Beispiel Start-up-Pitch. Jeweils exakt 90 Sekunden blieb zehn innovativen Köpfen im Oktober, ihre Ideen beim internationalen Greiner-Führungskräfte-Meeting vorzustellen.

Das Rennen machte eine Technologie, die auf den ersten Blick wenig mit den typischen Greiner-Geschäftsfeldern zu tun hat – die Aquaponik. Eine Lösung, bei der die Fischzucht in Aquakulturen und die Kultivierung von Nutzpflanzen in Hydrokulturen zweckbringend kombiniert wird. Heute gibt es dazu bereits ein Geschäftsmodell – auch dank der Zusage des Vorstandes, sich die Sache im ersten Schritt einiges (man hört, 200.000 Euro) kosten lassen zu wollen. Möseneder wiederum nutzte die letzten Wochen, um Kontakt zu einem Tüftler (und Start-up-Gründer) vom Massachusetts Institute of Technology herzustellen, "den wir im Rahmen des Projekts einbeziehen wollen", so der Manager.

Suche nach dem Uber im Stahlwerk

Dass man mit dem Stahlanlagenbau nicht zuallererst turnschuhtragende Hipster verbindet, ist für Heiner Röhrl verkraftbar. Der Old Economy würde der CEO des Anlagenbauers Primetals Technologies Austria das Geschäft der Linzer trotzdem niemals zurechnen: Die anspruchsvolle Prozessmodellierung – Röhrl nennt beispielhaft die mikrosekundengenaue Regelung eines Walzwerks mit mehreren Tausend PS Antriebsleistung – spreche eindeutig dagegen. Ein "wolkenhaftes Gebilde" wie Industrie 4.0 im Konzern genauest zu identifizieren, hält Röhrl deshalb dennoch nicht für ein tollkühnes Vorhaben, sondern schlicht für eine Notwendigkeit. Große Anstrengungen liefen derzeit in Richtung vorbeugender Anlagenwartung – etwa dem Messen von Abweichungen im Vibrationsmuster schwingender Teile. "Da geht es um Komplexitätsreduktion beim Kunden", so Röhrl. Dass viele IT-Projekte im Konzern "mit Bordmitteln" bewältigbar seien, darf bei einem Gemeinschaftsunternehmen, bei dem der japanische Elektronikriese Mitsubishi Heavy Industries die eine Seite und der deutsche Siemens-Konzern die andere Seite einnimmt, nicht überraschen. Dass sich der Anlagenbauer jetzt immer stärker in der Linzer Start-up-Szene umtreibt, ebensowenig: Schnellanalysen dank neuartiger Sensorik, wie zuletzt mit einer App des Linzer Start-up-Betriebs Bluesource im Akustikbereich umgesetzt, lassen den Anlagenbauer immer weiter in den IT-Bereich vorstoßen. Wie überall im Maschinen- und Anlagenbau sollen neue, IT-basierte Mehrwertdienste die Schwindsucht im Neuanlagengeschäft kompensieren – und, wo es geht, wird immer stärker automatisiert. Wieweit disruptive Technologien die Anlagenbaubranche tatsächlich einem Erdbeben gleich erschüttern könnten, beschäftigt Röhrl wie auch andere Manager. Aus dem Grund sieht sich Primetals auch mittels Ideenwettbewerben intensiver als noch vor ein paar Monaten nach Menschen um, die losgelöst vom klassischen betrieblichen Ideenmanagement neue Zugänge ins Unternehmen bringen. Die streng anlagenbauliche Ausrichtung soll dennoch erhalten bleiben, wie Röhrl betont: "Wir suchen nach dem Uber im Stahlwerk."

Intelligente Big-Data-Algorithmen

Andere wollen noch nicht so weit gehen. "Hochindividualisiert und hochkomplex": Als solches bezeichnet Rosenbauer-Technikvorstand Gottfried Brunbauer die Löschsysteme und -fahrzeuge des Leondinger Feuerwehrausstatters. Natürlich setze man auf Produktkonfiguratoren, ein rein digitales Vertriebsmodell sei derzeit aber nicht angedacht. "Kunden schätzen den persönlichen Kontakt zum Vertrieb und zur Produktion", erzählt Brunbauer. Von findigen Plattformbetreibern, die Feuerwehrfahrzeuge oder Löschsysteme plötzlich online feilbieten, droht den Oberösterreichern also keine akute Gefahr. Auch der Mietsektor umfasst derzeit "kaum nennenswert Raum", sagt Brunbauer. Und sollte dem einmal so sein, sei Rosenbauer gerüstet, heißt es im Konzern. Trotzdem kann nicht gerade behauptet werden, dass die Oberösterreicher die Digitalisierung ihrer Produktwelt nicht vorantreiben: Mit einem mobilen Einsatzmanagement-System (EMEREC) – einem Front-End zur Unterstützung der Einsatzkräfte mittels Daten über Brandschutzpläne oder Gefahrstoffdaten vor Ort – baut man ein neues Produktsegment auf. "Derzeit läuft die Suche nach den passenden Betreibermodellen", schildert Brunbauer. Zugleich zapft der Feuerwehrausstatter das Know-how von Innovatoren aus der einschlägigen Szene an: Bei der Entwicklung intelligenter Algorithmen für die Analyse von Signalverläufen zur Früherkennung von Störungen ist maßgeblich ein Wiener Startup namens IPN beteiligt. Dass Rosenbauer vielschichtiger wird, soll sich auch in den Umsätzen widerspiegeln: Innovative Services (darunter: die Simulatorentechnik) nennt Brunbauer nicht umsonst "interessante Wachstumssegmente".

Kontakte zu Disruptoren

Nach Disruptoren, die mit einer simplen Idee im betriebliches Umdenken anstoßen können, streckte der Landtechnikhersteller Pöttinger lange vor dem Startup-Boom seine Fühler aus. In einem offenen Innovationsprojekt suchten die Grieskirchener nach neuen Lösungen zum effizienten Sortieren chaotisch liegender Grashalme bei der Grünlandernte. Es meldeten sich zu Wort Blogger und andere Tüftler aus 82 Ländern weltweit. "Wir erhielten über hundert Rückmeldungen", erinnert sich Markus Baldinger. Darunter waren einige interessant Ideen. So lieferte ein Teilnehmer einen "wertvollen Input das Kämmen beim Friseur betreffend", schildert der Leiter Forschung und Entwicklung bei Pöttinger Landtechnik. Nahezu aus eigener Kraft haben sich die Oberösterreicher vom klassischen Maschinenbaubetrieb zum Mechatronikspezialisten gewandelt – trotzdem "wollen wir auch selbst hin und wieder von außen mit Ideen und Innovationen angeschossen werden", sagt Baldinger. Besonders jetzt, wo intelligente Sensortechnologien drauf und dran sind, neue Geschäftsmodelle des Landmaschinenherstellers entstehen zu lassen: Farming 4.0, die noch stärker von Maschinen überwachte Arbeit (etwa mittels Autopilot-Funktion) von mit Schwarmintelligenz ausgestatteten Landmaschinen, rückt in Reichweite. In der Branche könnte kein Stein auf dem anderen bleiben – denn Landtechnikhersteller, darunter Pöttinger, einigten sich kürzlich darauf, die Umsetzung einer weltweit herstellerneutralen, produktübergreifenden Datendrehscheibe zu treiben. Nicht nur könnten große internationale Hersteller, die der Vernetzung mit Mitbewerbern reservierter sind, Probleme kriegen. Das Geschäftsmodell der Teilnehmer des Daten-Hubs würde sich grundlegend erweitern, wie Markus Baldinger von Pöttinger betont: "Als Hersteller würden wir dann noch in viel größerem Ausmaß über Maschinenoptimierungen und Apps eine Differenzierung suchen".

Es sind auftregende Zeiten für Armin Rau, auch wenn der Trumpf-Maschinen-Austria-Geschäftsführer einen Startvorteil hat: Jahrelang im Stammhaus Ditzingen in der Softwareentwicklung tätig, ist die digitale Transformation des Unternehmens ein für ihn durchaus liebgewonnenes Betätigungsfeld. Erkennbar anders als jene des Mitbewerbs sieht die Strategie der Oberösterreicher dann auch aus: Eine neue, stark auf Softwareentwicklung ausgerichtete vierköpfige Abteilung schiebt gemeinsam mit dem 2014 von Trumpf erworbenen indischen Softwarehaus Metamation das Thema einfachere Maschinenprogrammierung an. "In kurzen wöchentlichen Sprints treiben wir die Entwicklung voran", erklärt Rau das zur Anwendung kommende Prinzip der getakteten Entwicklung (Scrum, dt.: Gedränge). Schon heute tragen Services rund ein Zehntel zum Umsatz der Paschinger bei – in Zukunft könnte dieser Anteil deutlich steigen: Trumpf-Kunden würden heute häufig noch auf zugekaufte CAD/CAM-Tools setzen. "Zukünftig haben sie die Möglichkeit, derartige Leistungen als Services über unsere digitale Geschäftsplattform Axoom zu erstehen", sagt Rau. Abgerechnet würde über Pay-per-Use.

Auch die Gründung eines Start-ups, das sich ausschließlich mit Automatisierung und Systemen beschäftigen wird, rückt für die Paschinger näher. "Zunächst starten wir mit einer Gruppe aus erfahrenen Trumpf-Mitarbeitern, die wir Schritt um Schritt durch Leute von außen ergänzen wollen", sagt Rau. Immer öfter würde man mit kundenspezifischen Anforderungen bei Handling und Warenfluss konfrontiert – Lösungen dafür wollen künftig die Paschinger selber entwickeln.