Grüne Wende, graue Zukunft: Führt die Energiewende in die Dauerrezession?
Eine breite Industrieallianz läuft Sturm – gegen den Kern der europäischen Klimapolitik.
„Mit großer Sorge“, Zitat, haben sich in der vergangenen Woche in einem Brief, unterschrieben von den CEOs von 79 Industrieunternehmen – darunter Schwergewichte wie BASF, Thyssenkrupp und Evonik in Deutschland oder Voestalpine, AMAG und Lenzing aus Österreich – an die EU-Kommission gewandt.
Ihr Ziel: Druck machen gegen das zentrale Instrument der europäischen Klimastrategie –
den Emissionshandel, kurz ETS. Der stelle die Industrie vor „unlösbare Herausforderungen“, heißt es in dem Brandbrief, und gefährde die industrielle Basis Europas.
Die Energiewende steht auf der Kippe. Weil sie teuer ist. Weil sie komplex ist. Und weil sie im globalen Wettbewerb immer stärker zu Bremse werden droht.
Fragen, die noch vor Kurzem tabu waren, stehen plötzlich offen im Raum:
Können – und wollen – wir uns die grüne Transformation überhaupt noch leisten?
Allerorten werden mittlerweile in der Industrie Projekte gestoppt – und Zeitpläne nach hinten verschoben.
Für einen regelrechten Dammbruch hat Ende Juni die Entscheidung des Stahlriesen ArcelorMittal gesorgt, seine grünen Stahlpläne auf Eis zu legen – trotz 1,3 Milliarden Euro Staatshilfe. Die Begründung: „Selbst damit rechnet es sich nicht.“
BASF, Thyssenkrupp, Evonik, Voestalpine, die AMAG oder Lenzing, alljene in deren Namen in der Vorwoche der Brandbrief nach Brüssel ging, haben längst Milliarden in grüne Technologien investiert.
Eine Vollbremsung auf halber Strecke würde ausgerechnet jene bestrafen,
die sich überhaupt erst auf den Weg gemacht haben. Oder, im Klartext: Warum sollten Thyssenkrupp oder die Voestalpine weiter Milliarden in grünen Stahl investieren, wenn wenige Kilometer entfernt Arcelor Mittal einfach aussteigt – und trotzdem bis weit in die 2040er Jahre konkurrenzfähig bleibt?
Doch was, wenn sich dieses Versprechen gerade selbst verschluckt? Wenn die grüne Wende zur grauen Zukunft wird – und die Klimapolitik die Wirtschaft dorthin führt, wo sie nie hinwollte: in die Dauerrezession.
Noch deutlicher wurden die Betriebsräte der Konzerne, in einem Schreiben an den deutschen Bundeskanzler, aus dem die Wirtschaftswoche zitiert.
Wenn die Energiewende eine Operation am offenen Herzen der Volkswirtschaft sei,
dann sei sie bislang – Zitat – „gründlich misslungen“.
Die Folgen Fukushima
Es war der Moment, der die Welt veränderte – doch nicht dort, wo er geschah. Am 11. März 2011 erschüttert ein Tsunami das japanische Kernkraftwerk Fukushima Daiichi.
Ein Super-GAU. Und Japan reagiert mit Stillstand, aber nicht mit Ausstieg. Viele Reaktoren bleiben abgeschaltet, doch Japan kehrt später schrittweise zur Kernenergie zurück.
Ganz anders Deutschland: Hier wird der Unfall zum echten Wendepunkt – und Angela Merkel spricht wenige Tage später von einer „neuen Bewertung der Risiken“. Kurz darauf beschließt sie den vollständigen Ausstieg aus der Atomkraft.
Die grüne Verheißung
Der europäische Green Deal und die deutsche Energiewende, weg von Kohle, Öl und Atom sollten nicht nur das Klima retten, sondern auch eine neue industrielle Erfolgsgeschichte schreiben.
Ein grünes Geschäftsmodell made in Germany. Die Idee war bestechend:
Wer zuerst dekarbonisiert, liefert morgen die Waren und Technologien, die alle anderen brauchen. Vom klimaneutral produzierten Stahl über die effizientesten Maschinen bis hin zu Wärmepumpen, Batterien, E-Autos.
Die Transformation würde ein Fitnessprogramm für die Industrie sein. Anstrengend, teuer, aber mit großem Versprechen: Nach der Umstellung sollten Produkte aus Deutschland nicht nur effizient, sondern auch klimaneutral sein – „grün und gefragt“.
Die Industrie sollte mit steigenden CO₂-Preisen – quasi marktwirtschaftlich – zu mehr Klimaschutz gedrängt werden. Das Instrument: CO₂-Zertifikate – ein Preis auf jede ausgestoßene Tonne Kohlendioxid.
Energieintensivbetriebe Unternerhmen aus der Stahl, Chemie, Glas oder Papierbranche würden über einige Jahre kostenlose Verschutzungs-Zertifikate erhalten, die ab 2026, schrittweise, zu Marktpreisen handelbar wurden. Ein Anreiz, in effizientere Maschinen, neue Technologien und … zu investieren.
Der so genannte „Carbon Border Adjustment Mechanism“, also ein Klimazoll,
sollte verhindern, dass während der Transformation in Europa klimafeindlich produzierte Billigimporte aus China, Indien oder den USA den europäischen Markt überschwemmen.
Die Brücke die brach
Das Ziel: raus aus Kohle und Atom – rein in Sonne, Wind und Wasserstoff.
Gas, zwar fossil und damit nicht grün, aber das grünste unter den Fossilen sollte die neue, sauberere Brücke sein. Gas galt als flexibel, verlässlich – und relativ preiswert.
Auch Österreich setzte in dieser Zeit auf Gas als Übergangsbrennstoff. Nicht für Strom – den lieferte Wasserkraft –, aber für Industrie, Heizung und Fernwärme.
Rund 80 Prozent des Erdgases kamen bis 2022 aus Russland.
Verbraucht wurde es zu gleichen Teilen in Industrie, Haushalten und Kraftwerken.
In Regierungsprogrammen hieß es damals wörtlich: „Gas als Brücke in die erneuerbare Zukunft.“
Dann kam 2022. Eigentlich stiegen die Gaspreise, völlig unerklärlich damals, schon Monate vor dem russischen Überfall auf die Ukraine. Eine proaktive Drohgebärde aus Moskau. Doch im Februar 2022 eskalierte die Situation: Der Gashahn aus Russland ist zu. Gaspreise explodieren, Strompreise folgen. Die Industrie drosselt ihre Produktion, Energieintensive Betriebe kämpfen ums Überleben.
Und die letzten drei Atomkraftwerke wurden abgeschalten. Ökonomen, Industrieverbände und selbst der Bundesverband der Deutschen Industrie warnten – vergeblich. Nach Berechnungen des Fraunhofer-Instituts hätte ein Weiterbetrieb den Strompreis um bis zu 10 Prozent senken und die Abhängigkeit von französischen Stromimporten – übrigens Atomstrom! – deutlich reduzieren können.
Der Energieschock von 2022 wirkt bis heute nach.
Weite Teile der europäischen Industrie haben sich davon nicht erholt.
Deutschland und Österreich stecken tiefer in der Rezession als fast alle anderen westlichen Volkswirtschaften.
Laut Eurostat schrumpfte das deutsche BIP im ersten Halbjahr 2025 um rund 0,3 Prozent, Österreich um 0,2 Prozent – während die USA um 2,5 Prozent wuchsen und China um über 4 Prozent. Kein anderes G7-Land verzeichnet derzeit eine so schwache Industriekonjunktur wie Deutschland. Die Produktion in der energieintensiven Industrie liegt mehr als 15 Prozent unter Vorkrisenniveau – besonders betroffen: Chemie, Stahl, Papier, Glas.
Zwar sind die Gaspreise nach dem Höhepunkt von 2022 gefallen – aber sie bleiben mehr als doppelt so hoch wie in den USA und rund 70 Prozent teurer als in China.
Auch Strom ist in Europa strukturell teurer: Der durchschnittliche Industriestrompreis liegt laut IEA in Deutschland bei etwa 18 Cent pro Kilowattstunde, in den USA bei 8 Cent, in China bei 7.
Was für viele Betriebe ein temporäres Problem sein sollte, ist längst ein struktureller Standortnachteil geworden. Fabriken verlagern ihre Produktion – nach Texas, nach Polen, nach Ostasien. Zurück bleibt eine Industrie, die ihre Wettbewerbsfähigkeit Stück für Stück verliert.
Jetzt droht 2026
Und jetzt kommt der nächste Schlag. Ab 2026 greift die nächste Stufe des europäischen Emissionshandels – und sie trifft vor allem die Schwerindustrie.
Seit 2005 müssen Unternehmen für jede ausgestoßene Tonne CO₂ ein Zertifikat vorweisen.
Bisher wurden viele dieser Zertifikate kostenlos vergeben – als Schutz vor sogenanntem „Carbon Leakage“, also der Abwanderung von Produktion ins Ausland.
Doch das ändert sich jetzt: Ab 2026 müssen Industrieunternehmen schrittweise immer mehr Zertifikate selbst bezahlen.
2,5 Prozent im ersten Jahr, 5 Prozent 2027 – und danach weiter steigend. Gleichzeitig führt Brüssel den „Carbon Border Adjustment Mechanism“, kurz Klimazoll, ein.
Er soll verhindern, dass klimafeindliche Billigimporte aus China, Indien oder den USA den europäischen Markt überschwemmen. Das Problem: Für viele Exporteure funktioniert der Mechanismus nicht umgekehrt – wer in Europa produziert und ins Ausland liefert, bekommt keine CO₂-Gutschrift.
Besonders betroffen: Stahl, Zement, Chemie. Salzgitter-Chef Gunnar Groebler rechnet vor: Eine Tonne Stahl erzeugt etwa zwei Tonnen CO₂ – bei einem Zertifikatspreis von 80 Euro kostet das 160 Euro pro Tonne Stahl,
verkauft wird er für unter 600 Euro. Die Marge reicht kaum, um diese Kosten aufzufangen.
Evonik-Chef Christian Kullmann warnt: „200.000 Jobs stehen auf dem Spiel.“
Und Thyssenkrupp-Steel-Chef Dennis Grimm mahnt:
„CO₂-Kosten dürfen nicht schneller steigen, als die Transformation umgesetzt werden kann.“
Europa steht am Scheideweg. Zieht die Politik nach – oder zieht die Industrie ab?
Was als Jahrhundertprojekt begann, droht zur Jahrhundertbelastung zu werden.
Denn wenn die Energiewende eine Operation am offenen Herzen der Volkswirtschaft ist, dann entscheidet sich jetzt, ob der Patient weiterlebt – oder auf dem OP-Tisch liegenbleibt.
Brüssel weiß um die Sprengkraft – und will nachjustieren. Die Zahl der neu ausgegebenen CO₂-Zertifikate könnte langsamer sinken, die vollständige Kostenpflicht später greifen.
Doch das Ringen hat erst begonnen. Zwischen Klimaschutz und Wettbewerbsfähigkeit, zwischen politischen Zielen und ökonomischer Realität.
Am Ende steht die Frage, die niemand laut stellen will: Wieiviel bleibt vom Grünen Wandel?