Plattformökonomie : Wie Alukönigstahl-Chef Stefan Grüll an einem globalen Blockchain-Standard für den Stahlhandel schraubt

Grüll Alukönigstahl
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Es gibt Momente wie aus dem Zufallsgenerator. Ereignisse, die einfach eintreten. Doch der Zufall ist auch ein Stück weit erzwingbar, weiß Stefan Grüll. In der Stahldistribution tätig, hat der ausgebildete Betriebswirt und Wirtschaftsinformatiker nicht nur ein feines Sensorium für die Anforderungen der Branche entwickelt, in der er seit 17 Jahren werkt. Er hat auch seine Vorstellungskräfte mobilisiert, wie sein Geschäft im Datenzeitalter erweiterbar ist: Immer mehr Daten ballen sich beim Stahlhersteller, den Möglichkeiten des digitalen Zwillings – einem digitalen Abbild von Prozessen und Produkten – sei Dank. Schon 2017 ließ Grüll der Gedanke an eine solche Datendrehscheibe, an ein neuartiges digitales Trägermedium für das Verteilen von Qualitätsdaten an Endverarbeiter, keine Ruhe mehr.

Stefan Grüll, Geschäftsführer Alukönigstahl, ist Speaker am Gainer-Festival vom 8. bis 10. Oktober in der Tabakfabrik Linz.

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„Wir wussten, was wir wollten, hatten aber noch keine Technologie dafür identifiziert“, sagt er. Bis ihm der angesprochene Zufall in die Hände spielt. Seine Wohnung vermietet Grüll damals gerade an einen Start-up-Gründer aus den USA, der rät ihm enthusiastisch zur Blockchain. Grüll ist vorsichtig, er lässt sich auf Blockchain-Meetings sehen, inhaliert über Wochen und Monate die Details zur Technologie. ICOs, Token, all das, was er auf Veranstaltungen sonst noch so über die Blockchain hört, lässt er links liegen.

Aber der Technologiekern überzeugt ihn, für seine Branche ein „perfect fit“ zu sein. „Unser Projekt zielt ja auf ganz traditionelle Business Use Cases ab“, sagt Grüll.

Prototyp fand Anklang

Seither nimmt Grülls Projekt rasant an Fahrt auf. Im April dieses Jahres war der Termin beim Notar, Grüll gründete die Firma S1Seven GmbH, in der fortan alle Blockchain-Aktivitäten gebündelt sind.Der Co-Gründer des Unternehmens ist in Blockchain-Kreisen kein Unbekannter: Hannes Stiebitzhofer, der unter anderem für die Wiener Blockchain-Schmiede Capacity Blockchain Solutions werkte, ist als CTO mit von der Partie. Grüll-Kompagnon Andreas Petersson bleibt als Advisor für die Systemarchitektur an Bord.

Noch Ende des Jahres soll ein lauffähiges Minimum Viable Product bei ausgewählten Branchenteilnehmern in Betrieb sein, der Name der Blockchain-Lösung – STEEL but SMART – wurde auch schon markenrechtlich gesichert. Schon bisher war die Trittfrequenz hoch. Anfang des Vorjahrs wurde mit zwei Vollzeit-Entwicklern eine Demo der Blockchain-Lösung entwickelt, die mehrere Dutzend hochrangige Teilnehmer des Kongresses „Zukunft Stahl“ – von Tata-Steel-CCO Henrik Adam bis Klöckner-Chef Gisbert Rühl – zu sehen bekamen. Das Interesse von Stahlherstellern und -händlern war geweckt, denn viele suchten genau danach: über eine „Take Rate für die Nutzung wertstiftender Daten“ (O-Ton Grüll) beim Verarbeiter Zusatzgeschäft zu lukrieren. Daten werden beim Hersteller signiert, dann werden sie sicher an den Verarbeiter übermittelt. „Der bezahlt einen Betrag 10, wovon wir 9 an den Hersteller durchreichen“, schildert er.

Branche rückt zusammen

Stahlhändler wie Klöckner könnten die Plattform komplementär nutzen. Die Duisburger bauen sich digitale Materialmarktplätze zur Unterstützung des physikalischen Handels. „Eine Grenze, die wir mit unserem Modell des Datenhandels nicht überschreiten werden“, sagt Grüll. Zunächst aber muss es gelingen, die Branche zu einen. Neben der Technologie braucht es ein Konsortium der beteiligten Stakeholder, aus Stahlherstellern, Anlagenbauern, Stahlwerken und Herstellern von Prüfgeräten für die Stahlindustrie, um ein Commitment zur Nutzung einer einheitlichen „Datenstruktur auf Basis gewisser Standards zu erzielen“, sagt Grüll.

Diese Voraussetzungen zu schaffen, sei jetzt eine der wesentlichsten Aufgaben. Aufnahme fand man unlängst etwa im in San Francisco domizilierten „Zentrum für die vierte industrielle Revolution“ des Weltwirtschaftsforums WEF. Ein Coup: Hier treffen sich Big Names aus der Unternehmenswelt und agile Fische aus der Start-up-Szene, aber auch Investoren und Gesetzgeber. Digitales Prüfzeugnis. Ein solcher Schulterschluss wäre die Voraussetzung dafür, dass später ein Geschäft auf einem Marktplatz für Qualitätsdaten – Prozessparametern oder Testergebnissen chemischer oder mechanischer Analysen – abhebt.

Als einendes Element könnte da das branchenweit genutzte Prüfzeugnis eine Rollespielen. Es ist bei Auslieferung von Stahlprodukten bindend, berücksichtigt Normen- und Branchenstandards und legt eindeutig den Ursprung eines Stahlprodukts fest. Es weist sogar Informationen zu Produkteigenschaften, Verarbeitung und Einsatzzweck auf. In seiner derzeitigen Form – Papier, Stempel und Unterschrift – hat es jedoch mehrere Nachteile. Es lässt sich zwar einscannen und als elektronisches Dokument anlegen. Doch ist es weder maschinenlesbar noch kann sichergestellt werden, „dass es nicht kopiert oder auf irgendeine Art manipuliert wird“, sagt Grüll. Dank seiner „bereits eindeutig definierten Datenstruktur“ wäre es allerdings ein guter Kandidat für die Automatisierung in der Blockchain.

„Einzelne Werkszeugnisse, die gesetzlichen Aufbewahrungspflichten unterworfen sind und Informationen zu Test- und Prüfresultaten beinhalten, sind so verknüpfbar“, sagt er. Das Ergebnis ist eine lückenlose Dokumentation der Produktionshistorie. Automatisiert – und bei Bedarf jederzeit auch wieder in Form eines PDF-Zertifikats ausweisbar. „Wir müssen zweigleisig denken“, sagt Grüll.

Beta-Tests mit Kunden und Partnern

Der nächste Schritt ist nun die Entwicklung eines Produktivsystems. „Wir entwickeln und testen eine Beta-Version mit einer ausgewählten Gruppe von Repräsentanten“, sagt Stefan Grüll. Aktuell entwickelt man auf Basis des Blockchain- Protokolls Ethereum, die Entscheidung, welches in das Produktivsystem findet, wird noch getroffen. „Es muss jedenfalls skalieren und unsere speziellen Anforderungen erfüllen“, sagt Grüll. Generell wird die Applikation aber protokollagnostisch ausgelegt sein. Denn noch ist nicht klar, welche Blockchain-Protokolle künftig das Rennen machen. „Wir sind heute mit der Blockchain dort, wo wir mit dem Internet in den 90er-Jahren waren“, sagt Grüll. Folglich müsse man in der Lage sein, dass darunterliegende Protokoll zu tauschen „und mit der Technologie mitzugehen“, sagt er.

Aus dem Kreis der Alukönigstahl-Gruppe konnte im Mai eine Seed-Finanzierung aufgestellt werden. Grülls Lösung konnte sich im März für das Go Silicon Valley-Programm – einer Technologieoffensive der Wirtschaftskammer für ausgewählte österreichische Start-ups und Spin-offs – qualifizieren. Grüll: „Wir werden diese Chance nutzen und unsere Lösung mit Experten des Google Plug&Play Tech Centers und anderen challengen.“