Interview Jubiläumsheft : "Warum sollten wir Technik verdammen?"

Herr Professor, vor mehr als 200 Jahren leitete die Dampfmaschine die industrielle Revolution ein. Sie half, einen ganzen Kontinent neu zu erschließen. Heute spricht jeder von der Vollvernetzung der Produktionstechnik. Da hatte das 18. Jahrhundert schon mehr zu bieten, oder?

Horst Wildemann: Nein, jede Zeit ist aufregend. Die kommenden technischen Entwicklungen eröffnen neue Chancen wie eine höhere Wirtschaftlichkeit und einen höheren Kundennutzen. Die Frage ist natürlich, aus welcher Perspektive man es betrachtet: Aus jener, dass sich damit neue Möglichkeiten eröffnen – oder aus der Bedrohungsperspektive.

Anbieter von Automatisierungstechnik kennen da nur einen Reflex: Roboter schaffen Arbeitsplätze, die menschenleere Fabrik ist ein Hirngespinst.

Wildemann: Schon vor zehn, fünfzehn Jahren waren Werksleiter bei Führungen durch die Produktion besonders stolz, wenn sie erst das Licht anmachen mussten, um die autark arbeitenden Maschinen sichtbar zu machen. Heute ist klar: Die Digitalisierung wird weiter zunehmen, es werden weniger Menschen in den Fabriken arbeiten, erheblich weniger.

Was uns im Gegensatz zu den Maschinen auszeichnet, ist die Intuition. Gibt die Menschheit gerade leichtfertig ihren letzten großen Trumpf aus der Hand?

Wildemann: Nicht wenn man sie als Fehlerquelle sieht. Doch Psychologen haben tausendfach bewiesen, dass weniger die Intuition, sondern der so genannte Fehlleistungsaufwand problematisch ist – also mangelnde Aufmerksamkeit, mangelnde Disziplin ...

Nicht wenige fürchten, dass der Mensch bald nur mehr zu minderen Diensten herangezogen wird, zu einem Art Diener der intelligenten Maschine verkommt. Erfahrung wird dann Nebensache sein, oder?

Wildemann: Technikerjobs ohne Erfahrung? Das ist Unsinn! Schon bisher erzeugt die Automatisierungstechnik Restarbeitsplätze. Alles was nicht automatisierbar ist, wird von Menschen ausgeführt. Dafür, etwa für den Griff in die Kiste, ist keine Erfahrung notwendig, sondern Disziplin. Aber die Konstruktion oder Beherrschung technischer Systeme braucht Erfahrung. Lange Erfahrung, Intuition und Kreativität.

Manche meinen, man sollte nicht blindlings in eine vermeintliche neue industrielle Revolution hineinlaufen, sondern die bestehenden Technologien endlich einmal richtig kombinieren.

Wildemann: Natürlich ist erheblich mehr Potenzial für Verbesserungen da, wenn sich die Technik weiterentwickelt. Aber keiner auf der Welt kann herausragende Qualität beim ersten Mal produzieren, das ist auch eine Frage der Organisation und der eingesetzten Produktionsphilosophie. Es gibt Dinge, die über der Technik stehen.

Welches wird in 25 Jahren das wichtigere Produktionsmittel sein: Der intelligente Mensch oder die intelligente Maschine?

Wildemann: Es werden beide ihre Existenzberechtigung in den Produktionsbetrieben haben ...

Weil es mit der künstlichen Intelligenz von Maschinen, deren Durchmarsch uns fast zwei Jahrzehnte in Aussicht gestellt wurde, doch nicht so weit her ist?

Wildemann: Nach jetzigem Stand der Technik kann ich nur sagen, das Thema künstliche Intelligenz ist durch. Die Erwartungshaltung, die da in uns erzeugt wurde, ist fast auf Null gefahren. Im ganz Kleinen hat es Fortschritte gegeben und natürlich ist die Technik heute Simulationen näher, die es ermöglichen, in kürzester Zeit unterschiedliche Systemzustände zu simulieren. Aber es bedarf meist noch des Eingriffs des Menschen, ist also alles andere als echte künstliche Intelligenz.

Wie definieren Sie die Aufgaben technologischen Fortschritts?

Wildemann: Er soll die Arbeit in vielen Dingen erleichtern und neue Handlungsspielräume eröffnen, wie zum Beispiel die wirtschaftliche Gestaltung von Fabriken.

Soll er auch zur weiteren Humanisierung der Arbeit beitragen?

Wildemann: Mit Sicherheit trägt er zur Entlastung der Mitarbeiter bei, etwa dadurch, dass ergonomisch nicht sinnvolle Arbeit den Maschinen überantwortet wird. Humanisierung wäre dafür ein zu großes Wort.

Für die einen ist Technik ein Arbeitsplatzvernichter. Für andere der Retter. Ist Technik gut oder böse?

Wildemann: Technischer Fortschritt, der Arbeit einspart, muss richtig gehandhabt werden. Aber warum soll ich Technik verdammen? Sie erlaubt uns in jeder Hinsicht ein viel besseres Leben, mehr Nutzen, mehr Einkommen – das muss aber auch gerecht verteilt werden.

Die Maschinenstürmer im 19. Jahrhundert beantworteten die Frage auf ihre Art. Jetzt ist von Produktionsaufträgen, die sich vom Kunden ausgelöst selbständig durch die Wertschöpfungskette steuern, die Rede. Sehen Sie die Gefahr einer Radikalisierung durch das Diktat der Maschine?

Wildemann: Wesentliche gesellschaftliche Fragen kommen auf uns zu. Die Diskussion muss sich im gesellschaftlichen Raum abspielen. Es kann ja nicht sein, dass nur der Kapitaleigner den Mehrwert aus aus mehr Technik erhält.

Ein Roboter, der aus zwei Armen und Torso besteht, also komplett vermenschlicht ist und hundertmal schneller und genauer arbeitet als der Mensch: Sind solche Maschinen, die es bereits heute in ersten Ansätzen gibt, unredlich?

Wildemann: Wenn daran nur der Eigentümer des Unternehmens, in dem dieser Roboter im Einsatz ist, verdient, ist es gesellschaftlich natürlich ein Problem. Rein von der Technikseite sehe ich es unproblematisch. Das gibt mir doch die Zeit für fantasievolle Arbeiten.

Gutes Stichwort. Glauben Sie wirklich, dass gerade jene, die seit Jahrzehnten in einem starren Kennzahlenkorsett am Shopfloor festhängen, jetzt plötzlich kreativ werden? Also ein typischer Lean-Operations-Typ die Welt neu erfindet?

Wildemann: Es ist unwahrscheinlich, dass die Mitarbeiter auf breiter Front plötzlich kreativ werden. Aber es ist ein Prozess, der in die Gänge kommen muss. Die Erfahrungen der Vergangenheit zeigen, dass Produktivitätsschübe von fünf bis acht Prozent pro Jahr durch kontinuierliche Verbesserung möglich sind.

Zugleich sollen die Maschinen flexibler werden ...

Wildemann: Da gibt es Potenziale. Die Automatisierung im starren Sinn hat Grenzen. Von der Flexibilität des Menschen, die wir brauchen werden, um den Variantenreichtum der Produkte künftig abbilden zu können, ist die Maschine heute noch weit entfernt. Der Mensch mit seiner Motorik, seiner Intelligenz und seiner Fähigkeit, Dinge beurteilen zu können, bleibt das Vorbild.

Der Eindruck, dass immer noch in viel zu großem Ausmaß automatisiert wird, obwohl hochvolatile Märkte nicht erst seit gestern flexible Produktionsanlagen erforderlich machen, täuscht also nicht?

Wildemann: So würde ich das nicht sehen. Richtig ist, dass die Idee, Standardprodukte mit herkömmlicher Automatisierungstechnik kostengünstig herzustellen, an ihre Grenzen stößt. Das heißt aber nur, dass nun neue Flexibilität eingebaut werden muss. Das hat einen einfachen systemtechnischen Hintergrund: Alle Märkte sind jetzt miteinander vernetzt und alle wollen dasselbe: größtmögliche Effizienz.

Wir rühmen uns als aufgeklärte Wissensgesellschaft. Trotzdem tun wir uns mit Technik offenbar schwer. Sonst stünden wir nicht erst bei der vierten industriellen Revolution.

Wildemann: Große Innovationen sind immer Meinungen von Minderheiten und nicht der Mehrheit. Das Dilemma solcher Vordenker: Wenn sie uns nicht von ihren Ideen überzeugen können, bleiben sie erfolglos. Dann wird es auch mit einer Revolution nichts.

Wie schnell soll sich in 25 Jahren eigentlich die Innovationsspirale drehen? Oder wird schon Industrie 4.0 die befürchtet schwere Geburt?

Wildemann: Die erhofften Quantensprünge wird es auch in den kommenden 25 Jahren nicht geben. Es zeichnet sich aber eine stetige Entwicklung ab, wie wir sie auch schon die vergangenen 25 Jahre beobachten konnten. Die Digitalisierung wird uns viele neue Optionen eröffnen.

Horst Wildemann, 73, ist Professor an der TU München und leitet das Forschungsinstitut für Unternehmensführung, Logistik und Produktion. Wildemann, studierter Maschinenbauer und Betriebswirt, arbeitete jahrelang als Ingenieur in der Automobilindustrie. Er leitet die Unternehmensberatung TCW.