TKMS überflügelt Thyssenkrupp: Das Rüstungswunder von Kiel
Es läuft derzeit für Miguel López, den CEO von Thyssenkrupp. Der deutsch-spanische Manager, dessen Vertrag erst im Sommer vorzeitig um fünf Jahre verlängert wurde, treibt den tiefgreifendsten Umbau in der Geschichte des Traditionskonzerns voran.
Was zu schwer oder zu kapitalintensiv ist, fliegt raus. Fast alle Geschäftsbereiche werden geprüft, abgespalten – oder verkauft.
Und ausgerechnet bei der Stahlsparte, einst das Herz des Konzerns, geht es derzeit erstaunlich gut voran.
Die Gespräche mit dem indischen Interessenten Jindal Steel, den López im Sommer überraschend wieder ins Spiel brachte, verlaufen laut Reuters „intensiv“ Seit dieser Woche ist der Datenraum geöffnet – Jindal Steel bekommt nun tieferen Einblick in die Bücher von Thyssenkrupp Steel Europe.
Sein zweites Großprojekt hat López bereits agbeschlossen: Mit dem Börsengang der Tochter Thyssenkrupp Marine Systems, kurz TKMS, ist ihm der wohl spektakulärste Spin-off des Jahres gelungen.
Die Bewertung der Marine-Tochter liegt fast doppelt so hoch wie erwartet –
und macht die Werft aus Kiel heute fast so viel wert wie den gesamten Mutterkonzern.
TKMS überflügelt Thyssenkrupp: Das Rüstungswunder von Kiel
Mit Rüstungsfantasie lassen sich heute in wenigen Stunden Milliardenwerte erschaffen – zumindest könnte man das meinen, bei einem Blick auf den Börsengang von TKMS.
Am 21. Oktober betritt die Thyssenkrupp-Tochter TKMS das Börsenparkett. Der Startkurs: 60 Euro – schon das sorgt für Überraschung.
Doch dann geht alles sehr schnell: Wenige Stunden später steht die Aktie bei fast 100 Euro. Ein Kursfeuerwerk, das selbst erfahrene Analysten überrascht – und den Unternehmenswert der Kieler Werft von vier auf über fünf Milliarden Euro katapultiert.
Oliver Burkhard, einst Personalvorstand der Konzernmutter und heute CEO von TKMS, nennt sein Unternehmen selbstbewusst ein „maritimes Powerhouse Europas“. Und tatsächlich: Während Thyssenkrupp an Land schwächelt, wächst auf See ein neuer Industriegigant heran.
Doch der Erfolg hat seinen Preis: Während die TKMS-Aktie abhebt, muss Thyssenkupp-Chef Miguel Lopez, der auch die Börseglocke läuten darf, zusehen, wie der Wert seines eigenen Konzerns um fast 20 Prozent einbricht.
Mit knapp sechs Milliarden Euro Marktkapitalisierung ist der gesamte Konzern heute kaum mehr wert als seine einstige Sparte.
Ein Nullsummenspiel aus Aufstieg und Absturz – und der Beweis, dass Rüstung doch kein finanzielles Perpetuum mobile ist.
Geopolitik treibt TKMS an Kapazitätsgrenzen
Der Krieg in der Ukraine und der weltweite Aufrüstungsboom treiben die Nachfrage nach militärischer Schiffstechnik – und TKMS an seine Kapazitätsgrenzen.
Sieben von zehn nicht-nuklear betriebenen NATO-U-Booten stammen heute aus Kiel.
Neue Aufträge aus Deutschland und Norwegen füllen die Bücher: Brennstoffzellen-U-Boote, die monatelang unter Wasser bleiben können, Fregatten, Korvetten und Spezialschiffe für maritime Sicherheit.
Um die Flut an Aufträgen zu bewältigen, expandiert TKMS nach Wismar – auf das Gelände der einst insolventen MV Werften.
Bis 2030 sollen hier rund 1.500 neue Arbeitsplätze entstehen. 2027 läuft das neue Forschungsschiff Polarstern II vom Stapel, danach folgt die Fregatte F127.
Auch international wächst TKMS: In Brasilien betreibt das Unternehmen mit der Werft Estaleiro Brasil Sul eine eigene Fregattenproduktion.
Im Geschäftsjahr 2023/24 setzte TKMS 2,2 Milliarden Euro um – ein Plus von über 30 Prozent. Der Gewinn: 125 Millionen Euro. Rund 8.000 Menschen arbeiten inzwischen für das Unternehmen.
Aufträge, Allianzen, Einfluss – wenn Industrie und Politik ineinandergreifen
Nicht jeder Auftrag wird gewonnen: In Australien unterlag TKMS im Rennen um neue Fregatten dem japanischen Konzern Mitsubishi Heavy Industries – ein Auftrag im Wert von rund zehn Milliarden Dollar.
Trotzdem bleibt die Stimmung in Kiel optimistisch – auch, weil die Politik hinter dem Unternehmen steht. Verteidigungsminister Boris Pistorius setzt auf neue Partnerschaften, etwa mit Kanada.
Gemeinsam mit Norwegen soll Deutschland den NATO-Verbündeten in das laufende U-Boot-Programm der Klasse 212 CD einbinden.
Kanada will seine alten Boote ersetzen – und TKMS wittert die nächste Großchance.
Am Tag des Börsenstarts fliegt CEO Burkhard persönlich nach Kanada, um für Kiel zu werben. Es geht um acht bis zwölf neue U-Boote – Entscheidung: Frühjahr 2026.
Eine Branche zwischen Stahl, Strategie und Sicherheit
Der militärische Schiffbau ist kein Geschäft für Eile. Zwischen Auftrag und Ablieferung vergehen oft zehn Jahre. Jedes Schiff ein Unikat – Präzision, Vertrauen und Geheimhaltung sind wichtiger als Stückzahlen.
Wer hier bestehen will, braucht technologische Tiefe – und politische Rückendeckung. TKMS gehört zu den wenigen reinen Marineanbietern weltweit.
Andere – wie General Dynamics oder Fincantieri – verteilen sich breiter, vom U-Boot bis zum Kreuzfahrtschiff.
Allen gemeinsam: Sie leben von staatlichen Budgets. Denn bezahlt wird meist lange, bevor das Schiff fertig ist – über hohe Anzahlungen, die Werften Planungssicherheit verschaffen.
Unabhängig – aber nur auf dem Papier
Der Börsengang sollte TKMS unabhängiger machen – doch wirklich losgelöst ist die Werft nicht. Thyssenkrupp behält 51 Prozent der Anteile und damit die Kontrolle. Auch im Aufsichtsrat bleibt der Einfluss aus Essen groß: Konzernvorstand Volkmar Dinstuhl, der den Umbau von Thyssenkrupp mitgestaltet hat, führt seit dem Börsenstart den Vorsitz.
An der operativen Spitze steht Oliver Burkhard – ein ungewöhnlicher Rüstungschef.
Seine Karriere begann bei der IG Metall, wo er bis zum jüngsten Bezirksleiter in Nordrhein-Westfalen aufstieg. 2013 wechselte er in den Vorstand von Thyssenkrupp, zuständig für Personal, Recht, IT und internationale Regionen.
Seit 2022 leitet Burkhard nun Thyssenkrupp Marine Systems – ein seltener Aufstieg: vom Gewerkschafter zum Chef eines Rüstungskonzerns.
Er gilt als Verbinder – der zwischen Gewerkschaften, Aufsichtsrat und Verteidigungsministerium vermittelt. Sein Netzwerk soll besonders bei internationalen Aufträgen und neuen Partnerschaften helfen.
Der Börsengang selbst bringt allerdings kein neues Kapital: Er war keine klassische Aktienemission, sondern eine Abspaltung. 49 Prozent der Anteile wurden kostenlos an die Aktionäre von Thyssenkrupp verteilt.
Für TKMS bedeutet das mehr Sichtbarkeit und Eigenständigkeit – aber keine vollen Kassen. Kein Euro aus dem Aktienhandel fließt nach Kiel. Wachstum und Investitionen müssen aus dem laufenden Geschäft oder über Kredite finanziert werden.
Staatseinfluss – gewollt oder unvermeidlich?
Der Bund hat längst Interesse signalisiert, sich an TKMS zu beteiligen – möglicherweise mit einer Sperrminorität von 20 Prozent oder mehr.
Verteidigungsminister Pistorius sagt beim Baubeginn eines neuen U-Boots in Kiel:
„Dass wir wollen, steht außer Frage.“
Eine Entscheidung wird bis Jahresende erwartet. Auch die IG Metall drängt auf eine Beteiligung des Bundes – als Ankerinvestor und verlässlichen Partner.
Noch aber ist offen, ob der Staat tatsächlich einsteigt – oder den Kurs lieber dem Markt überlässt.
Kurs in unsicheren Gewässern
Für die Aktionäre war der Börsengang ein Gewinn. Für TKMS selbst beginnt jetzt die Bewährungsprobe: Eigenständig, aber weiter im Schatten des Mutterkonzerns.
Die Rüstungswelle in Europa füllt derzeit die Auftragsbücher – doch sie bleibt politisch und konjunkturabhängig.
Der Börsengang ist damit kein Ziel, sondern der Start eines Experiments: Wie viel Markt verträgt ein Rüstungsunternehmen, das vom Staat lebt? Fest steht: Der Kurs ist gesetzt – doch das Meer bleibt rau.
 
                        