Logistik : Die π-Formel

Professoren aus den USA beherrschen eine ganz eigene Form der Begeisterung. Rod Franklin ist da keine Ausnahme. Seine Art, über das Physical Internet zu sprechen, changiert zwischen Argumentation und Agitation. Zwischen der sympathisch-kindlichen Freude am Entwerfen einer neuen Logistikwelt und dem Habitus des Evangelisten. Der Professor aus Cleveland, Dean of Programs der Kuhne Logistics University in Hamburg, gilt als Guru des Physical Internet. Und er weiß das Thema gut zu verkaufen.
Physical Internet (PI oder einfach "π") ist eine radikale Vision, angelehnt an das digitale Internet, in dem zwar Sender und Empfänger feststehen, der physische Weg der Datenpakete aber nicht interessiert und das Transportnetz ebenso offen wie global ist. Umgelegt auf den Warentransport hieße das: Transportgut wird in standardisierte, intelligente Container gepackt, die sich weitgehend autonom in einem globalen "Logistik-Web" bewegen. Ermöglicht durch weltweit einheitliche Interfaces und Protokolle sowie offene Netzwerkknoten. PI wurde den Fluss standardisierter Container managen, nicht deren Inhalt.
Neben den zahllosen technischen und juristischen Barrieren, die diesen Weg verstellen, ist die psychologische Barriere wohl die höchste, wie Rod Franklin selbst betont: "Physical Internet verlangt Kooperation, auch und vor allem zwischen Mitbewerbern. Die zentrale Grundlage dafür ist das Vertrauen." Vertrauen also nicht nur der Verlader, Netzwerkbetreiber, Regierungen und Konsumenten in das Netz selbst – sondern Vertrauen aller Beteiligten in die jeweils anderen.
Trotz aller Barrieren, meint Franklin, marschiere die Logistik geradezu schicksalhaft in Richtung Physical Internet: technische Entwicklungen wie autonome Fahrzeuge, smarte Infrastruktur oder Staumanagement-Systeme. Immer zahlreichere Bausteine des Internet of Things. Wachsendes Umweltbewusstsein der Konsumenten und entsprechend steigender regulatorischer Druck. Die Transportbranche, deren Margen sinken und deren Optimierungs-Aktivitäten an ihre Grenzen geraten. Nicht zuletzt die weltweite, intensive Beschäftigung der Logistikforschung mit dem Thema. "Wir sind zwar noch weit von der Umsetzung entfernt, aber das Physical Internet ist unvermeidlich. Es ist der logische Endpunkt einer längst schon laufenden Entwicklung. Nun geht es nur noch darum, das alles möglichst gut zu planen", sagt Franklin.
"Das wird relativ schwierig"
Rod Franklin hielt seine Keynote zu Physical Internet an der Wiener Wirtschaftsuniversität. Den Rahmen bildete ein Meeting der Arbeitsgruppen von ALICE: Die paneuropäische Forschungskooperation arbeitet bereits seit zwei Jahren an der Roadmap zu PI und visiert dabei die Jahre um 2050 an. Dass die Gruppe der Einladung ihres österreichischen Forschungsmitglieds Logistics Research Austria nach Wien folgte, kann durchaus als Verneigung vor der heimischen Logistikforschung gelesen werden. ALICE tagt üblicherweise in Brüssel.
Franklins Rede fand keineswegs nur vor begeisterten PI-Visionären statt. Anwesend waren auch Vertreter von Industrieunternehmen – jene also, deren Vertrauen nun eingefordert wird. Dass gleich mehrere von ihnen erwähnten, den Begriff "Physical Internet" noch nie gehört zu haben, mag Koketterie sein. Die faktischen Einwände sind das nicht.
Auf vier Punkte dampft Alfons Dachs-Wiesinger die wichtigsten Argumente gegen Rod Franklins Vision ein. Der Bereichsleiter Transport & Logistics Services bei Magna Steyr findet das Konzept zwar spannend, "ich denke aber, es wird relativ schwierig werden, die großen Verlader dazu zu bringen, etablierte, generische Systeme in ein offenes, gemeinsames System einzubringen." Zwar spreche einiges für die Realisation, dagegen aber vor allem: der Verlust der hundertprozentigen Kontrolle der Unternehmen über ihre eigene Logistik, der damit verbundene Verlust der Logistik als mächtiger Wettbewerbsvorteil, der Zeitaufwand und das gegenseitige Vertrauen, die notwendig sind, wenn Verlader tatsachlich zusammenarbeiten wollen und schließlich die Frage, wer in einem offenen, globalen System eigentlich verantwortlich ist, wenn etwas nicht funktioniert.
Viele Fragen offen
Doch da ist natürlich mehr: Kann das Physical Internet die unzähligen existierenden Geschäftsmodelle integrieren, für Konzerne und KMU gleichermaßen? Was darf es eigentlich kosten? Immerhin mussten Unternehmen in Sammelgutverkehr investieren – im Wissen, dass die Margen dort überschaubar sind. Und wie sieht es etwa mit den Containern aus? Sind tatsächlich standardisierte Transportboxen möglich, mit denen alle Industrien weltweit leben können?
Bernd Datler, Technikvorstand der Asfinag Maut Service, findet auch den Vergleich mit dem digitalen Internet nicht schlüssig: Welchen Weg etwa eine E-Mail geht, ist relativ egal, weil Umwege hier keinen Zeitverlust bedeuten. "Bei realen Gütern verlängern sich aber die Laufzeiten. Was bedeutet das zum Beispiel bei verderblichen Gütern? Und vor allem: Wenn ein Verlader vom 'System‘ eine langsamere Variante zugewiesen bekommt – wie soll er dann die Einhaltung seiner Lieferfenster garantieren?" Das Problem zu lösen, sagt Bernd Datler, werde in einem selbstorganisierenden System wohl sehr schwierig werden. "Und ich habe den Eindruck, dass diese Problematik von den Verfechtern des Physical Internet nicht einmal im Ansatz reflektiert wird."
Probleme sieht Datler auch beim Thema Warehousing: Das Physical Internet beinhaltet ja das Konzept intelligenter Warehouses, in denen das automatisierte Umladen geschieht. Im digitalen Internet ist dies die Rolle von Routern, die bei Überlastung Datenpakete verwerfen können, da das dahinterliegende Protokoll sich um die erneute Übermittlung kümmert, bis alle Pakete erfolgreich übertragen sind – undenkbar in der physischen Welt. Die Warehouses im PI eine solche Routingfunktion vollautomatisch beherrschen zu lassen, sei denkbar, "die Kapazität so zu dimensionieren, dass alle Pakete selbstorganisiert zeitgerecht bearbeitet werden können, ist aber sehr herausfordernd."
Die üblichen Verdächtigen
Spannend durfte zu sehen werden, von welcher Seite das Physical Internet getrieben wird. Und von welcher nicht. Horst Treiblmaier, der das Thema als Professor am Logistikum in Steyr intensiv bearbeitet, weist auf die starke ökologische Komponente des PI hin: "Diese Vision beinhaltet ja auch den Gedanken der Transport-Vermeidung, wenn etwa statt fertiger Teile Daten an einen 3D-Drucker verschickt werden konnen." Ein weiterer Aspekt, der für die Transportlogistiker nicht besonders attraktiv sein dürfte. Friedrich Starkl, der Leiter von Logistikum Research, erwartet diesbezüglich denn auch wenig aus der Branche: "Ich glaube, die Entwicklung wird eher von außen getrieben werden. Vielleicht von der IT-Welt oder anderen völlig Branchenfremden."
Dass schnell die üblichen Verdächtigen genannt werden, überrascht nicht. Google, Amazon, Uber, Alibaba – ihr Ruf, vielversprechende Entwicklungen als Erste zu erkennen und Lösungen ebenso ausgereift wie blitzartig in den Markt zu bringen, rückt sie auch hier in den Fokus. In den entsprechenden Forschungsgremien sitzt jedoch kein einziger ihrer Vertreter. "Die Teilnahme eines großen Players wie Google oder Amazon wurde ALICE selbstverständlich einen extremen Schub geben", formuliert Horst Treiblmaier so etwas wie eine Einladung.
Wenige Tage nach der Konferenz in Wien veröffentlichte Bloomberg ein angebliches internes Strategiepapier von Amazon aus dem Jahr 2013. Der Konzern plane demnach unter dem Projektnamen „Dragon Boat“ den schrittweisen Ausbau seines Angebots in Richtung eines echten Paketdienstes und langfristig eines vollwertigen Frachtunternehmens. Strategie und Zeitplan, sagen die Bloomberg-Quellen, seien immer noch aktuell. Geplanter Start: 2016.
Lesen Sie auch den Kommentar "Alles, nur nicht fad" zum Thema Physical Internet.
Herr Starkl, Sie halten das Physical Internet wirklich für die Zukunft?
Friedrich Starkl Ja, definitiv. Sie müssen sich nur ansehen, wer in der Europäischen Forschungsplattform ALICE daran arbeitet! Neben führenden internationalen Logistik-Forschern sind das Industriegrößen wie Magna, Procter & Gamble, HP, Siemens und viele andere. Und in diesen zwei Jahren ist keine einzige Firma abgesprungen. Natürlich wissen wir nicht konkret, wie die Transportlogistik 2050 aussehen wird. Aber die Richtung scheint klar zu sein.
Wie soll man sich den Weg dorthin vorstellen? Alles wird gut vorbereitet, und dann legt jemand den Schalter um?
Starkl Nein, das kann sich nur kontinuierlich entwickeln. In unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Ich denke, im Software-Bereich könnte es wirklich sehr schnell gehen. Sehen Sie nur, was Transporeon in vergleichsweise kurzer Zeit geschafft hat: Deren Softwarestandard kann sich heute im Bereich der Weitergabe von Transportauftragen kaum noch jemand entziehen. Etwas länger wird es wohl bei den standardisierten Behältern dauern. Doch Amazon zum Beispiel geht ja bereits in diese Richtung: Hier haben Sie eine maximale Paketgröße, ein weitgehend automatisiertes Handling – und wie beim Physical Internet haben Versender und Empfänger kaum Einfluss auf den konkreten Transportweg. Ich bin übrigens gespannt, ob Amazon bald auch Stückguttransporte anbieten wird. Im Grunde haben sie ja alle Voraussetzungen.
Die Transportbranche haben Sie jetzt gar nicht erwähnt.
Starkl Ich glaube, die Entwicklung wird eher von außen getrieben werden. Vielleicht von der IT-Welt oder anderen völlig Branchenfremden. Möglicherweise auch von bereits aktiven Akteuren à la Google, Amazon oder Alibaba. Ich bin sicher, dass die sich längst mit diesem Thema beschäftigen. Dann kann es sehr, sehr schnell gehen und die Spediteure werden sich irgendwann nicht mehr aussuchen können, ob sie mitmachen oder nicht.
Was treibt denn die Logistik in Ihren Augen in Richtung Physical Internet?
Starkl Es sind vor allem ökonomische Treiber. Die Transportbranche fahrt doch gerade in eine Sackgasse! Die Margen sinken, der Druck der Verlader steigt. Ich fürchte, hier wird es zu einem weiteren Sterben kommen, vor allem unter den Kleinen. Und ich sehe nur einen Ausweg: Verlader und Logistik-Serviceprovider werden sich verstärkt vertikal verknüpfen. In einem zweiten Schritt werden die horizontalen Kooperationen folgen müssen. Wer dann immer noch sein Geschäft nach den alten Mustern führt – und seine Ladeadressen mit seinem Leben verteidigt –, wird keine Chance haben.
Hinzu kommen die ökologischen Treiber. Gesetzliche Regelungen etwa in Zusammenhang mit CO2-Reduktion werden auch im Transportbereich starker aufschlagen. Das kann bis zu einer fiskalischen Belastung von Leerfahrten gehen. Die Logistiker müssen also eine bessere Auslastung und ein umweltorientiertes Modal Choice schaffen.
Zusätzlich werden sich die Lagerstrukturen verändern, darauf weist ja auch der kanadische Logistik-Forscher Benoit Montreuil hin: Die Lager werden immer dezentraler, sie rücken immer naher an die Kunden.
Wie soll man denn die Industrie dazu bewegen, ihre Logistik mit anderen zu teilen? Die ist ein zentraler Wettbewerbsfaktor.
Starkl Die innerbetriebliche Logistik wird das auch weiterhin bleiben. Die diesbezügliche Bedeutung der Transportlogistik sehe ich aber schwinden, sie wird irgendwann Commodity sein. Wenn eines Tages der intelligente Container sozusagen am Straßenrand oder auf der Rampe steht und sich autonom beim vorbeifahrenden Transportmittel anmeldet, wird es für die Verlader keine ökonomisch tragbaren Alternativen mehr geben.
Sind die Gesetzgeber auf eine Entwicklung wie Physical Internet vorbereitet?
Starkl Nein, die Legislative wird bestimmt eine Zeit lang hinterherhinken. Aber das war beim digitalen Internet ja nicht anders. Vor allem das oft sehr kontraproduktive Wettbewerbsrecht wird man komplett überdenken mussen. Es macht horizontale Kooperationen zwischen großen Unternehmen nicht gerade einfacher.
Wenn tatsächlich ein gemeinsames Transportnetz entsteht – wem gehört es dann eigentlich?
Starkl Wem gehört das digitale Internet?
Das wollen Sie jetzt wirklich vergleichen?
Starkl Warum nicht? Sollte es eines Tages einige große Player geben, die gemeinsame, offene, globale Transportwege betreiben, dann werden die Verlader eben eine Gebühr für deren Benutzung bezahlen. Beim Internet ist das ja auch ein völlig normales Geschäftsmodell.
"Letztlich wollen wir den Cisco-Effekt", sagt Christian Herneth. Vom legendaren Schritt der Kalifornier, ihr Frontend via Internet direkt an die Kunden zu rücken, sieht sich der Senior-Expert Supply-Chain-Management bei OMV Refining zwar noch ein gutes Stück entfernt. Doch der Weg, den OMV und die Rail Cargo Group RCG schon zurückgelegt haben, weist in Richtung Physical Internet.
Mit dem Projekt RTMO, "Rail Transport Mobility Optimization", verfolgen die beiden Unternehmen die Schaffung eines umfassenden Tools für das Kapazitäts-Management im End-to-End-Verkehr zwischen Bahn-Versandkunde und Empfänger. Und das, betont Christian Herneth, funktioniert nur mit maximalem gegenseitigen Vertrauen: "Es sind ja nicht nur unsere eigenen Züge – es sind unsere Produkte, die zu den Kunden gelangen müssen. Die RCG weiß, was wir wann an wen liefern wollen. Wir wissen, wohin die RCG wann und mit welchen Mengen fahren kann. Das Ergebnis wird im Grunde vom System generiert."
Permanente Aktualisierung
Und dieses System hat es in sich, galt es doch nicht zuletzt, zwei unterschiedliche IT-Welten zu einem unternehmensübergreifenden Tool zu vereinen. IROF, das "Integrated Rail Operating Framework", ist das von OMV und RCG entwickelte Software-Herz des Systems. Es wird von beiden Seiten permanent mit aktualisierten Informationen beschickt, darunter unzählige Ankunftszeiten (ETAs) – mittlerweile europaweit.
Anhand der aktuellen Daten errechnet RTMO Abweichungen des Ist- vom Sollzustand, bewertet sie und stellt anschließend die optimale Auslastung der Zugsysteme sicher. "Die Grundidee ist, alle auftretenden Abweichungen in kollaborierenden Prozessen und einem System von Systemen abzubilden", sagt Erwin Flieh, Anschlussbahnenexperte bei der RCG. "Wir können Schwankungen im System ausgleichen, aber das funktioniert eben nur, wenn man sich sehr schnell und ohne Vorbehalte mit dem Partner abstimmen kann."
RTMO ist immer noch Forschung, betont Christian Herneth, "wir testen und entwickeln bottom-up, das System kann noch nicht autonom arbeiten. Aber natürlich lautet das Ziel, es so weit zu optimieren und zu vereinfachen, dass es auch für weitere Partner aus ganz anderen Branchen einsetzbar ist. Und es soll eines Tages in die Hosentasche passen, sprich: mobil werden." Ziele, die den beiden Unternehmen durchaus ernst sind. Bis 2018, sagt Erwin Flieh, muss RTMO operativ umgesetzt sein. Entsprechende Vorentscheidungen zur operativen Einführung haben sowohl das RCG-, als auch das OMV-Management getroffen.
"Uber und andere Start-ups wie GoGo-Van und Lalamove sind in Asien bereits in den Pakettransport eingestiegen. Hier geschehen hochinteressante Dinge, und über die müssen wir einen Überblick bekommen." Die weltweite Bestandsaufnahme steht am Beginn des Forschungsprojekts ATROPINE, geleitet von Horst Treiblmaier und Oliver Schauer, Professoren am Logistikum in Steyr. Das vom Land geförderte Projekt will in Oberösterreich eine Art Modellregion für das Physical Internet schaffen. In Form von Demonstratoren, von kleinen Beispielen, betont Horst Treiblmaier – eine globale Logistikrevolution werde nicht in Steyr beginnen. "Wir werden uns aber gemeinsam mit Industriebetrieben ansehen, welche der Lösungen, die wir weltweit finden, hier in Oberösterreich in die Praxis umgesetzt werden können", sagt Treiblmaier, "und damit werden wir deutlich über Simulation hinausgehen."
ATROPINE will vor allem erforschen, wie Elemente des Physical Internet den Unternehmen helfen können, über Kooperation Transportkosten zu verringern. Bei der Vermeidung von Leerfahrten etwa gibt es bereits einige Beispiele für Kooperationen auf internationaler Ebene; ebenso im Zusammenhang mit Shared Warehousing. "Wir wollen uns darüber hinaus ansehen, was passiert, wenn wir Industrieunternehmen zu intensiverer Zusammenarbeit bewegen können. Oder wenn wir neue Intermediäre einführen, ähnlich Physical-Internet-Providern."
Die zu erwartenden Hindernisse liegen auf der Hand: Um echte Demonstratoren zu schaffen, bedarf es des Datenaustauschs zwischen Unternehmen, der Kooperation, der Bündelung von Aufträgen. "Hier beginnt es natürlich zu menscheln", sagt Horst Treiblmaier, "und uns ist völlig klar, dass das sehr schwierig werden kann."