Logistik : Paket folgt Empfänger

Industriemagazin Logo
© Industriemagazin

Die Vision ist faszinierend. Oder, je nach Standpunkt, erschreckend: Der Paketdienst hat Zugriff auf den Kalender im Handy des Empfängers. Die Informationen werden automatisch an die Zusteller weitergeleitet und fließen permanent in deren Disposition ein. Befindet man sich im Häuschen am Land, folgt einem die Lieferung dorthin. Ist im Kalender ein Meeting verzeichnet, erfolgt die Zustellung kurz davor oder kurz danach am Arbeitsplatz. Statt automatisch an den Wohnort geht die Lieferung also an eine „digitale Zustelladresse“. Und die Information über den leider erfolglosen Zustellversuch sieht man hoffentlich nie wieder.

Nicht zugestellte Pakete sind Gift für jeden Paketdienst. In der extrem eng getakteten Zustellung auf der letzten Meile kostet jede Verzögerung Geld. Hinzu kommt der Unmut der Empfänger, der sich besonders häufig an den „gelben Zetteln“ – welcher Farbe auch immer sie sind – entzündet.

Paket folgt Empfänger

Die Unternehmen reagieren auf das Problem mit zwei grundsätzlichen Strategien, die derzeit parallel vorangetrieben werden. Auf der einen Seite steht der Ansatz, die Empfänger die Lieferung an einem fixen Punkt in der Nähe des Wohnortes oder des Arbeitsplatzes abholen zu lassen. Sei es in Partner-Geschäften, sei es bei Abholboxen, die derzeit von mehreren Anbietern errichtet werden. Vorteil: Zustellung und Abholung werden zeitlich entkoppelt. Nachteil: Die Endkunden müssen einen gewissen Aufwand auf sich nehmen. Zudem sind die Flächen für Abholboxen im öffentlichen urbanen Raum begrenzt.

Der andere Ansatz: Das Paket folgt dem Empfänger. Der greift also direkt in die Disposition der Paketdienste ein. Vorteile: zufriedene Empfänger, weniger Zustell-Fehlversuche – und ein probates Mittel, sich über Services vom Mitbewerb zu differenzieren. Die Paketdienste bieten den Endkunden bereits heute zahlreiche Möglichkeiten, die letzte Meile zu beeinflussen: Angabe neuer Adresse oder neuer Wunschzeit bis zum allerletzten Augenblick, Angabe eines Wunschnachbarn, Abstellgenehmigung auf der Terrasse oder im Garten, Wahl eines Wunsch-Paketshops etc. Und die Angebote werden genutzt: Alleine die App der Österreichischen Post, die örtliche und zeitliche Umleitung ermöglicht, ist bereits auf rund 800.000 heimischen Handys installiert.

Rainer Schwarz, Geschäftsführer von DPD Österreich, neigt jedenfalls dem zweiten Ansatz zu: „Unser Leitgedanke ist, dass die Pakete zum Kunden müssen und nicht umgekehrt.“ Und Digitalisierung, meint Schwarz, sei der beste Weg in Richtung mehr Convenience: „Wir entwickeln alle unsere Empfänger-Lösungen genau in diese Richtung weiter.“

Wer treibt die Entwicklung?

All dies könnten jedoch nur Vorstufen einer digitalen Zustelladresse im Vollausbau sein: einer Lösung also, in der die Empfänger nicht mehr aktiv eingreifen müssten, weil die Information über ihren Aufenthaltsort automatisiert an die Zusteller geht. Martin Posset empfindet die derzeit entstehende Differenzierung zwischen „catch me if you can“ und „deliver me at home“ als äußerst spannend. Posset leitet das Mobilitäts-Labor thinkport Vienna, das vor kurzem auf Initiative der Boku und des Hafen Wien gegründet wurde. Er sieht die Umsetzung der Vision vor allem vom Kundenwunsch abhängen: „Der Leitgedanke jeder Innovation ist ja der Nutzen für die Kundinnen und Kunden. Jeder KEP-Dienst muss seine USP definieren, aber die Menschen werden die Angebote nur dann annehmen, wenn sie auch einen Nutzen darin sehen.“

Dieser Nutzen, meint er, werde sich zunächst wohl eher in Nischen zeigen. „Muss ich wirklich mit dem Lieferfahrzeug direkt zu jedem Bergbauernhof fahren? Oder reicht es den Kundinnen und Kunden, ihre Pakete gebündelt, beispielsweise nach regelmäßigen Zusammenkünften, zu bekommen?“ Am Horizont sieht er aber einen möglichen weiteren Treiber erscheinen: Sollten etwa Stadtverwaltungen auf die Idee kommen, die digitale Zustelladresse zu fördern, um Problemen wie CO2-Emission oder temporärer Flächenversiegelung zu begegnen, wäre dies natürlich ein starker Schub. Was nichts daran ändert, dass sich auf dem Weg dorthin einige beachtliche Hürden erheben.

Zwischen Datenschutz und Convenience

Hürde Nummer eins: der Datenschutz. Die Paketdienste sind ja nicht Besitzer der Endkundendaten, sie dürfen sie nur für einen klar definierten Zweck verwenden. Mit Wirksamwerden der EU-Datenschutzgrundverordnung im kommenden Frühjahr wird es noch härter – dann müssen etwa auch sämtliche Daten auf Konsumentenwunsch hin nachweisbar gelöscht werden. Die digitale Zustelladresse und ihre aktuellen Vorstufen sind also nur mit expliziter Zustimmung der Empfänger möglich. Axel Spörl, Geschäftsführer von GLS Austria, spricht von einer Balance: „Datenschutz und rechtliche Rahmenbedingungen sind für unsere Branche von zentraler Bedeutung. Gleichzeitig möchten wir unseren Kunden und Empfängern ein Höchstmaß an Convenience bieten. In welche Richtung sich schlussendlich die Balance zwischen beidem bewegen wird, hängt vor allem von der Entwicklung des Datenschutzrechtes ab.“

App oder Kalender-Zugriff?

Doch wie weit ginge die Zustimmung der Konsumenten? „Denkt man die digitale Zustelladresse zu Ende, dann müssten die KEP-Dienste auf meinen Outlook-Kalender zugreifen können“, sagt Sebastian Kummer, der Vorstand des Instituts für Transportwirtschaft und Logistik an der WU Wien. „Das wird aber wohl nicht durchsetzbar sein. Ich möchte jedenfalls ganz sicher nicht, dass irgendjemand meinen Kalender mitliest.“ Der Zugang, meint Kummer, werde ein anderer sein: „Ich denke eher, dass hier App-Lösungen entstehen werden. Über die App können die Konsumenten dann aktiv mitteilen, wann sie eine Lieferung wo entgegennehmen können. Vice versa erhalten sie ein Aviso, wann sie die Zustellung erwarten können. Und zusätzlich gibt es die Option, die Lokalisation ein- oder auszuschalten.“ Sebastian Kummer glaubt, dass die meisten User eine Lokalisation über die App erlauben würden.

Martin Posset sieht das Thema entspannter. Er selbst, erzählt er, führe einen privaten und einen beruflichen Kalender mit unterschiedlichen Berechtigungen. „Hier noch eine KEP-Checkbox hinzuzufügen, sehe ich nicht als Problem.“ Angesichts der Bereitwilligkeit der Menschen, Daten über ihre Supermarkt-Kundenkarte oder ihr Facebook-Profil weiterzugeben, werde dies also keine besondere Hürde sein, „vorausgesetzt natürlich, man kann den Nutzen darstellen und garantieren, dass die Daten sicher sind. Wenn dann jemand etwas Sinnvolles aus meinen Daten machen kann – bitte sehr!“ Ein wenig Selbstbestimmung könne man von den Konsumentinnen und Konsumenten durchaus verlangen, meint Martin Posset, „und für Menschen, die damit nicht gut umgehen können, muss und wird es Regelungen geben, die verhindern, dass sie über den Tisch gezogen werden.“

White Label

Wie weit auch immer die Entwicklung der digitalen Zustelladresse gehen wird: Eine spannende Frage ist, ob dies einzeln oder gemeinsam geschieht. Die App-Entwicklung, wie sie Sebastian Kummer erwartet, hat ja den Haken, dass man eine App pro Paketdienst laden müsste. Bei derzeit neun heimischen Express- und Paketdiensten eher unwahrscheinlich. Logisch wäre also eine White-Label-Lösung. Wie empfindlich die KEP-Dienste auf solche Ideen reagieren, zeigt sich aktuell an den Abholstationen, die jeder Anbieter nur für seine eigenen Kunden errichtet. Überraschend ist das nicht: Gerade die letzte Meile ist – weit mehr als etwa die Läger – das Heiligtum der KEP-Dienste, jener Bereich, in dem sie ihr höchstes Know-how ausspielen und sich am besten vom Mitbewerb differenzieren können. Martin Posset hält für möglich, dass der Schub von Seiten einer Community kommt: „Ich kann mir durchaus vorstellen, dass ein Startup die digitale Zustelladresse auf White-Label-Basis initiiert und entwickelt und sich die KEP-Dienste dann anhängen.“ Fast wortgleich Sebastian Kummer: „Möglicherweise wird eine solche Lösung eher aus der Ecke der Plattformen kommen – Startups wie checkrobin könnten so etwas durchaus entwickeln.“

„Die allerletzte Meile ist oft die schlimmste“

Messen lassen muss sich die digitale Zustelladresse auch an ökologischen Maßstäben. Dient sie letztlich der Verringerung des Footprints? Oder führt sie in eine ähnlich desaströse Bilanz wie Same-Day-Delivery ohne Aufpreis oder der grassierende Rücksendungs-Irrsinn? Beides nota bene Entwicklungen, die nicht die KEP-Dienstleister sondern die Versender zu verantworten haben.

„Die digitale Zustelladresse wird ökologisch desto sinnvoller, je weiter ich zurücktrete und die Logistikkette betrachte“, sagt Martin Posset. „Denn die endet ja nicht mit dem Ausstieg des Logistikers, sondern beim Konsumenten daheim. Nach der letzten Meile kommt die allerletzte Meile, und die ist ökologisch oft die schlimmste. Vor allem dann, wenn das Paket oder der Einkauf mit dem Pkw abgeholt werden.“

Wie weit die Vision gedeihen wird, ist also noch unklar. Die Richtung allerdings steht fest. „Zukünftig wird es nicht mehr nur darum gehen, dass der Kunde sein Paket ‚findet’, sondern vielmehr das Paket den Kunden“, sagt Peter Umundum, Logistik-Vorstand der Österreichischen Post. „Früher wurde der Prozess ausschließlich vom Logistiker gesteuert, danach auch zusätzlich vom Versender. Heute greift der Empfänger immer stärker in die Logistik der letzten Meile ein.“ Die Paketlogistik werde sich immer stärker danach richten müssen, wo sich die Kunden gerade aufhalten, und die wachsenden Interaktionsmöglichkeiten wiesen längst in genau diese Richtung. „Die Möglichkeiten“, sagt Peter Umundum, „sind vielfältig.“