Dienstleistung : Versicherungsbranche am Wendepunkt

Michael Sturmlechner

Michael Sturmlechner: „Womöglich wird man anerkennen müssen, dass manche Risiken in der heutigen Welt nur über Querfinanzierung oder gestützte Prämien versicherbar sind.“

- © Foto: Georg Wilke

Michael Sturmlechner, Geschäftsführer von Aon Austria, hat auf dem Versicherungsmarkt schon viel erlebt. Den, wie er sagt „weichen Markt“ nach der Finanzkrise von 2008/09, als Versicherer bereit waren, immer größere Risken in ihr Portfolio aufzunehmen und dabei mit günstigen Prämien um Kunden warben, ebenso wie die innerhalb der nächsten Jahre einsetzende Umkehr. 

„2018/2019“, erinnert er sich, „gab es dann kaum noch Versicherer, die Gewinne machten. Die immer größeren und häufigeren Schäden wurden für sie zu einer existenziellen Bedrohung.“ Und die Reaktion darauf fiel heftig aus: Prämien stiegen, Polizzen wurden gekündigt, ganze Branchen galten als Hochrisikoterrain. Versichert wurden sie, wenn überhaupt, dann nur noch mit horrenden Aufschlägen.

Kritischer Faktor Versicherung

Inzwischen hat sich die Situation zwar etwas normalisiert, doch in vielen Branchen wie der Holzindustrie, Recyclingindustrie, Stahlindustrie, Chemieindustrie und auch im Automotive-Sektor bleibt die Versicherungsfrage ein kritischer Punkt. Gleiches gilt für den Mittelstand. Der Versicherungsmarkt der mittleren 2020-er Jahre, analysiert Sturmlechner, ist zwar wieder etwas flexibler, dafür aber massiv von in der Versicherungsbranche festsitzendenden Paradigmen und technischen Regulatorien beeinflusst.

„Wenn ein Unternehmen, nur um ein Beispiel zu nennen, im Zuge des Underwriting, der Ausdruck bezeichnet die technische Beurteilung des Versicherers, seine gesamten Risikomanagement-Strategie und -standards sowie ihre Einhaltung in allen Ländern, in denen es tätig ist, beschreiben und nachweisen muss, dann ist allein das schon ein Riesenaufwand.“ Oft bleibt es aber nicht dabei, weil jede Antwort zwei weitere Fragen nach sich zieht.

Anbieter wie Aon können Unternehmen in einem solchen Offenbarungsmarathon nicht nur bei der Suche nach Antworten signifikant unterstützen, sondern auch dadurch, dass sie die Antworten in einer für Versicherer gut lesbaren und nachvollziehbaren Weise darstellen. „Zugleich stehen wir mit dem gesamten Versicherer-Markt stets in Interaktion und können so die absolut besten Angebote für unsere Kunden finden. Neben der Rolle als Risikoberater verstehen wir uns auf der Kundenseite stehend als Intermediäre zwischen Kunde und Versicherungsmarkt“, sagt Sturmlechner.

Michael Sturmlechner
Michael Sturmlechner: „Ein Großunternehmen kann auch fünf bis zehn Millionen Euro an Selbsthalt verkraften bzw. zehn Millionen in eine Captive investieren. Einen Mittelständler bringen solche Summen um.“ - © Foto: Georg Wilke

Eine Welt im Wandel

Doch auch für Experten wird die Suche nach attraktiven Versicherungslösungen immer schwieriger. „Die Umstände und die Welt haben sich einfach geändert. Versicherer kalkulieren den Klimawandel in ihre Prämiengestaltung ein. Denn sie wissen, dass die Wahrscheinlichkeit großflächiger Naturkatastrophen zunimmt, dass die Cyberkriminalität steigt und sie sehen, wie wir alle, dass globale Lieferketten politischen Risiken ausgesetzt sind.“ 

Das führt zwangsläufig zu hohen Prämien und auch zu hohen Selbstbehalten für die Unternehmen. Für österreichweit tätige Unternehmen in exponierten Branchen wie etwa der Holzverarbeitung oder auch Recycling können Selbstbehalte im Schadensfall durchaus Millionenbeträge betragen. Rücklagen in dieser Höhe vorzuhalten, ist alles andere als trivial.

Wichtige Entscheidung

Daher ist die Entscheidung, wie mit dieser Herausforderung umgegangen wird, sehr sorgfältig zu treffen. Nachdem ein Unternehmen den Entscheid über die Höhe der optimalen Eigentragung bzw. der Selbstbehalte getroffen hat - dies nicht immer freiwillig und durch den Versicherer oftmals vorgegeben -, gilt es die Frage zu beantworten, wie die Eigentragung unter Berücksichtigung der bestehenden Unternehmensstruktur, etwa mit Tochtergesellschaften im In- und Ausland, deren Bilanzen eine unterschiedliche finanzielle Leistungsfähigkeit aufweisen, innerhalb der verschiedenen Versicherungslösungen umgesetzt werden kann.

Solange die Höhe der Eigentragung sich auf einem niedrigen und für die meisten Tochtergesellschaften tragbaren Niveau befindet, kann die Eigentragungsstrategie mittels eines konventionellen Selbstbehalts am einfachsten und kostengünstigsten umgesetzt werden. Schäden bis zur Höhe der Selbstbehaltslimite sind nicht versichert und müssen durch die betroffene Tochtergesellschaft übernommen werden. Bei höheren Eigentragungen müssen jedoch Nachteile berücksichtigt werden, wie zum Beispiel die Volatilität in der Bilanz und Erfolgsrechnung, der Verlust der Planbarkeit des Unternehmensergebnisses und die Notwendigkeit, ausreichend risikotragendes Kapital vorzuhalten.

Allheilmittel Captives?

Um die Nachteile einer solchen konventionellen Selbstbehaltslösung zu umgehen, empfiehlt sich eine erweiterte Selbstfinanzierungsstrategie mittels einer unternehmenseigenen Rückversicherungsgesellschaft, eine sogenannte Captive-Lösung. Sie ermöglicht Unternehmen, ihre oftmals internationalen Versicherungslösungen mit tragbaren Selbstbehalten auszustatten. 

Eine Captive ist also ein lizenziertes Rückversicherungsunternehmen, das dem Unternehmen gehört und an dessen Risiken das Unternehmen beteiligt ist. Eine Captive eignet sich als langfristiges Risikofinanzierungsinstrument, bringt jedoch erhöhte Komplexität und Kosten mit sich.

Zudem kommt, und das ist sehr wesentlich: Das Captive-Modell eignet sich kaum für den Mittelstand, der die österreichische Wirtschaft prägt: „Ein Großunternehmen kann auch fünf bis zehn Millionen Euro an Selbsthalt verkraften bzw. zehn Millionen in eine Captive investieren. Einen Mittelständler bringen solche Summen um. Dabei sind exponierte Mittelständler schnell einmal bei einem Millionenbetrag, die sie im Fall des Falles benötigen. Die Komplexität von Captives und auch die Kosten für das Betreiben einer Captive stellen weitere massive Hürden für den Mittelstand dar“, erklärt Michael Sturmlechner. 

Umdenken dringend nötig

Statt immer dann, wenn von Unversicherbarkeit die Rede ist, inflationär auf das Buzzword Captives zurückzugreifen, sollten die Versicherungs- und Risikoberatungsbranche und auch die Unternehmensinteressensvertretungen daher kreativ über neue Lösungen nachdenken und mehr Innovationsansätze an den Tag legen, findet Michael Sturmlechner. Branchenweite Risikopools, in die auch jene einzahlen, die kein besonders hohes Risiko haben, wären eine Möglichkeit.

Ebenso denkbar sind Public-Private-Partnerships. Dabei fließen öffentliche und private Mittel in einen gemeinsamen Pool. Der Staat kann dann zum Beispiel Rückversicherungsfunktionen übernehmen oder Prämien fördern. In manchen Bereichen, ergänzt Sturmlechner, sollte man aber auch über eine Versicherungspflicht zumindest diskutieren dürfen: „Passiert nämlich nichts, werden bestimmte Risiken schon bald wirklich nicht mehr versicherbar – und das kann sich niemand wünschen.“

Wer soll am Ende zahlen?

Das stimmt. Denn entweder riskiert man ohne eine tragbare Lösung im Ernstfall gewaltige Folgeschäden – bis hin zu Insolvenzen der betroffenen Unternehmen, samt Arbeitsplatzverlusten und allem Negativen, das dazu gehört. Oder aber der Staat springt – wie bei den Hochwasserkatastrophen der letzten Jahre – rettend ein. Das bedeutet allerdings, dass am Ende immer die Allgemeinheit bzw. die Gesellschaft die Kosten tragen müssen.

Um eine Lösung zu finden, urteilt Sturmlechner, sollte man sich daher unter anderem auch von dem weit verbreiteten Trugschluss befreien, dass sich Versicherungen immer refinanzieren müssen. „Dieser Gedanke ist aus Sicht einzelner Unternehmen zwar nachvollziehbar, aber letztlich absurd – denn dann müsste man sich Schäden ja geradezu herbeiwünschen“, sagt Sturmlechner. Doch auch auf Seiten der Versicherer bzw. der Politik braucht es ein Umdenken: „Womöglich wird man anerkennen müssen, dass manche Risiken in der heutigen Welt nur über Querfinanzierung oder gestützte Prämien versicherbar sind, aber dennoch versichert werden müssen, um das Wirtschaften und die Existenz des so notwendigen Mittelstandes in Österreich weiterhin sicherzustellen.“