Gasversorgung : Gasnotlage: Deutschland definiert erstmals Abschalt-Kriterien für die Industrie

Konstruktion eines Teilstücks
der 174 Kilometer langen Unterwasser-
Gaspipeline nach Sochi in Krasnodar 2009

Gaspipeline: "In der Keramikindustrie etwa erstarren die Produktionsanlagen und gehen kaputt, wenn das Gas fehlt. Wir berücksichtigen auch die Kosten und die Dauer für die Wiederinbetriebnahme."

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In welcher Reihenfolge welche Branchen und Verbraucher im Falle einer Gasmangellage mit Abschaltungen zu rechnen haben, kristallisiert sich - zumindest in Deutschland - immer mehr heraus. Ein Kriterienkatalog der deutschen Bundesnetzagentur soll darüber jetzt Aufschluss geben. Haushalte dürfen demnach auch im Fall eines russischen Gaslieferstopps darauf vertrauen, weiter mit Gas versorgt zu werden. Zu den sogenannten geschützten Kunden würden neben Feuerwehr, Krankenhäusern, der Polizei, Schulen, Horten, Gefängnissen oder der Bundeswehr auch alle Privathaushalte gehören, sagte Müller der Zeitung.

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Ebenfalls geschützt seien alle Gewerbebetriebe mit bis zu 1,5 Millionen Kilowattstunden Gasverbrauch im Jahr, darunter Bäckereien oder Supermärkte. Hingegen müssten sich Freizeiteinrichtungen als Erstes auf Abschaltungen einstellen, zum Beispiel Schwimm- und Spaßbäder. "Wenn es zur Notlage kommt, ist es einleuchtend, zunächst im Freizeitbereich einzugreifen, bevor wir Industriebetriebe reduzieren oder abschalten, an denen ja viele Arbeitsplätze und auch wichtige Produkte hängen", so der Behördenchef.

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Im Fall von Großverbrauchern aus der Industrie richteten sich die Abwägungen "nach sechs Kriterien, mit denen wir uns den Abschaltungen nähern". Dazu gehörten die Dringlichkeit der Maßnahme und die Größe des Unternehmens. Ein Großteil des gesamten industriellen Gasverbrauchs in Deutschland entfalle auf Großverbraucher mit einem Verbrauch von mehr als zehn Megawattstunden pro Stunde. "Das sind etwa 2.500 Betriebe", sagte Müller.

Ein weiterer Aspekt seien die Vorlaufzeiten, einige Firmen brauchten mehr Zeit, um geordnet herunterzufahren. Außerdem gehe es um die volks- und betriebswirtschaftlichen Schäden: "In der Keramikindustrie etwa erstarren die Produktionsanlagen und gehen kaputt, wenn das Gas fehlt. Wir berücksichtigen auch die Kosten und die Dauer für die Wiederinbetriebnahme." Ein wichtiges Kriterium sei schließlich die Bedeutung der Versorgung für die Allgemeinheit. Das spiele zum Beispiel bei Lebensmitteln oder Medikamenten eine Rolle.

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Die deutsche Bundesnetzagentur bereitet sich vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs darauf vor, dass etwa nach einem Lieferstopp Russlands Deutschland nicht ausreichend Gas zur Verfügung hat. Während Haushalte weiter versorgt würden, richtet sich der Blick auf die Wirtschaft. Ein wichtiges Kriterium sei hier auch die Bedeutung der Versorgung für die Allgemeinheit, etwa mit Lebensmitteln oder Medikamenten, sagte Müller dem Blatt. Es sei leider nicht möglich, diese Kriterien in eine eindeutige Reihenfolge zu bringen. "Es gilt, bei geringstmöglichem Schaden die in der konkreten Situation schnellstmögliche Lösung zu finden. Einfach wird das nicht."

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Gaskraftwerke sollten zumindest in Deutschland im Fall einer Gasnotlage abgeschaltet werden, sofern sie nicht der Netzstabilität dienten, erklärte Müller in dem Interview. "Ich erwarte, dass die Kraftwerksbetreiber eine Reihe von Kohlekraftwerken wieder einsetzen können und sollten, um damit Strom zu erzeugen statt aus Gas. Das schmerzt den Klimaschützer in mir, denn die Treibhausgasbilanz verschlechtert sich."

Österreich verbraucht jährlich etwa 8,5 Mrd. Kubikmeter Erdgas, davon kommen vier Fünftel über Pipelines aus Russland. Wollte man dieses Gas durch LNG ersetzen, bräuchte man alleine für Österreich rund 80 Tankschiffe.

Ein Gasspeicher des Energiekonzerns OMV
Gasspeicher der OMV: Österreich verbraucht jährlich etwa 8,5 Mrd. Kubikmeter Erdgas, davon kommen vier Fünftel über Pipelines aus Russland, umgerechnet rund 80 LNG-Tankschiffe. - © YouTube/ OMV