Nachgelesen : Agil wie Apple: Diese 10 heimischen Startups digitalisieren die Industrie

IM 02/17
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Alexander Kränkl wollte alles richtig machen. Alle Annehmlichkeiten, die man sich als Mitarbeiter wünschen kann, sollte das soeben bezogene Domizil bieten: beste Lage, Komfort und natürlich Raum für Expansion. Das war 2011. Mittlerweile ist Kränkls Start-up Lineapp – spezialisiert auf die Entwicklung von Teamkommunikationssoftware – noch immer in Wien domiziliert. Von der mondänen Museumsstraße 3 in unmittelbarer Volkstheater-Nähe übersiedelte der Gründer aber in ein Quartier in einem beschaulichen Co-Workspace in Mariahilf.

Think big – dies erwies sich für den 50-Jährigen zunächst nur als bedingt richtige Strategie. „Natürlich gründet man eine Firma, um möglichst spektakulär den Durchbruch mit neuer Technologie zu schaffen“, sagt Kränkl, Vater von drei Kindern, ein durchaus energetischer Zeitgenosse. Doch erst die radikale Reduktion aufs Wesentliche – Kränkl spricht vom schnellen Verwerfen zeitraubender, schwer monetarisierbarer Projekte und die Zuwendung zu wirklich sinnvollen Dingen – brachte ihm Erfolg: Neben dem Veranstaltungswesen dürfte seine Software früher oder später auch den Werksfunk in der Industrie umkrempeln.

Neue Taktgeber

Sie denken Innovation radikal neu, pflegen oftmals die Nähe zu den Entwicklungslabors von Google oder Apple und meistern so die Herausforderungen der Digitalisierung am besten: Die Entwicklung von Produkten mit Minimalanspruch ist für Start-ups ebenso ein Erfolgsfaktor wie „Fail fast“, das schnelle Scheitern mit einer Produktidee innerhalb einer überschaubaren Zielgruppe. Längst haben Fertigungsbetriebe, die sich ihrer technologischen Vorherrschaft nicht berauben lassen wollen, erkannt: Um nicht abgehängt zu werden, müssen sie von den jungen digitalen Nerds lernen. Aber lässt sich Start-up-Thinking, zu dem die Maxime „Sorge dich nicht, lebe“ des US-Motivationstrainers Dale Carnegie viel besser passt als wöchentliche Reportings und die tägliche Arbeitsplatzoptimierung, wirklich in die Industrie übertragen?

Radikale Ideen-Entsorger

Eine höhere Schlagzahl müssen die Unternehmen erreichen, ob es ihnen gefällt oder nicht. Durch entwicklerische Schnellschüsse an Ruf und Status einzubüßen: Das ist immer noch eine quälende Sorge in der Industrie. Start-ups dagegen produzieren Ideen am laufenden Band. Und halten sich mit Entwicklungen, deren Markterfolg zumindest fragwürdig erscheint, nie lange auf.

„Schlägt eine Produktidee beim Kunden voll ein, dreht man vielleicht noch an der einen oder anderen Schraube und entwickelt das Produkt vollständig aus“, sagt Start-up-Gründer Roland Spreng- seis. Bleibt der schnelle Erfolg aus, „wird die Idee entsorgt“, so der 40-Jährige. Sprengseis ist COO beim Start-up Bluesource. Die Hagenberger, mittlerweile auf einen 38-Mitarbeiter-Betrieb herangewachsen (Sprengseis: „Wollen bis 2019 verdoppeln“) sind auf professionelle App-Entwicklung spezialisiert. Entscheidungen gehen den Mühlviertlern deutlich schneller von der Hand als Entwicklungsabteilungen vergleichbarer Dimension in Großunternehmen: Statt eine Vielzahl von Hierarchiestufen zu durchlaufen, findet Innovation viel eher zum Ziel: „Um eine Idee mit mir durchzubesprechen, braucht es im Unternehmen keine drei oder vier Unterhändler“, propagiert Sprengseis einen Organisationstyp der kurzen Wege.

Basisfunktionelle Produkte

Sogenannte „minimum viable products“ – Produkte mit Minimalanforderung – sorgen für zusätzliches Tempo. Fretello- Gründer Florian Lettner half diese Entwicklungsstrategie aus dem Methodenkoffer der Lean Start-up-Philosophie sogar, sein Geschäftsmodell um 180 Grad zu drehen. Der 30-Jährige, vor ein paar Jahren noch maßgeblich in der Entwicklung einer Software zur Bedienung einer 360-Grad-Handheld-Kamera beteiligt, sattelte um: Heute vertreibt der Spezialist für Mobile Computing und passionierte Musiker – mit fünf Jahren spielte er Schlagzeug, mit 14 Gitarre – via App- Stores ein Übungsprogramm zum Erlernen des Gitarrespielens. Weil Lettners Team auf Grundfunktionalität statt auf übertriebenen Umfang Wert legte, war der Marktstart fast ein Jahr früher möglich.

„Wir pushten die Entwicklung und gingen mit dem Produkt frühzeitig auf den Markt, um schnell User-Feedback zu generieren“, sagt Lettner. Das machte sich bezahlt: In den ersten vier Monaten knackte die Software die Marke von 75.000 Downloads, sie wurde von Google und Apple gefeatured. Angenehmer Ne- beneffekt: „Es floss kein Cent in Werbung“, sagt Lettner.

Grübeln im Kunden-Think-Tank

Dass man sich vom sogenannten Customer-Engagement vieler Start-ups eine Scheibe abschneiden kann, erklärt die große Nachahmungswelle, die solche Geschäftsmodelle derzeit erfahren. Die strikte Ausrichtung an Kundenwünschen hat etwa Helmut Lehner, Gründer des auf Machine-to-machine-Lösungen

spezialisierten Eisenstädter Start-ups Machine & Voice Communication, zum Dogma erhoben. „Wir arbeiten Kundenanforderungen nach Dringlichkeitsstufen ab“, sagt Lehner.

Sehr strukturiert geht er dabei vor, jeden Monat erfolgt ein Software-Release. Doch erst die Kombi- nation aus guter alter betriebswirtschaftlicher Sorgfalt und Innovationsmethoden wie Design-Thinking – bei Lehner ebenso eingesetzt wie vieles andere aus dem Valley – macht Start-ups so schlagkräftig. Entwicklungspartnerschaften waren gestern. Heute lotst man potenzielle Kunden in Think-Tanks und lädt zur kalkulierten Schwarmgeisterei.

Aus für die Kennzahlenhörigkeit

Freiheiten, die sich Start-ups nicht durch Kennzahlenhörigkeit zunichte machen. Kontrollsucht hat schon so manchen Innovationsprozess behindert. „Als Start- up darf man sich weder extrem viele Spinnereien noch zeitraubende Workflows leisten“, sagt Helmut Guggenbichler, Gründer des Klagenfurter Start-ups Augmensys, auf Software für mobiles Datenmanagement mit Augmented-Reality-Unterstützung spezialisiert.

Das spiegelt sich in der Besetzungspolitik der Digitalstuben wider. Statt biederer Gleichmacherei gilt die Vielfalt: Schnurren über Mitarbeiter, die der Analogkommunikation jene über elektronische Kanäle wie Skype hundertmal vorziehen oder solche, die lieber in der Teeküche ihr kreatives Potenzial ausspielen, sind in Start-ups Legion. Zugleich brechen Start-ups radikal mit den in der Industrie gängigen Karrieremustern: So hat etwa Augmensys-Gründer Helmut Guggenbichler kein Problem damit, einen Softwareentwickler mit 20 Jahren Erfahrung einfach mal so ins Servicegeschäft zu stecken – im Gegenteil: „Das tut allen Beteiligten gut“, ist er überzeugt.

Kanban & KVP als reine Lehre

Selbst jene Methoden, für die Innovati- onsmanager klassischen Zuschnitts ihre Hand ins Feuer legen würden, interpretieren junge, quirlige Start-up-Schmieden radikaler. Beispiel Kanban. Die Grundprinzipien der Innovationsmethode – in vielen Entwicklungsabteilungen ebenso wie auf Shopfloors und in der Qualitätssicherung großer Unterneh- men längst Realität – machen sich auch Start-ups in der kollaborativen Softwareentwicklung zu eigen. Mit einem Riesenunterschied allerdings: Man versteht das Toolset zur Prozesssteuerung in seiner reinen Lehre – und hat es befreit von Management-Schlacken.

„Bekleidet einer in einem Unternehmen die Funktion eines Kanban-Managers, läuft schon per definitionem etwas falsch“, glaubt ein Start-up-Unternehmer. Selbiges gilt für den kontinuierlichen Verbesserungsprozess. Den leben Unternehmen tagtäglich – und auch Innovations- tage gehören in der Industrie zum guten Ton. Aber wer stellt dann wirklich – wie es ein heimisches Technologie-Start-up tut – sechs Mal im Jahr alle Mitarbeiter frei und lässt sie in voller Belegschafts- stärke zum Ideenpitch antreten?

Simple Konzepte

Der Erfolg gibt den Start-ups recht. Mit agilen Projektmanagement- und Entwicklungsmethoden wie Scrum – der schnellen Softwareprogrammierung in kurzen, effektiven Sprints – bringen sie Innovationen schnell dort auf den Markt, wo sie das Zeug zum Kracher haben. Vorausgesetzt, eine simple Grundidee liegt ihnen zugrunde. Wie jener Sensorhaut für Industrieroboter, mit der vier Wiener Gründer derzeit in der Fertigungswelt Beachtung finden: Schaffen große Roboterkonzerne die Transformation zu Anbietern kollaborativer Automatisierungskonzepte nur mit horrendem Mitteleinsatz und einem entwicklerischen Kraftakt, folgt das Start-up Blue Danube Robotics der Maxime „Keep it simple“. Das Konzept eines taktilen Sensors lag eigentlich schon in der Schublade – leicht abgewandelt hat es nun in verschiedensten Branchen das Zeug zum Geschäftsmodell.

Im April zeigen die Wiener die Lösung auf der Hannover Messe. Die Einfachheit des Produkts gibt Mitgründer Walter Wohlkinger die Gewissheit, mit der Entwicklung demnächst wohl auch im Consumer-Bereich – Haushalts- und Assistenzrobotik gelten als gewaltigeWachstumsmärkte – gute Karten zu haben. Auch andere Start-ups denken vernetzt. Das Salzburger Start-up IcoSense, Problemver- steher bei Digitalisierungsprojekten, bietet Kunden Design-Thinking-Workshops, „bis es klick bei ihnen macht“. Das hindert Gründer Manfred Ausserbichler freilich nicht, im März ein Standard-Softwareprodukt für die Echtzeiterfassung von Leistungskennzahlen bei Produktionsmaschinen zu launchen.

Valley-Kommunarden

Voraussetzung für den Erfolg ist die Netz- werkpflege. Die Nähe zu den einschlägigen US-Entwicklungslabors, zu Treibern schlauer Algorithmen macht das kalifornische Silicon Valley für Start-ups zur Topadresse. In Sunnyvale, Kalifornien, unterhält das Hagenberger Start-up Bluesource ein halbjährig besetztes Büro – Gründer Roland Sprengseis begründet die Entscheidung mit dem technologischen Mehrwert, den die Präsenz vor Ort bringt: „Wer dort ist, erhält vorab Einblick, wie Entwicklungen wie die Apple Wallet funktionieren“, sagt er. Auch Michael Nader- hirn, Gründer und CEO des Mechatronik-Start-ups NM Robotic, hat neben dem Firmensitz in der oberösterreichischen 3.000-Seelen-Gemeinde Waldhausen im Strudengau ein Standbein in den Staaten, genauer: Los Angeles. „Ich bin nicht nur wegen der Sonne hier, das können Sie mir glauben“, sagt der 42-Jährige verschmitzt.

Zu seinem Beraterstamm zählen neben nationalen und internationalen Koryphäen für Datenverarbeitung auch zwei Digitalisierungsspezialisten der US-Eliteunis Stanford sowie MIT – und in Übersee kann der Spezialist für autonomes Fahren, mobile Robotik und Sicherheitsalgorithmik (O-Ton: „Wenn ich nicht tüfteln darf, wird mir schnell langweilig“) erste Reihe fußfrei Elon Musks Feldversuche mit Tesla studieren.

Partner auf Zeit

Allzu planbar sind die Karrieren und Wege von Start-ups ohnehin nicht: Ende 2015 übernahm ein großer heimischer Energieproduzent einen 40-Prozent-Anteil an der Wiener Solartechnikfirma 3F Solar Technologies, 2012 in einer unbeheizten Skateboard-Werkstätte im 18. Wiener Gemeindebezirk gegründet. Zum Jahreswechsel trennten sich die Wege der beiden Unternehmen, wie 3F-Gründer Alexander Friedrich erzählt. Auf den Partner will Friedrich, 36, kein böses Wort kommen lassen – das Unternehmen zeichne „Handschlagqualität“ aus, sagt er rückblickend. Letztlich gingen die Zielvorstellungen – vor allem jene zur Markteintrittsgeschwindigkeit – nach Friedrichs Meinung wohl beiderseits auseinander.

Jetzt setzt Friedrich auf die Partnerschaft mit dem oberösterreichischen Solarkollektorenhersteller Gasokol. Auch diesmal könnte es wieder schnell gehen: Nach Aussage Friedrichs gebe es durchaus „Verflechtungsvorstellungen“.

Dieser Artikel wurde bereits im Februar 2017 veröffentlicht. Nun haben wir ihn für alle Leser freigegeben.