Gisbert Rühl : "Kann gut sein, dass wir bald nur noch Handelsplattform sind"

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Herr Rühl, in der neuen Klöckner-Division kloeckner.i arbeiten seit über einem Jahr 20 Mitarbeiter an digitalen Visionen für den Stahlhandel. Was tun die eigentlich den ganzen Tag?

Gisbert Rühl Unser Geschäft, der Stahlhandel, steht unter Druck. Überkapazitaten, ein intensiver Wettbewerb, stark schwankende Preise und ein fragmentierter Markt machen uns Probleme. Im Januar des vergangenen Jahres haben wir daher eine Tochtergesellschaft gegründet, die sich mit der Entwicklung von Lösungen für die anwendungsorientierte Digitalisierung der gesamten Liefer- und Leistungskette beschäftigt.

Noch scheint der Webshop von Klöckner vom Ziel der Digitalisierung der gesamten Supply-Chain ein Stück weit entfernt ...

Rühl Der Webshop gehört zum ersten Schritt, in dem wir digitale Tools entwickeln, die die Zusammenarbeit mit uns für unsere Kunden erleichtern und diese sukzessive an die Nutzung onlinebasierter Lösungen heranfuhren. Wir haben ein Kontraktportal, das wir bereits mit dem von Trumpf entwickelten Portal für den Maschinenbau verknüpft haben. Auf der Beschaffungsseite haben wir uns bereits mit ersten Großhändlern und namhaften Stahlproduzenten wie Tata Steel und Nucor über umfassende elektronische Anbindungen digital vernetzt. In diesem Jahr setzen wir den zweiten Schritt um. Wir bündeln dabei die in Schritt eins entwickelten digitalen Tools in einer Serviceplattform. Bereits Anfang März haben wir diese Serviceplattform in der ersten Version mit allen wichtigen Basisfunktionen live gestellt.

Ihre Vision, Klöckner zum "Amazon der Stahlindustrie" zu machen, kann jedoch nur funktionieren, wenn auch andere Händler über Ihre Plattform vertreiben ...

Rühl Das ist richtig. Ab 2017 wird unsere Plattform dann nicht mehr proprietär sein – das heißt auch Wettbewerber werden darüber Stahl anbieten. Auch hier arbeiten wir bereits mit einigen Mitbewerbern an einer Anbindung. Erst dann entsteht nämlich der echte Nutzen für den Kunden. Dann kann über die Industrieplattform die ganze Breite der Produkte online bestellt werden – und Preise, Leistungen und Lieferzeitraume verglichen und optimiert werden.

Was sagen Ihre Mitbewerber zu der Einladung?

Rühl Die meisten Mitbewerber sind sehr interessiert, schon weil viele kleine und mittelgroße Mitbewerber gar nicht die technischen Möglichkeiten haben, konkurrenzfähige digitale Lösungen auf die Beine zu stellen. Für viele wird unsere Industrieplattform die einzige Möglichkeit darstellen, an den Vorteilen der Digitalisierung zu partizipieren und nicht abgehängt zu werden.

Und was sagen ihre Lieferanten?

Rühl Die Stahlerzeuger haben ein Rieseninteresse daran, dass die Blackbox Stahlhandel transparenter wird. Wir werden ja durch die digitale Vernetzung mit unseren Kunden in der Analyse viel exakter vorhersehen können, was die Kunden benötigen. Hier besteht das Potenzial – und das erkennen die Hersteller zunehmend –, dass in Zukunft bedarfsgetrieben und nicht nur auslastungsgetrieben produziert werden kann. Und wenn wir von Zukunft sprechen, sprechen wir schon vom nächsten Jahr.

Der Betrieb einer gänzlich offenen Plattform birgt natürlich die Gefahr der Kannibalisierung ...

Rühl Natürlich besteht dabei die Gefahr, dem eigenen Geschäft Konkurrenz zu machen. Und das wird auch passieren. Aber – und das haben wir im Bereich der Digitalisierung in anderen Branchen auch gesehen: Irgendjemand wird eine solche Plattform in der nächsten Zeit aufbauen. Bevor wir das anderen überlassen, machen wir das lieber selbst. Und verdienen über Transaktionsgebühren natürlich Geld.

Konsequent zu Ende gedacht, bedeutet das: Klöckner gibt sein Kerngeschäft, den Stahlhandel, auf und wird zum – im Idealfall für Sie monopolistischen – Betreiber einer Handelsplattform. Ist das Ihr Plan?

Rühl Eines ist klar: Den klassischen Stahlhandel, wie wir ihn heute kennen, wird es in wenigen Jahren nicht mehr geben. Der Stahlhandel wird völlig umgekrempelt. In Zukunft wird unser Geschäft das Supply-Chain-Management sein. Der, der den Datenstrom versteht und beherrscht, wird erfolgreich aus diesem Wandel hervorgehen.

Das bedeutet, die meisten Stahlhandler werden verschwinden?

Rühl Es wird zumindest zu einer weiteren Konsolidierung kommen. Derzeit wird, um im Zweifel lieferfähig zu sein, weltweit von allen Stahlsorten viel zu viel Stahl gelagert. Es wird zukünftig möglicherweise mehr Spezialisten geben, die nur noch bestimmte Produkte liefern, möglicherweise auch ein zentraleres Setup – vielleicht ein Gemeinschaftslager, aus dem mehrere Händler zusammen liefern. Es kann auch durchaus sein, dass andere Unternehmen als bisher das Fulfillment machen. Dass etwa verstärkt Logistikunternehmen die Auslieferung übernehmen, da für den Versand vieler Produkte keine spezielle Stahllogistik erforderlich ist. Aber um Ihre eigentliche Frage zu beantworten: Es kann gut sein, dass Klöckner einmal nur noch eine Handelsplattform ist – oder dass das Unternehmen aus zwei Divisionen, der Onlineplattform und dem physischen Handel bestehen wird.

Mit dem Wegfall der vielen dezentralen Lager werden im besten Falle viele tausende Arbeitsplätze überflussig. Wie viele Jobs wird das die Branche kosten?

Rühl In der Stahlbranche insgesamt werden auf jeden Fall mehr Arbeitsplätze wegfallen, als dass neue entstehen. Die Frage ist nur, bei wem. Entscheidend ist, dass wir durch die Digitalisierung Wettbewerbsvorteile aufbauen und wieder wachsen. Dann könnte die Personalstärke bei uns sogar stabil bleiben, aber das wissen wir heute noch nicht.

Wie vermitteln Sie solche Botschaften an Ihre Mitarbeiter?

Rühl Wir können nur ehrlich kommunizieren, und erklären, was wir vorhaben. In einer kürzlich durchgeführten Mitarbeiterumfrage haben immerhin 80 Prozent unserer Leute gesagt, sie verstehen die Digitalstrategie, nur vier Prozent verstehen diese nicht. Unsere Mitarbeiter machen sich keine Illusionen darüber, dass, wenn wir die Chancen der Digitalisierung nicht ergreifen, es ein anderer tun wird. Und dass man als Nachzügler dann natürlich weitgehend chancenlos ist.

Vor der Alternative, eine möglicherweise schmerzhafte Digitalstrategie zu entwickeln oder sich sehenden Auges von Mitbewerbern überholen zu lassen, stehen derzeit ja viele Branchen.

Rühl Das ist richtig. Das Disruptionspotenzial, das sich durch die Digitalisierung ergibt, zieht sich durch alle Branchen, etwa den Maschinenbau. Als Maschinenbauer muss ich Antworten auf das Thema Industrie 4.0 haben – und Ideen dazu, wie Maschinen in Smart Factories zukünftig miteinander kommunizieren. Wir haben wie erwähnt unsere Serviceplattform in die Plattform Axoom des Maschinenbauers Trumpf eingebunden. Dadurch werden Produktionsmaschinen zukünftig in die Lage versetzt, eigenständig Stahl bei Klöckner zu bestellen.

Sie haben sich bewusst dafür entschieden, die Digitalstrategie und die Onlinelösungen in einer separaten Gesellschaft, abseits des täglichen Stahlhandelsgeschäftes, entwickeln zu lassen. Warum?

Rühl Die Idee ist, digitale Lösungen in einer separaten Unit, die unabhängig agieren kann und deren Mitarbeiter nicht aus dem klassischen Stahlhandel, sondern aus der Start-up-Szene kommen, zu entwickeln. Nur so lassen sich schnell neue Tools entwickeln. Im Bereich der Digitalisierung braucht es andere Herangehensweisen als bisher.

Welche denn?

Rühl Eine marktorientierte – und nicht problemorientierte. Während wir – und da nehme ich mich selbst gar nicht aus – in unseren Karrieren über Jahrzehnte ein Projektmanagement eingeübt haben, das Vorlaufphasen kennt, in denen Probleme und Systeme analysiert werden und Technik und Markt auf Herz und Nieren untersucht werden, um nur ja nichts zu vergessen, haben die Mitarbeiter von kloeckner.i die Geschwindigkeit in ihrer DNA. Von dem Fast-Prototyping, also dem schnell mal Scribbeln, Einführen und Weiterentwickeln von sogenannten Minimum Viable Products (Anm.: Lösungen, die Minimalanforderungen des Marktes genügen), können wir im Konzern noch viel lernen.

Lässt sich solch eine marktgetriebene Unternehmenskultur auf den eher hemdsärmeligen Stahlhandel übertragen?

Rühl Davon bin ich überzeugt. Von der Agilität schwappt mittlerweile bereits einiges in den Konzern über. Auch wir wollen hohe Geschwindigkeit. Wir haben im vergangenen Jahr erste Design-Thinking-Workshops abgehalten. Und plötzlich reift auch bei uns die Erkenntnis: Das geht ja so viel schneller und besser. Ich habe mich 30 Jahre lang geärgert, dass Projekte so lange dauern und immer viel teurer werden als geplant – und plötzlich habe ich eine Lösung. Unsere Mitarbeiter sind begeistert. Aber ich mache mir auch keine Illusion, dass wir aus dem Gesamtkonzern Klöckner jemals ein kloeckner.i machen werden.

Wie versuchen Sie denn, Ihre Mitarbeiter im Konzern mitzunehmen?

Rühl Um allen Mitarbeitern die Chance zu geben, bei diesen exponentiellen Entwicklungen zu den Gewinnern zu gehören, bieten wir unseren Mitarbeitern entsprechende Schulungskonzepte an. Wir möchten damit erreichen, dass die Klöckner & Co-Mitarbeiter die notwendigen Fähigkeiten erlangen, um in einer digitalen Welt – und das sage ich jetzt bewusst: gegebenenfalls auch außerhalb von Klöckner - zu bestehen.

In einem Vortrag, den Sie im Juni am INDUSTRIEKONGRESS halten werden, heißt es: Digitalisierung ist Chefsache. Ohne vorab zu viel verraten zu wollen: Warum muss denn ein Thema, das derart von Agilität und Schwarmintelligenz lebt, von oben nach unten oktroyiert werden?

Rühl Neue Entwicklungen erzeugen bekanntermaßen Ängste und Widerstand. Und: Die Digitalisierung betrifft alle Geschäftsbereiche. Deshalb muss sie zumindest zu Beginn Top-down organisiert werden.

Noch ist der Informationsfluss vorsintflutlich: Wie vor Jahrzehnten bestellen Kunden im Stahl- und Metallhandel per Telefon und Fax. Die Produkte werden, um lieferfähig zu bleiben, häufig umgelagert und die Zykluszeit ist – im Vergleich zu Branchen mit Just-in-Time-Fertigung – extrem hoch. In dem im Vorjahr gegründeten Konzernbereich kloeckner.i bündelt Rühl jetzt mit 20 Mitarbeitern alle auf Digitalisierung ausgerichteten Projekte. Dabei greift er auf die klassischen Konzepte des Silicon Valley, wie etwa dem "Design Thinking" (Menschen unterschiedlicher Disziplinen arbeiten in einem kreativitätsfördernden Umfeld zusammen) und dem "Lean Startup Approach" (schnelle Einführung von Minimalprodukten, die im Echtbetrieb weiterentwickelt werden) zurück. Je nach Aufgabenstellung bildet man dafür Teams aus Kunden, externen Partnern sowie Mitarbeitern aus verschiedenen Funktionsbereichen des eigenen Unternehmens. Schon jetzt existieren ein Kontraktportal und ein Webshop mit Schnittstellen zur Anbindung an ERP-Systeme von Kunden sowie EDI-Anbindungen an Stahlhersteller wie Tata Steel. Spätestens kommendes Jahr soll die auch für Mitbewerber offene Industrieplattform existieren. Damit will Rühl nichts weniger als "das margenschwache Geschäftsmodell des Stahlhandels revolutionieren".

Wie verändern disruptive Prozesse die Geschäftsmodelle der Industrie? Was bedeuten diese Umbrüche für das Management? Und wie lässt sich die Digitalisierung auch gegen Widerstände umsetzen? Mit am Podium: Isabell M. Welpe, Lehrstuhlleiterin an der TU München, hat als HR-Expertin die Auswirkungen digitaler Technologien auf Unternehmensführung erforscht. Manuel Brunner, Projektmanager für Produktion im Unternehmen Mechatronik-Cluster und ausgewiesener Industrie-4.0-Experte im Produktionsbereich. Und Gerhard Ebner, Geschäftsführer von Risk Experts Risiko Enineering. Ebner beschäftigt sich mit den Chancen und vor allem Risken disruptiver Prozesse.