Kurzarbeit bei Bosch, ZF & Aumovio: Wie ein 5-Cent-Chip ganz Europa lahmlegt | INDUSTRIEMAGAZIN
Selbst in chinesischen Medien gibt es kaum Intervuews von Zhang Xuezheng. Jenem Mann, den in Europa bis vor wenigen Wochen niemand kannte – und der jetzt die Bänder in Industrieunternehmen zum Stillstand bringt.
Zum Beispiel beim Automobilzulieferer Aumovio – der ehemaligen Autosparte von Continental.
Hier, im baden-württhembergischen Villingen, wo Elektronik und Software für automatisiertes Fahren und Bremssysteme entstehen, gehen die Vorräte von Nexperia Chips zur Neige. Ersatz nicht in Sicht. Die Zeichen stehen auf Kurzarbeit.
Auch bei Bosch in Salzgitter droht der Stilstand. Das Werk gilt als Leitwerk für Steuergeräte – für Motoren, Getriebe und E-Autos. Rund 100 Typteilenummern, die in über 50 Gerätefamilien verbaut werden sind vom Nexperia Engpass betroffen. Insgesamt fast drei Viertel der Produktion.
Bosch beliefert direkt VW, BMW und Mercedes. Ganz stehen die Bänder dort noch nicht, weil Bosch diese Steuergeräte auch noch aus anderen Fabriken liefert. Aber: Wenn selbst Bosch keine Nexperia-Chips mehr bekommt, zeigt das, wie tief die Störung bereits reicht. Wenn Bosch wackelt, bebt es überall.
Chip-Broker haben derzeit Hochkonjunktur: Denn auch bei ZF Friedrichshafen, Mahle oder Valeo laufen hastig gegründete Task-Forces auf Hochtouren: Man leitet Chips aus anderen Produktgruppen um, verlagert Restbestände und Organisiert Tauschgeschäfte mit Kunden und Lieferanten.
Wie kann Cent-Ware für Hersteller so wichtig sein?
Doch wie konnte es soweit kommen? Was macht Nexperia so wichtig?
Das Unternehmen produziert – unter anderem in Hamburg – so genannte diskrete Halbleiter:
kleine Bauteile wie Dioden und Transistoren. Cent-Ware. Fünf bis zehn Cent kostet ein solches Teil – klein, unscheinbar, aber essenziell.
Bis zu 500 solcher Chips stecken in einem Auto. Rund 100 in einer Waschmaschine, 30 in einer Kaffeemaschine, und oft mehr als 10 in einer elektrischen Zahnbürste.
Wenn diese Bauteile fehlen läuft nichts mehr. Aber: sie sind auch sehr einfach zu ersetzen.
Über 15.000 Produkte, davon mehr als 6000 automobiltaugliche, führt Nexperia auf seiner Website. Ganz ähnlich die direkten Mitbewerber ON Semiconductor oder Vishay Intertechnology in den USA.
Und selbst Infineon, wenige Autostunden von den Standorten der Autozulieferer entfernt, bietet fast ein Viertel der Nexperia-Produktpalette an. Und viele Chips sind technisch austauschbar.
Halbleiter, die ursprünglich für Kaffeemaschinen oder Zahnbürsten gedacht waren,
würden auch in Autos funktionieren. Und in vielen Branchen ist das völlig normal: Man greift zu Alternativen, zahlt ein paar Cent mehr – fertig. Nur in der Autoindustrie funktioniert das nicht so einfach.
Ein Problem namens Homologation
Der französische Zulieferer Valeo – Lieferant von Volkswagen und Daimler – gab nach dem Lieferstopp vorsichtig Entwarnung: In der Industrie galt lange: Leistung entsteht aus Maschinenkraft. Heute entsteht sie aus Rechenleistung. Wer Produktionsprozesse simuliert, wer digitale Zwillinge trainiert, wer Datenmengen analysiert, der steigert nicht nur Effizienz – er sichert Wettbewerbsfähigkeit.
Genau hier setzt ein neues Projekt an, das die europäische Industrie elektrisiert: NVIDIA und die Deutsche Telekom wollen in Deutschland die weltweit erste industrielle KI-Datenwolke aufbauen.
Nicht für soziale Netzwerke, nicht für Sprachassistenten – sondern für Werkshallen, Turbinen und Montagelinien. Ein Rechenzentrum als Rückgrat der europäischen Industrie.
Silizium statt Stahl: NVIDIAS Rechenfabrik für Europa
Offiziell vorgestellt wurde das Vorhaben am 11. Juni 2025 auf der Technologiemesse VivaTech in Paris.
NVIDIA-Chef Jensen Huang kündigte dort an, erstmals eine Cloud-Infrastruktur zu schaffen, die speziell auf industrielle Anwendungen ausgelegt ist.
Geplant sind rund 10 000 Hochleistungs-GPUs, Systeme vom Typ DGX B200 und RTX Pro Server – ausgelegt auf Simulation, Robotik, Fertigungsplanung und den Betrieb digitaler Zwillinge.
Ziel ist es, europäischen Herstellern Zugang zu künstlicher Intelligenz in industrieller Qualität zu ermöglichen – mit klarer Priorität auf Datensicherheit und europäischer Souveränität.
NVIDIA liefert Hardware, Software-Frameworks und das Know-how, das aus einer Wolke ein industrielles Nervensystem macht. Die Telekom wird das Rechenzentrum betreiben und verantwortet Netz, Sicherheit und Vertrieb. Der Start ist schon für Mitte 2026 angekündigt.
Doppelt hält besser: Die zweite Fabrik für BMW, Mercedes & Co
Doch warum eigentlich Deutschland? Weil hier die industrielle Nachfrage und das Ingenieurwissen aufeinandertreffen.
Etwa jenes der Siemens AG als Software- und Ökosystem-Partner. Deren Anwendungen wie Omniverse und Xcelerator sollen auf der neuen Cloud laufen.
Oder die Automobilindustrie. BMW und die Mercedes-Benz AG gelten als die Pionier-Nutzer für jene KI-gestützten Produktions- und Logistikprozesse, die im NVIDIA-Datenzentrum zukünftig laufen sollen.
Als potenzieller Großkunde wird auch der einzige Europäische Tech-Gigant an Bord sein: Bei SAP treffen Industrie-Cloud und Unternehmens-Software direkt aufeinander.
Die Idee dahinter ist schlicht, aber folgenschwer: Jeder Hersteller soll künftig zwei Fabriken besitzen – eine reale und eine virtuelle. In dieser zweiten Fabrik wird nichts geschraubt, sondern simuliert, getestet und verbessert. Jede Optimierung dort spart Ressourcen in der echten Produktion.
Für tausende Mittelständler in Deutschland und Österreich, die bisher keinen Zugang zu solcher Rechenleistung hatten, könnte die industrielle Datenwolke der Schlüssel zur Zukunft werden – oder zumindest: das Eintrittsticket ins nächste industrielle Zeitalter.
Standort-Poker: Zwischen Weißwurst und Watt
Im Sommer hieß es noch, das Rechenzentrum solle in Nordrhein-Westfalen entstehen. Doch inzwischen verdichten sich die Hinweise: Die industrielle KI-Cloud dürfte bei München gebaut werden.
Der Grund für das Gerangel im Hintergrund: ein Investitionsvolumen von rund einer Milliarde Euro. Und natürlich die Infrastruktur, die so ein Projekt braucht: Fast drei Fußballfelder voller Server – mit einem Stromverbrauch wie eine Kleinstadt.
Und das ist wohlgemerkt schon die kompakte Version – deutlich kleiner als die Hyperscale-Campusse von Google, AWS oder Meta.
Doch sollte sich München durchsetzen, entstünde dort nicht nur ein Rechenzentrum, sondern ein symbolischer Gegenpol zu den Tech-Hubs in Kalifornien und Shenzhen: Ein europäisches Datenkraftwerk – mitten in Bayern.
Daten sind das neue Öl – aber bitte mit Herkunftsnachweis
Was bedeutet das Projekt also im größeren Zusammenhang? Zum einen ist es ein Signal der Selbstbehauptung: Europa will seine industrielle Digitalisierung nicht länger auf fremder Infrastruktur betreiben.
Zum anderen zeigt es, dass Daten- und Energiepolitik künftig zwei Seiten derselben Medaille sind – denn eine industrielle KI-Cloud verbraucht so viel Strom wie eine Kleinstadt.
Die Abhängigkeit bleibt allerdings ein Thema: Die Rechnerleistung in Form von Prozessoren kommen aus den USA, die Fertigung der Prozessoren aus Asien – europäische Wertschöpfung entsteht bislang nur in Betrieb, Energie und Softwareintegration.
Trotzdem: Der Schritt ist strategisch richtig. Wer heute Rechenzentren baut, legt das Fundament für die Produktion von morgen.
Europas Industrie bekommt damit eine Chance, den technologischen Rückstand gegenüber den USA und China zumindest zu verkleinern – und den Begriff „Made in Europe“ um eine neue Bedeutung zu erweitern:
Mit der ersten industriellen Daten-Cloud der Welt die nicht zufällig in good old Germany beheimatet sein wird, beginnt Europa, die digitale Fabrik der Zukunft selbst zu bauen. Eine Cloud, in der keine Urlaubsfotos gespeichert werden, sondern die Zukunft von Produktion, Energie und Technologie. Und das ist – in einer Zeit globaler Abhängigkeiten – eine der wichtigsten Innovationen seit Erfindung der Dampfmaschine.
Man habe Ersatzlieferanten für 95 % der betroffenen Teile gefunden. Die Chips liegen bereit – aber sie dürfen noch nicht verbaut werden. Grund: Homologation. In der Autoindustrie muss jedes Bauteil, das in sicherheitsrelevanten Systemen steckt, neu getestet und freigegeben werden. Minus 40, plus 60 Grad, monatelange Vibrations- und Dauerlaufprüfungen – das volle Programm. Der Flaschenhals ist also nicht der Chip selbst, sondern die Zulassung.
Oder anders gesagt: Der Engpass liegt im Büro, nicht im Reinraum.
Ein Autobauer, eine Million Zulieferer
Derzeit herrscht Hochkonjunktur bei Chip-Brokern. Wer noch Lagerbestände hat, verkauft sie teuer oder tauscht gegen Ersatztypen. Viele Zulieferer helfen sich gegenseitig aus, ersetzen Bauteile in unkritischen Bereichen – bei Regensensoren, Lichtsteuerungen oder Fensterhebern.
Aber das ist nur Symptombekämpfung. Ein Konzern wie Volkswagen arbeitet mit rund 60.000 direkten Lieferantenwerken. Diese wiederum haben eigene Zulieferer – und die wiederum ihre. In Summe hängen weltweit fast eine Million Unternehmen an der Autoproduktion.
Wenn ein Glied reißt – reißt die ganze Kette.
Europas Backend-Problem
Eigentlich steht Europa auf dem Papier bei Produktion von Halbleitern exzellent da: Infineon ist mit 13,5 Prozent Marktanteil der weltgrößte Autochip-Hersteller, gefolgt von NXP mit 10,5und STMicroelectronics mit 8,8 Prozent. Sogar Bosch fertigt Chips.
Doch die Chipproduktion hat zwei Welten: das Frontend und das Backend.
Im Frontend – also dort, wo die Strukturen auf Siliziumscheiben entstehen – ist Europa stark: hochautomatisiert, milliardenschwer, in Werken in Deutschland, Österreich, Frankreich oder Großbritannien.
Im Backend dagegen – wo Chips getestet, vereinzelt und verpackt werden – ist Europa praktisch abgemeldet. Die großen Werke stehen in China, Taiwan und die Philippinen – Infineon lässt in Malaysien einkapseln.
Weicht Nexperia bald nach Vietnam oder Malaysien aus?
Auch Nexperia hat das Packaging nach Asien ausgelagert – und steckt jetzt genau dort fest. Die Kapazitäten in China wurden seit der Übernahme durch Zhang Xuezheng um etwa die Hälfte aufgestockt. Doch mit den Exportrestriktionen steht alles still.
Der niederländische Konzern versucht derzeit auf Packaging-Dienstleister in Vietnam oder Malaysia auszuweichen. Doch ob diese kurfristig jene Kapazitäten zur Verfügung stellen können, die Nexperia in Europa braucht ist unklar. Außerdem könnte eine Neuzertifizierung der Produkte für die Automobilindustrie notwendig werden – und das kann Monate dauern.
Feuerwehrbetrieb mit Lieferlisten
Bosch leitet Chips aus anderen Sparten um. ZF verteilt Restbestände global. Mahle bereitet sich auf Abrufstopps durch Kunden vor. Volkswagen nutzt Ersatzchips für unkritische Anwendungen.
Und die EU-Kommission verhandelt mit China über eine temporäre Exporterlaubnis, um die Versorgung zu sichern. Doch das ist alles nur Krisenmanagement – Feuerwehrbetrieb mit Lieferlisten.
Die größere Frage lautet: Wie viel technologische Souveränität hat Europa angesichts der zunehmenden globalen Spannungen?
Wenn ein einziges Unternehmen – in Nijmegen (NEIMEGEN), Hamburg und Dongguan – die europäische Autoindustrie ins Wanken bringt, dann ist das keine Lieferpanne.
Es ist ein Weckruf.