Defence Ukraine Major : Politologin Claudia Major: "Die nächste Bedrohung wird anders sein, als wir gerade planen"
Ein Soldat einer mobilen Anti-Drohnen-Luftverteidigungseinheit der 38. Separaten Marinebrigade der ukrainischen Streitkräfte feuert mit einem ZU-23-2-Flugabwehrgeschütz während eines Kampfeinsatzes an der Frontlinie, aufgenommen in der Region Donezk im Oktober 2025.
- © Anatolii Stepanov / REUTERS / picturedesk.comAktive Mitgliedschaft erforderlich
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INDUSTRIEMAGAZIN DEFENCE: Frau Major, ist das, was wir gerade erleben – Drohnen in Polen, Störungen an Flughäfen – ein weiteres Indiz dafür, dass Russland die Grauzone zwischen Krieg und Frieden dehnt?
Claudia Major: Es fällt gerade mehr auf, aber es ist keine neue Entwicklung. Russland vermeidet einen direkten militärischen Konflikt mit NATO- und EU-Staaten. Gleichzeitig sieht sich Russland längst im Krieg mit dem Westen. Nur findet dieser Krieg nicht nur auf klassisch militärischer Ebene statt, sondern in der großen Grauzone zwischen Krieg und Frieden. Da wird Gewalt angewendet, aber sie hat keinen klaren militärischen Charakter. Sabotage, Unterseekabel, Propaganda, Cyberangriffe – bis hin zum Militärischen: das ist ein Kontinuum. Und das Ziel ist immer dasselbe: das Vertrauen in das Funktionieren demokratischer Staaten zu unterminieren, den Zusammenhalt und die Handlungsfähigkeit zu schwächen; prüfen, wie die Staaten reagieren, politisch und militärisch. Es geht darum, den Konflikt in die Zone zu tragen, wo der andere verwundbarer ist. In Westeuropa sind das beispielsweise offene Gesellschaften.
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Das ist nicht neu. Aber jetzt wird es sichtbarer und direkter spürbar. Das Agieren in der Grauzone erschwert die Reaktion: Es ist schwierig, der Verursacher festzustellen, und selbst wenn der bekannt ist, bleibt die Frage wie darauf zu reagieren ist und ob zwischen verschiedenen Staaten politische Einigkeit über die Reaktion hergestellt werden kann: Was war das? Und was machen wir jetzt?
Und trotzdem die Frage: Welche Abwehrmechanismen sind adäquat?
Major: Die Reaktion sollte ein Dreischritt sein: Abschreckung und Verteidigung im militärischen Bereich und Resilienz im nicht-militärischen Bereich.
Aber wissen wir denn, wie wir uns für den nächsten militärischen Konflikt aufstellen müssen ?
Major: Wenn wir ehrlich sind: Wir wissen nicht, wie der nächste Krieg aussieht. Und wir wissen auch nicht, wie wir ihn kämpfen werden. Die Ukraine kämpft aktuell viel mit Drohnen, zum Teil, weil sie nicht die Ausrüstung bekommen hat, die sie wollte. Drohnen waren verfügbar und günstig. Das war nicht das Mittel der Wahl. Jetzt rufen viele: „Drohnenwall – und alles ist gelöst!“ Das hat fast populistische Züge: eine einfache Antwort auf ein komplexes Problem. Natürlich werden Drohnen und Künstliche Intelligenz in Zukunft eine große Rolle spielen – aber sie werden nicht alles ersetzen. Der Drohnenwall kann lokal helfen. Aber beispielsweise für Angriffe auf Kommandozentralen oder Startrampen für Raketen im Hinterland braucht es wahrscheinlich andere Systeme. Gleichzeitig hat Russland in den letzten Jahren eine enorme Lernkurve hingelegt. Gerade im Bereich Drohnenabwehr sind sie exzellent.
Und es führt zu einer Frage für die NATO: Was lernen wir aus dem Krieg in der Ukraine? Ziehen wir die Lehre Stellungskrieg? Oder hat Artillerie wieder Priorität? Oder Drohnen und ein gläsernes Gefechtsfeld? Die korrekte Antwort ist: wahrscheinlich von allem etwas, zudem die umfassende Vernetzung verschiedener Waffen und Sensoren und eine innovative Industrie die schnell neu entwickeln kann.
Sie sagen, wir wissen nicht, wie der nächste Krieg aussieht. Überschätzen wir unsere Fähigkeit zur Vorhersage?
Major: Schauen Sie in die Geschichte: Nach den Balkankriegen hat man für genau diese Kriege geplant – und dann kam etwas völlig anderes. In den deutschen Verteidigungspolitischen Richtlinien von 2011 hat sich Deutschland für Krisenmanagement aufgestellt – und war von 2014 und der Annexion überrascht, die eine Rückkehr zur Landes- und Bündnisverteidigung mit schwerem Gerät einleitete. Die Wahrheit ist: Die nächste Bedrohung wird anders sein, als wir gerade planen. Und trotzdem müssen Beschaffungsentscheidungen jetzt getroffen werden. Das macht es ja so schwer! Sie müssen entscheiden, was Sie kaufen und wie sie Soldaten ausbilden. Welche Innovation wird relevant? Was die Ukrainer taktisch und technisch leisten – diese kurzen Innovationszyklen bei Drohnen und Abwehr – das hätte kaum jemand ihnen zugetraut. Wir im Westen sind schwerfällig. Und noch schwerfälliger, wenn wir uns erst in 27 oder 32 Hauptstädten einigen müssen, bevor etwas passiert.
Wie weit ist die NATO von „modern und agil“ entfernt?
Major: Militärs sagen: „Wir gehen mit der Armee in den Krieg, die wir haben – nicht mit der, die wir gern hätten.“ Die Streitkräfte sind nicht da, wo sie sein wollen. Da reicht ein Blick auf Basics wie Funkgeräte. Da fehlt zuweilen zuverlässiges Material. Aber sie ist auf dem richtigen Weg.
"Militärs gehen mit der Armee in den Krieg, die sie haben – nicht mit der, die sie gern hätten.“Claudia Major, Politologin und Senior Vice President für Transatlantische Sicherheitsinitiativen, German Marshall Fund of the United States
Gleichzeitig hört man von Rekordaufträgen für die Rüstungsindustrie. Bringt das nicht Schwung in das System?
Major: Da wäre ich vorsichtig. Ist wirklich so viel Geld da? Beim NATO-Gipfel 2025 klingt alles gut – 5 Prozent, 3,5 für Verteidigung, 1,5 für Resilienz. Aber 9 von 32 NATO-Staaten erfüllen bis heute nicht einmal die 2 Prozent, die sie 2014 versprochen haben. Manche sagen offen: „Wir wollen das auch gar nicht erreichen.“ Andere können es sich schlicht nicht leisten. Der Rüstungsmarkt ist zudem unglaublich reguliert, zumindest in Ländern wie Deutschland. Sie haben praktisch nur staatliche Kunden. Sie können nicht einfach auf Halde produzieren. Wenn morgen jemand sagt: „Wir geben doch weniger aus“, dann steht das Rüstungsunternehmen da mit neuen Produktionslinien und keiner zahlt. Und dann gibt es noch Preisbindungen, Gewinnbegrenzungen, Exportgenehmigungen.
Und in Europa herrscht zusätzlich die Frage: europäisch oder amerikanisch kaufen?
Major: Die einen sagen: Wir müssen uns endlich von den USA lösen, die Abhängigkeit sei gefährlich. Die anderen sagen: Lasst uns amerikanisch kaufen, das ist schneller, verlässlicher – und wir bekommen eine kleine Sicherheitsgarantie dazu. Und beide haben recht. Denn: Es gibt Systeme, die können wir in Europa schlicht nicht oder noch nicht. Flug- und Raketenabwehr. Schwere Transporthubschrauber. Weitreichende Präzisionswaffen. Andere Dinge können wir sehr gut.Zudem sind die Lieferketten und Produktion eng verflochten, das kann man nicht so einfach trennen. Also wird es ein Mix sein – amerikanisch, europäisch, außereuropäisch. Und ja, wir müssen das politisch erklären können. Wenn Deutschland 150 Milliarden Euro für Verteidigung ausgibt – und die Ausgaben für Rüstung davon gehen alle raus aus Europa, ist innenpolitisch kaum vermittelbar.
Und Österreich? Sehen Sie die Neutralität Ihres Nachbarlandes als Vorteil?
Major: Österreich ist im Endeffekt ein Free Rider: Sie bekommen den vollständigen Schutz – und investieren fast nichts.