Beschaffung : Inbound Hubs: Höhere Macht

Der Aufwand war gewaltig. Nach der Räumung von bis zu 50.000 m2 externer Lagerflächen entstanden auf dem hinzugekauften Grundstück um die 47.000 m2 neuer Lagerfläche, hinzu kamen 20.000 m2 Fläche für einen Container-Yard, und parallel dazu wurden neue Bahngleise verlegt. Die Bagger, die im türkischen Cerkezköy nahe Istanbul auffuhren, sollten nicht nur hier für erhöhte Effizienz sorgen – ihr Einsatz hatte Auswirkungen auf das weit entfernte Giengen im Süden Deutschlands und letztlich auf die gesamte Struktur der Bosch und Siemens Hausgeräte GmbH (BSH).Der Marschbefehl für das schwere Gerät verdankte sich einem Masterplan, wonach die weltweit verstreuten BSH- Standorte in erster Linie intern wachsen sollten. Die Antwort des Unternehmens auf diese Vorgabe: die Einrichtung von Inbound-Hubs. Risikosteuerung Der Inbound-Hub ist ein Modell der zentralen Beschaffung für die wichtigsten Produkte, die in der Produktion benötigt werden. Die Rohstoffe werden von einer zentralen Einheit eingekauft und von dort streng nach Bedarf an die Produktionsstandorte weitergegeben. Ebenso werden die Forecasts im Inbound-Hub zentral gemanagt.„Ein Inbound-Hub kann die Effizienz in der Lieferkette von Unternehmen mit globaler Fertigungs- und Lieferantenbasis deutlich steigern“, sagt Wolfgang Schürholz, Managing Partner der deutschen Unternehmensberatung Barkawi – und erklärter Verfechter des Modells. „Eine zentrale Steuerung der Beschaffung wie beim Inbound-Hub macht dann Sinn, wenn das Unternehmen außerdem in restriktiven Beschaffungsmärkten operiert und mit einer ständig schwankenden Nachfrage kämpft. Solche Unternehmen erleben deutliche Spitzen und Täler, und daher muss immer die Frage gestellt werden: Ist das Material wirklich da, wo es gebraucht wird? Im Kern geht es bei diesem Modell also um die Risikosteuerung.“Lesen Sie weiter: "... wir verdienen damit auch noch Geld"

In gewissem Sinne läuft das Modell der seit Jahren propagierten Bewegung in Richtung Outsourcing entgegen. „Lange haben sich viele international aufgestellte Mittelständler darauf verlassen, dass der operative Einkauf bei ihren Werken vor Ort jeweils gut aufgehoben ist“, beobachtet der Logistikberater. Doch dieses Modell werde immer häufiger infrage gestellt. Supply-Chain unter Kontrolle Im Falle des Standortes Cerkezköy war dem hehren Ziel ein bodenständigeres vorgelagert: „Unsere zentrale Idee war letztlich, möglichst weitgehend vom Lkw auf die Bahn zu verlagern, und das auch noch zu günstigeren Kosten“, erzählt Torsten Genehr, der als BSH-Logistik-Direktor in der Türkei für die Fertiggeräte-Logistik sowie für Import und Lagerung des Materials verantwortlich ist.Der Hub in Giengen war schon vor der Erweiterung zum Material-Inbound-Hub der zentrale Umschlagpunkt für die Materialien deutscher Lieferanten. Jede Woche ging von hier aus jeweils ein Ganzzug in die Türkei und retour. Seit der Erweiterung fahren pro Woche zwei Züge in jede Richtung – Containerzüge statt gedeckter Züge. Sie sind rund sieben Tage unterwegs und damit annähernd auf Augenhöhe mit dem Lkw- Transport – allerdings weitgehend unabhängig von Faktoren wie Wetterkapriolen oder Streiks.„Wir haben gesagt: Das können wir besser und günstiger, und wir haben es ein weiteres Mal bewiesen“, erzählt Torsten Genehr. Es ist nicht das erste Mal, dass BSH einen Inbound-Hub einrichtet, es gibt bereits zwei derartige Hubs in Deutschland für die spanischen beziehungsweise die polnischen Fabriken. „Während alle Unternehmen outsourcen, sourcen wir ein – und trotzdem trägt sich das System nicht nur, sondern wir verdienen damit auch noch Geld.“Als zweiter Schritt ist nun auch die Übernahme von lokalem Material von türkischen Fabriken in der Türkei geplant – „ein Schritt, der notwendig ist, wenn man ihnen ermöglichen will, intern zu wachsen“. Torsten Genehr spricht von signifikanten Einsparungen, die solcherart bereits im ersten Monat lukriert werden konnten: „Die Organisation hat in den Feldern Kosten, Transparenz sowie Schnelligkeit deutlich hinzugewonnen. Vor allem aber: Wir haben erreicht, dass wir nun die komplette Supply-Chain wirklich unter Kontrolle haben.“ Fürstentümer Was retrospektiv beinahe einfach klingt, ist nicht nur mit enormem Aufwand verbunden. Auf dem Weg zum Inbound-Hub lauern auch einige Gefahren. Das Phänomen der „Fürstentümer“ etwa, wie es Wolfgang Schürholz nennt: Die Leiter der einzelnen Produktionsstandorte verlieren durch den Prozess an Kompetenzen, und das tangiert das Feld der Befindlichkeiten. Dass Produktionsstandorte nicht unbedingt immer optimal miteinander kommunizieren und einander bisweilen nicht gerne aushelfen, kann die Reorganisation empfindlich beeinträchtigen. Vor allem, wenn die Konkurrenz zwischen den Standorten seitens der Führung noch gezielt gefördert wird. „Bei manchem Unternehmen“, weiß Schürholz, „ist es bis heute so, dass ein Einkaufsmanager in Schweden sich bei Lieferengpässen mit dem gleichen Supplier auseinandersetzen muss wie sein finnischer Kollege. Diese Firmen verzichten auf Verhandlungsmacht, die sie durch Bündelung der Anfragen eigentlich hätten.“Lesen Sie weiter: Unterschiedliche Reaktionen

„Die Reaktionen auf die Implementation eines Inbound-Hub fallen manchmal sehr unterschiedlich aus“, bestätigt er. „Natürlich ist es auch ein psychologisches Problem: Die Fabrikmanager müssen Vertrauen aufbauen, dass ihr Bedarf tatsächlich immer gedeckt werden wird.“ Lokale Fürsten gebe es nicht nur im Einkauf, sondern auch in den Landesgesellschaften, ergänzt Christian Daxböck, Logistikexperte bei der Unternehmensberatung Horváth & Partner. „Das ist definitiv immer wieder ein Thema. Entscheidend ist, wie ernst Sie von Beginn an die Change-Management-Maßnahmen nehmen.“ Und Daxböck weist darauf hin, dass der Einkauf parallel zum Inbound-Hub durchaus lokal organisiert bleiben kann. „Wird der lokale Einkauf komplett aufgegeben, so besteht die Gefahr, viel kaputt zu machen – da sehr viel spezifisches, lange angesammeltes Know-how wegfällt.“ Wichtig sei in erster Linie die Abstimmung der einzelnen Bedarfe – die dann weiterhin lokal verhandelt werden können. Schritt halten mit dem Prozess Eine zentrale Frage ist auch, inwieweit die Aufbauorganisation mit dem Tempo des Prozesses in Richtung Inbound-Hub Schritt halten kann. Selbst wenn der Prozess mehr oder weniger etabliert ist, können etwa Ressourcen am falschen Platz bleiben. Das betrifft nicht zuletzt das Personal, also etwa die Frage: Wie kann man in ausreichendem Maße und rasch genug Mitarbeiter von den Fabriken in die Logistik holen?„Ein heikler Punkt ist, zugegeben, auch die Frage, inwieweit die Lieferanten für eine gewisse Zeit in Vorleistung gehen, also so lange Eigentümer der Ware bleiben, bis diese konkret in der Produktion benötigt wird“, sagt Wolfgang Schürholz. Wird der Inbound-Hub als Konsignationslager geführt, bleibt die Ware so lange Eigentum des Lieferanten, bis sie konkret in der Produktion benötigt wird. So muss weit weniger Geld für Inventories ausgegeben werden. „Das ist Verhandlungssache, aber diese Verhandlungen sind ja sehr transparent.“ „Im Grunde kann das jeder Bäcker“ Eines betonen die Experten unisono: Das Modell des Inbound-Hub ist im Prinzip nicht von der Größe des Unternehmens abhängig. Vier Fragen, meint Wolfgang Schürholz, sollten sich CEOs stellen: Hat unser Unternehmen ein weltweit verzweigtes Produktionsnetzwerk? Betreiben wir globales Sourcing oder möchten wir das künftig tun? Kann es sein, dass Materialien, die wir dringend benötigen, auf den Märkten phasenweise oder für längere Zeit knapp werden? Und: Haben wir es mit stark schwankender Nachfrage zu tun? „Es gibt mittlerweile ausgereifte Analyse-Tools, die man mit einigen wesentlichen Kennzahlen füttert, um anschließend zu simulieren, ob die Implementierung eines Inbound-Hub Ersparnisse bringen könnte – und in welcher Höhe.“Torsten Genehr beantwortet die Frage beinahe philosophisch: „Im Grunde geht es doch darum, sich prozessorientiert aufzustellen, und das ist für jedes Unternehmen sinnvoll. Die zentrale Idee ist, alle beteiligten Abteilungen in die Supply-Chain einzubeziehen, um Mehrfachbestände weitestgehend zu vermeiden – und das ist eine Idee, die auch für kleinere Unternehmen sehr interessant sein müsste.“„Indem man die komplette Supply-Chain durchgängig betrachtet, entfaltet man enorme Potenziale“, sagt der BSH-Logistiker. „Und das alles ist wirklich nicht Rocket-Science, das kann im Grunde auch jeder Bäcker – und das konnte er auch schon vor 50 Jahren.“