Innovation am Prüfstand : Künstliche Intelligenz in der Industrie: Überschätzt oder missverstanden?

„Gute Anbieter von KI-Lösungen zeichnen sich unter anderem durch enge Anbindung an die KI-Forschung aus. Im Optimalfall sind sie selbst an Forschungsprojekten beteiligt und übersetzen diese in die Praxis“, sagt Jürgen Schmidt, CEO des Wiener KI- und Softwarespezialisten STRG. Schmidt weiß, wovon er spricht: Seit 2014 ist das um die Jahrtausendwende gegründete Unternehmen in der KI-Forschung aktiv. Zu seinen Kernkompetenzen gehört die Überführung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in praxistaugliche, wertschöpfende Anwendungen. „Wir verstehen uns als diejenigen, die eine Brücke zwischen abstrakter Erkenntnis und industrieller Wertschöpfung schaffen“, erklärt Schmidt.
Dass die Entwicklung hochspezialisierter KI-Lösungen für die Industrie auf ein solches Bridging angewiesen ist, hat mehrere Gründe. Einer der wichtigsten ist: Viele Konzepte aus der Wissenschaft wie etwa die Decision Theory existieren oft nur als theoretische Konstrukte ohne etablierte Praxisansätze. Nur ein forschungsstarker Anbieter kann solche Konzepte nutzen und so weiterentwickeln, dass sie Unternehmen helfen, ihr Risiko und ihre Kosten besser zu managen und zu erklären, warum es zu Schwankungen oder Engpässen kommt.
Alte Prognosewelt, neue Prognosewelt
Herkömmliche Prognose-Tools arbeiten häufig mit Zeitreihenmodellen. Sie lernen Muster aus historischen Daten und bleiben in dieser Logik gefangen. Für einen Industriebetrieb bedeutet das: Die Vorhersagen hängen davon ab, was in der Vergangenheit passiert ist, und können keine genauen Forecasts liefern.
Foundation Models gehen einen entscheidenden Schritt weiter und können auch auf Wissen zurückgreifen, das nicht in den zu analysierenden Daten enthalten ist, das die Modelle aber anhand anderer Daten gelernt haben. „Das macht einen gigantischen Unterschied“, erklärt Schmidt. „Bei herkömmlichen Prognose-Tools gibt es Fehleranfälligkeiten von bis zu fünfzig Prozent, da kann ich im Grunde genauso gut würfeln.“ Durch den Einsatz von KI-Modellen kann diese Fehleranfälligkeit deutlich gesenkt werden.
Kausalität oder bloß Korrelation?
Die enge Verzahnung mit der Forschung, wie sie bei STRG durch gemeinsame Projekte mit der FH St. Pölten und anderen universitären Einrichtungen sowie der Forschungsförderungsgesellschaft FFG gegeben ist, bietet auch Vorteile, wenn es darum geht, zu den ersten dazuzugehören, die von neuen Entwicklungen profitieren. Ein solcher Punkt ist zum Beispiel Causal-AI, also eine KI, die Kausalitäten erkennt und nutzen kann. Zu Causal-AI gibt es inzwischen zwar sehr viel Forschung, aber nach wie vor nur wenig an praktischer Umsetzung.
Dabei kann der Unterschied zwischen Causal-AI und klassischen Modellen gerade im industriellen Umfeld spielentscheidend sein. Ein klassisches Modell kann zum Beispiel gegebenenfalls eine Korrelation zwischen steigenden Temperaturen und Anlagenausfällen erkennen, nicht aber die tatsächlichen Ursachen dafür.
Drei ist größer als zwei?
Modelle zu entwickeln, die zuverlässig Kausalitäten von bloßen Korrelationen unterscheiden, ist nach wie vor alles andere denn trivial. Doch um einen wirklichen Mehrwert gegenüber herkömmlichen Prognose-Tools zu bieten, sollten KI-Lösungen im industriellen Umfeld gerade das tun. Solche Lösungen haben kaum etwas mit Large-Language Models (LLM) wie ChatGPT zu tun.
Generative KI-Modelle wie ChatGPT dominieren zwar die aktuelle öffentliche Wahrnehmung von KI, sind aber nur ein sehr kleiner Ausschnitt dessen, was mit künstlicher Intelligenz möglich sein kann. Für Prognosen im industriellen Kontext eignen sich solche Modelle aus mehreren Gründen nicht. Ein ganz wichtiger Punkt ist: Sie kennen keine mathematischen Konzepte. Im Grunde verfügt ein LLM nicht einmal über das Wissen, dass drei eine höhere Zahl als zwei ist. Danach gefragt werden LLMs zwar in der Regel die richtige Antwort liefern, doch nicht aufgrund des dahinterstehenden mathematischen Konzepts, sondern weil die Wahrscheinlichkeit, dass die Antwort „Drei ist größer als zwei“ stimmt, höher ist als bei der Antwort „Drei ist kleiner als zwei“.
Robuste Forecasts
Geht es um möglichst robuste Forecasts, sind mathematische Konzepte und Algorithmen aber unverzichtbar, um ein möglichst richtiges Ergebnis zu bekommen. Spezialisierte Anbieter von KI wie STRG testen dementsprechend verschiedene Ansätze, um über Cost-Functions und Risk-Minimization den besten Weg zu finden. Ein solcher Zugang wird oft auch als Agentic-AI bezeichnet.
Allgemeine LLM-Modelle wie ChatGPT haben überdies noch eine andere Einschränkung: Sie können niemals das spezifische Domänenwissen eines Unternehmens abbilden. Genau dieses Wissen ist aber notwendig, damit eine KI zutreffende Prognosen, Risikobewertungen oder Kostenberechnungen in unterschiedlichen Szenarien liefern kann. Je näher ein KI- und Softwareanbieter an der Forschung ist und die aktuellen Entwicklungen kennt, desto besser kann er Lösungen gestalten, die das domänenspezifische Wissen eines Unternehmens integrieren.
Ein solcher Anbieter kann auch dafür sorgen, dass die Rechenleistung von Zeitreihen-Modellen mit den Fähigkeiten von Sprachgenerationsmodellen verbunden wird. Dann wird es dem User möglich, Szenarien in natürlicher Sprache zu formulieren, die dann von einem auf Zeitreihen spezialisierten Modell durchgerechnet werden. Niemals sollte sich ein Industriebetrieb aber darauf verlassen, dass generische Sprachmodelle allein komplexe Finanzrisiken oder Lieferengpässe korrekt bewerten können.
Großer Helfer
Denn füttert man einem gängigen generischen LLM-Modell Zeitreihen, was oft gemacht wird, dann verarbeitet auch dieses Modell die Daten. Dort, wo es mathematisch an seine Grenzen kommt, nimmt es aber zu Wahrscheinlichkeiten Zuflucht und generiert Antworten, die zwar plausibel klingen, aber auch völlig falsch sein können. Im Business-Forecasting und industrieller Produktionsplanung ist das ziemlich das Letzte, was man haben will.
Als Quintessenz zum momentanen Stand der Dinge kann daher gesagt werden: KI ist im industriellen Kontext kein Wundermittel, aber sie kann ein großer Helfer sein und enorme Wettbewerbsvorteile mit sich bringen, wie etwa reduzierte Ausfallzeiten in der Produktion, präzisere Risikobewertungen in Lieferketten, massive Energieeinsparungen oder steigende Investitionsrenditen. Um diese Vorteile auch heben zu können, sind gute Beratung und die Implementierung einer skalierbaren ganzheitlichen Infrastruktur nötig.
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