Masaaki Imai : „Lauf nicht, wenn du erschöpft bist“
INDUSTRIEMAGAZIN: Lean Production ist in der heutigen Wirtschaft für fast jedes Unternehmen eine ökonomische Notwendigkeit. Welchen Unterschied macht es dann noch, ob sich ein Unternehmen ei fach dem Kostendruck beugt oder bewusst eine Lean-Strategie verfolgt?
Masaaki Imai: Wenn Kosten reduziert werden, gibt es die Versuchung, dabei sehr kurzfristig zu denken. Das kann aber langfristig zu Verlusten anstatt zu Einsparungen führen. Den Lean-Weg konsequent zu verfolgen, bedeutet hingegen, Prozesse zu verbessern, um gute Resultate zu erzielen. Denn nur Kosten zu senken, kann zur Folge haben, dass beispielsweise auch Ausgaben für die Fortbildung des Personals und des Managements gekürzt werden. Das ist sehr gefährlich. Lean stellt eine langfristige Strategie dar, um die Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit zu erhöhen sowie die Sicherheit, Qualität und Liefertreue. Niedrige Kosten sind das Resultat dieser Strategie, aber kein Selbstzweck. Das ist der Unterschied zum reinen Cost-Cutting.
Die Idee von Lean Production entstand lange vor der großen Digitalisierungswelle in den Fabriken. Wo sehen Sie heute eine Verbindung zwischen Kaizen und Lean Production einerseits und der sogenannten digitalen Revolution, auch Industrie 4.0 genannt, andererseits?
Imai: Der größte Einfluss der digitalen Revolution, wie zum Beispiel des Internets, besteht darin, dass Informationen sehr schnell zu sehr niedrigen Kosten geteilt werden können. Als ich 1985 mein Buch Kaizen geschrieben habe, konnte man es nur als gedruckte Ausgabe kaufen und lesen. Heute gibt es zu diesem Thema Millionen von Seiten im Internet. Das ist zwar gut, hat aber auch zur Folge, dass Fehlinformationen verbreitet werden. Man kann also sagen, dass die digitale Revolution das Volumen der Information erhöht hat, wohingegen man noch nicht sicher beurteilen kann, ob sich dadurch auch die Qualität der Information erhöht hat.
Normalerweise ist es das Management, das sich die Einführung von Lean Production wünscht. Wie kann man Mitarbeiter für Lean Production gewinnen und sie in den Lean-Prozess einbinden?
Imai: Indem man nicht von Lean Production spricht, sondern die Mitarbeiter nach ihren Ideen fragt und sie kreativ sein lässt. Die Mitarbeiter sollten nicht nur ihre Hände, sondern auch ihren Geist benutzen dürfen. Somit finden sie automatisch mehr Erfüllung in ihrer Arbeit und werden auf eine ganz natürliche Art und Weise zu Unterstützern von Lean Production. Denn auch Mitarbeiter wollen einfachere, sicherere und interessantere Arbeit.
Lange Zeit galt Japan als Benchmark für Lean Production. Wenn wir heute Europa und Japan diesbezüglich miteinander vergleichen: Sind sie noch immer so unterschiedlich? Was kann Europa immer noch von Japan lernen? Und was kann Japan vielleicht noch von Europa lernen?
Imai: Da ist es schwer, einen Vergleich zu ziehen. Was Lean Production betrifft, so gibt es heute in Europa viel mehr exzellente Beispiele als noch vor zwanzig Jahren. Trotzdem sind die erfolgreichsten und auch am längsten andauernden Beispiele für Lean Production nach wie vor in Japan zu finden. So gesehen hat Europa also noch sehr viel zu lernen. Was Japan hingegen von Europa lernen kann, ist die Mannigfaltigkeit sowie eine bessere Work-Life-Balance.
Passend zum Thema Work-Life-Balance: Verschwendungsfrei zu produzieren, wie es der Lean-Gedanke fordert, bedeutet auch, menschliche Ressourcen zu schonen. Wie können Unternehmen verhindern, dass Mitarbeiter in Burn-out oder ähnliche Symptome rutschen, weil sie übereffizient sind?
Imai: Burn-out kommt nicht daher, dass jemand „übereffizient“ ist. Vielmehr liegt es daran, dass das, was wir im Rahmen des Lean-Gedankens als „Autonome Instandhaltung“ bezeichnen, nicht eingehalten wurde. Um Burn-out zu vermeiden, müssen Menschen auf ihren Körper, ihre Emotionen hören und regelmäßig Erholungszeiten einlegen. Denn, um einen Vergleich mit dem Sport zu machen: Es ist kein Problem, schnell zu laufen. Das Problem liegt darin, andauernd schnell zu laufen, wenn man erschöpft ist. Und das größte Problem ist es, eben dieses Problem nicht zu erkennen, bevor es zu spät ist. Eine andere Art von Verschwendung menschlicher Ressourcen ist übrigens der Verlust von Wissen und Erfahrung, den ältere Mitarbeiter einbringen. Unternehmen benötigen ein entsprechendes System, um dieses Know-how im Unternehmen zu halten. Schulung und Training sollten daher mit kontinuierlicher Verbesserung einhergehen.
Bei der Einführung von Lean Production haben Unternehmen die Möglichkeit, alles unternehmensintern abzuwickeln oder aber auch externe Unterstützung heranzuziehen. Wie ist Ihre Meinung dazu?
Imai: Jeder braucht einen Lehrer. Ohne externe Unterstützung geht es nicht.
Zur Person
Masaaki Imai, 83, ist der Begründer des Kaizen-Instituts und einer der großen japanischen Lean-Vordenker. 1986 schrieb Imai sein bekanntestes Buch „Kaizen: The Key to Japan’s Competitive Success“, das seitdem unzählige Male verlegt wurde, auch auf Deutsch.