Die Nexperia-Krise: Warum Europas Chipproblem noch längst nicht gelöst ist
Dann passiert etwas völlig Unerwartetes:
Zhang bittet die niederländische Regierung, Governance-Regeln für Nexperia zu entwickeln – gegen sich selbst.
Die damalige Wirtschaftsministerin Micky Adriaansens ist irritiert. Kein globaler Tech-Konzern wird gezwungen, freiwillig politische und organisatorische Firewalls einzuziehen. Dennoch beginnen vertrauliche Gespräche: Ein niederländischer Aufsichtsrat, ein neues Governance-Gerüst und eine Art Abschottung zwischen europäischer Unternehmensführung und chinesischer Politik sollen entstehen – ohne dem Eigentümer Wingtech formale Rechte zu entziehen.
Doch das Konstrukt kommt nie zustande. Nach der Prüfung durch eine chinesische Kanzlei folgt plötzlich ein Kurswechsel. Der Rechtsvorstand sollte mit dem Ministerium neu verhandeln – doch dieser Prozess endet im Sand. Was als einmalige Transparenzgeste begann, bleibt ohne Ergebnis.
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Staatliche Enteignung? Nicht ganz.
Fast zwei Jahre später überschlagen sich internationale Schlagzeilen:
„Niederlande übernehmen Kontrolle über Nexperia“, heißt es am 30. September 2025.
Die Realität ist weniger plakativ – und zugleich brisanter.
Dem Wirtschaftsministerium liegen glaubhafte Hinweise vor, dass Technologie und Know-how aus Europa abfließen könnten. Daraufhin zieht Wirtschaftsminister Vincent Karremans ein Notfallgesetz aus den 1950ern hervor – ein juristisches Fossil –, das Nexperia einfriert:
- keine Verlagerungen
- keine überraschenden Personalwechsel
- Pflicht zur stabilen Weiterproduktion
Ein echter staatlicher Eingriff, aber noch keine Übernahme.
Die eigentliche Machtverschiebung findet vor Gericht statt.
Die Unternehmenskammer des Berufungsgerichts in Amsterdam – spezialisiert auf Firmen im Ausnahmezustand – entzieht Wingtech vorläufig die Stimmrechte und setzt Zhang als CEO ab. Und das auf Antrag des eigenen Managements.
Aufstand im eigenen Haus
Europäische Führungskräfte rebellieren gegen ihren Chef.
Der Vorwurf: Zhang habe dreifach überhöhte Bestellungen bei einer chinesischen Schwesterfirma angewiesen – eine verdeckte Finanzspritze für Wingtech, bezahlt aus Nexperia-Mitteln. Als das europäische Management eingreift, entzieht Zhang ihnen kurzerhand die Bankberechtigungen.
Wenige Tage später steht Nexperia – vertreten durch Rechtsvorstand Ruben Lichtenberg – vor Gericht. Die niederländische Regierung unterstützt die Manager sogar schriftlich und bittet um rasche Behandlung des Falls.
In nur einer Woche entscheidet die Kammer:
- CEO Zhang wird suspendiert.
- Alle Stimmrechte von Wingtech gehen an einen Treuhänder.
- Der bisherige CFO übernimmt kommissarisch die Leitung.
Der gebürtige Deutsche, jahrelang bei NXP und seit der Übernahme durch Wingtech im Führungsteam, muss nun ein Unternehmen stabilisieren, das kurz vor der Implosion stand.
Chipmangel, Diplomatie – und keine Lösung
Peking reagiert binnen Tagen. Das chinesische Handelsministerium verhängt eine firmenspezifische Exportkontrolle: Nexperia-Standorte in China und deren Subunternehmer dürfen bestimmte Chips und Baugruppen nicht mehr nach Europa liefern.
Für Europa ein Schock. Rund 70 Prozent der Nexperia-Produktion wird in China verpackt und ausgeliefert. Plötzlich stehen Bänder bei Autozulieferern still oder laufen nur im Notbetrieb. Der Chipmangel trifft ausgerechnet jene Branche, die sich von der Pandemie gerade erst erholte.
Unter dem Druck der Industrie beginnt Den Haag zu verhandeln.
Nach „konstruktiven Treffen“ mit China – und als „Zeichen guten Willens“, wie Minister Karremans betont – setzen die Niederlande die Kontrolle über Nexperia aus.
Doch die viel gefeierte diplomatische Einigung ändert faktisch nichts:
- Zhang bleibt suspendiert.
- Die Stimmrechte bleiben beim Treuhänder.
- Die Niederlande können das Gerichtsverfahren nicht beeinflussen.
- Die Exportkontrollen aus China bestehen weiter.
Europa wollte Stabilität – und bekommt einen Patt zwischen Diplomatie und Justiz.
Was passiert jetzt mit Nexperia?
Zhang Xuezheng hat weiterhin keinen Zugriff auf die Firma, die er einst vollständig kontrollierte. Die Stimmrechte liegen beim Treuhänder. Das Management ist ausgewechselt. All das liegt jetzt in den Händen der Unternehmenskammer, nicht der Regierung.
Wann das Gericht erneut verhandelt, ist offen. Es wird erwartet, dass zunächst ein offizieller Untersuchungsauftrag vergeben und ein ausführlicher Bericht erstellt wird. Erst danach fällt die nächste Entscheidung:
- Bekommt Wingtech wieder Kontrolle?
- Bleibt Nexperia dauerhaft in europäischer Aufsicht?
- Oder entsteht ein hybrides Modell zwischen chinesischem Eigentum und europäischer Governance?
Klar ist nur: Europas sensibelster Chipproduzent bleibt ein geopolitischer Brennpunkt. Ein chinesischer Konzern, der in Europa produziert – und zugleich ein Symbol für einen globalen Wirtschaftskonflikt, den Europa weder wollte noch kontrollieren kann.
Zwischen Gerichtssaal, Geopolitik und Lieferkettenkrise ist Nexperia damit ein europäisches Paradox: ein Unternehmen, dessen Zukunft stellvertretend für die strategische Verwundbarkeit Europas steht.