Konrad Paul Liessmann : "Grundlegende Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben gehen verloren"

Professor Liessmann, sowohl Sie als auch viele Industriebosse klagen darüber, dass das Bildungsniveau immer weiter sinkt, dass junge Menschen immer schlechter vorbereitet aus Schule und Universität kommen. Doch während die Wirtschaft mehr direkt verwertbares Wissen, mehr Skills, mehr Kompetenzen fordert, scheinen Sie in dieser Forderung eher den Grund allen Übels zu sehen.

Konrad Paul Liessmann Diesen Eindruck kann man gewinnen, ja. Aber monokausale Erklärungen greifen hier zu kurz. Denn es macht natürlich einen Unterschied, ob wir darüber sprechen, welche Voraussetzungen jemand braucht, der nach einer berufsbildenden höheren Schule in den Arbeitsprozess einsteigt, oder ob wir darüber sprechen, was jemand können muss, um Physik oder Altphilologie zu studieren. Jenseits dieser Unterscheidung gibt es aber die übereinstimmende Beobachtung, dass grundlegende Kulturtechniken, wie Lesen, Schreiben, Rechnen, Sich-Ausdrücken-Können, die Fähigkeit, Sachverhalte zueinander in Bezug zu setzen, heute nicht mehr in dem Maß ausgeprägt sind, wie das noch vor zehn oder zwanzig Jahren der Fall war. Und da reden wir nicht von universitärer Bildung, da reden wir von Grundschule. Ob man darüber klagen soll oder nicht, ist eine andere Frage. Wenn jeder vierte 15-Jährige nicht sinnerfassend lesen kann, dürfte aber doch etwas grundlegend schief laufen.

Vielleicht sind Techniken wie Lesen, Schreiben oder Rechnen heute einfach nicht mehr so wichtig wie früher. Immer mehr davon können uns Maschinen abnehmen.

Liessmann Da wäre ich vorsichtig. Natürlich kann man sagen: Die Bedeutung bestimmter Fähigkeiten hat sich verschoben. Um einen kaufmännischen Beruf ergreifen zu können, muss man heute nicht in dem Maße rechnen können wie früher. Jedes Smartphone kann schließlich diese Arbeit erledigen. Allerdings begibt man sich damit in eine absolut verhängnisvolle Abhängigkeit. Wer nicht mehr rechnen kann, vertraut blind seinem elektronischen Assistenten und ist ihm ausgeliefert. Das merken wir bei jenen Menschen, die kein Gefühl für Zahlen mehr haben und die jedes noch so absurde Ergebnis akzeptieren, weil sie es einfach nicht besser wissen. Die Unfähigkeit sinnerfassend zu lesen ist mitunter noch schwerwiegender. Denn unsere Gesellschaft ist reicher an Wissen als je zuvor. Aber wer nicht lesen kann, kann dieses Wissen nicht anzapfen. Auch im Internet ist die überwältigende Mehrheit an Informationen als Text gespeichert. Und schließlich: Auch wenn ich heute Texte ins Smartphone diktieren kann: Die Fähigkeit selbstständig zu schreiben, Gedanken schriftlich zu entwickeln ist ein wichtiger Teil jener Individualität, die den Menschen letztlich ausmacht. Ich weiß nicht, ob man das so leichtfertig aufs Spiel setzen soll.

Vielleicht entwickelt sich die Menschheit aber wieder in Richtung oraler Kultur, die es vor der Erfindung der Schrift gab. Als Schreiben dann immer gängiger wurde, hob die Klage an, dass die Menschen ihre Merkfähigkeit verlieren, weil sie alles aufschreiben können.

Liessmann Das stimmt ja auch. Seit man Wissen nicht mehr ausschließlich im Kopf abspeichern muss, nimmt die Gedächtnisleistung ab. Jetzt kann man sagen: Großartig, wenn wir immer mehr entlastet werden, uns immer weniger merken müssen und trotzdem permanent Zugriff auf alle nur erdenklichen Informationen haben. An die Spitze getrieben führt diese Entwicklung aber zu einer völligen Verarmung und Verkümmerung unserer Persönlichkeit. Mir graut es jedenfalls vor der Vorstellung, mich mit Menschen zu unterhalten, die ständig irgendwelche Fakten auf ihrem Smartphone nachschauen müssen, weil sie sonst gar nicht dem Gespräch folgen können. Es ist übrigens ja kein Zufall, dass Alzheimer vielen von uns als eine besonders grausame Krankheit erscheint, weil man dabei Schritt für Schritt seine Erinnerung und damit auch wesentliche Dimensionen seiner selbst verliert.

Die Möglichkeit, mühelos Tetrabytes an Wissen zu speichern, begeistert Sie offenbar wenig.

Liessmann Doch. Aber es werden Daten gespeichert, noch kein Wissen. Wissen bedeutet, Daten in ihren Zusammenhängen zu verstehen. Gleichzeitig müssen wir auch darüber sprechen, was an Wissen immer noch aneignungswert ist und was wir tatsächlich auslagern können. Oder anders formuliert: Wie viel muss ich in meinem Gedächtnis verfügbar haben, um mit der Fülle der Informationen, die im Netz zu finden sind, überhaupt etwas anfangen zu können. Dieses Problem kennt jeder, der schon einmal etwas in Wikipedia nachgeschlagen hat.

Das führt dann aber geradewegs in eine Kanon-Diskussion. Man könnte fragen, ob die aktuelle Bildungsmisere nicht daran liegt, dass es heute, anders als im 19. Jahrhundert, kein Repertoire an verbindlichem Wissen gibt, das jeder gebildete Mensch in seinem Kopf abgespeichert haben sollte.

Liessmann Zum Teil liegt es sicher auch daran. Wobei es in den Naturwissenschaften selbstverständlich auch heute einen Wissenskanon gibt, ohne den man kein einziges naturwissenschaftliches Fach studieren, geschweige denn verstehen kann. In den Kulturwissenschaften ist das anders, denn hier gibt es ja keine naturgesetzlich vorgegebenen Grundlagen. Der kulturwissenschaftliche Kanon ist stets menschengemacht und damit auch Ausdruck von Wertungen. Da geht es um Fragen wie: Ist es wichtiger die Musik von Mozart oder jene der Beatles zu kennen? Ist es wichtiger Thomas Bernhard oder Robert Musil zu lesen? Und doch braucht jede Kultur einen solchen expliziten oder impliziten Kanon als Bezugspunkt. Eine Jugend, die sich nicht am Kanon der Alten abarbeiten kann, hat wenige Möglichkeiten, zu eigenen Wertungen zu kommen. Eine wichtige Funktion jedes Kanons ist die Kritik daran. Übrigens ist der Kanon alles andere als tot: Jede Rankingliste ist nichts anderes als eine moderne Form des Kanons.

Höre ich da eine leise Verteidigung des viel gescholtenen Rankingwahns heraus?

Liessmann Keine absolute Verteidigung, denn man kann alles übertreiben. Die Lust an Rankings zeigt aber, dass Menschen offenbar so beschaffen sind, dass sie Wertungen wollen. Und auch wenn ihnen eingeredet wird, dass alles gleichberechtigt ist – man wird den menschlichen Wunsch nach Reihung und der damit verbundenen Orientierung nicht abschaffen können. Insofern finde ich es richtig zu sagen: Es ist wichtig, bestimmte Werke der Kultur und bestimmte Erkenntnisse der Naturwissenschaften zu kennen, weil sich darin das Beste manifestiert, wozu Menschen fähig sind. In diesem Sinne ist es nicht nur zumutbar, sondern wichtig, junge Menschen zum Beispiel mit Shakespeare zu konfrontieren. Oder mit der Relativitätstheorie.

Sie haben vorhin sinngemäß gesagt: Wenn der Mensch die grundlegenden Kulturtechniken verlernt, übernehmen Maschinen die Kontrolle. Vielleicht ist das ja gut so. Maschinen machen schließlich weniger Fehler als Menschen. Stichwort: selbstfahrende Autos.

Liessmann Da wäre ich mir nicht so sicher. Trotzdem ist klar, dass wir in Zukunft immer mehr Arbeit an Maschinen delegieren werden. Dennoch möchte ich mir eine Welt nicht vorstellen, in der Menschen nur noch Anhängsel von Maschinen sind. Deshalb meine ich auch, dass die Diskussion, die im Zusammenhang mit Industrie 4.0 und Künstlicher Intelligenz geführt wird, viel zu kurzsichtig ist. Da geht es um Wettbewerbsvorteile, um Standortsicherung, um Profit – alles legitime Anliegen. Viel zu wenig beschäftigen wir uns aber mit der Frage: Was werden wir tun, wenn wir kaum noch etwas zu tun haben? Stellen Sie sich Menschen vor, die nicht mehr arbeiten müssen, weder schreiben noch lesen können, keine Urteilsfähigkeit besitzen, nicht in der Lage sind, mit ihren Emotionen umzugehen, die keinerlei kulturelles Gedächtnis haben und dadurch auf ihre elementarsten Instinkte zurückgeworfen sind. Eine solche Welt kommt meiner Vorstellung von Hölle schon ziemlich nahe.

Ein Zyniker würde hingegen sagen: Super, endlich haben wir den perfekten Konsumenten!

Liessmann Wenn ein Mensch kein Wissen hat, über keine Kenntnisse verfügt, dann weiß er auch nicht, was er konsumieren soll. Die Grundbedürfnisse sind schnell befriedigt und ein Auto zu kaufen, macht auch keinen Spaß, weil das eh von alleine fährt. Was also tun? Wenn Sie nie von Leonardo gehört haben, werden Sie auch kaum das Bedürfnis verspüren, nach Paris zu reisen und sich die Mona Lisa anzusehen.

Aber ich kann mir noch immer das dreißigste Ego-Shooter-Spiel kaufen.

Liessmann Ja, wenn man will, dass die Gesellschaft in eine Form von kollektivem Idiotismus sinkt, dann kann man das durchaus anstreben. Es bleibt dann aber immer noch die Gefahr, dass mir beim 31sten Ego-Shooter-Spiel endgültig fad wird und ich das Ganze dann gern in natura sehen möchte. Dann steuern wir geradewegs in einen Bürgerkrieg.

Parallel zu Mängeln in der schulischen Grundausbildung boomt der Markt für außerschulische und außeruniversitäre Bildungs- und Fortbildungsangebote. Ein Hoffnungsschimmer oder ein weiterer Beweis, dass Schule und Universität den Menschen zu wenig beibringen?

Liessmann Beides. Natürlich zeigt dieses Phänomen, dass in der grundlegenden Ausbildung offenbar Mängel bestehen, die später kompensiert werden müssen. Das ist der negative Teil. Andererseits beweist das Interesse an Fortbildungen auch, dass die Menschen nach wie vor Wissen erwerben wollen. Und das entspricht eigentlich der Ideal-Vorstellung von Humboldt, wonach wir eine fundierte Grundausbildung brauchen, auf der basierend wir unser Wissen immer wieder erneuern und erweitern müssen.