Weltwirtschaft 2024 : Wie sich Europa neu erfinden kann – und muss

Was ist Europas Rolle in der Welt?

Was ist Europas Rolle in der Welt? Und: Kann es eine neue Rolle einnehmen?

- © Sono Creative - stock.adobe.com

Die Geschichte lehrt uns nicht, wie die Zukunft wird, sondern nur, dass nichts so bleibt, wie es ist.

Europas Rolle in dieser Welt aus seiner reichhaltigen und langen Vergangenheit abzuleiten, nutzt wenig, vor allem, weil wir dazu neigen, die Historie nostalgisch zu verklären. Wem in der Gegenwart die Zukunftsaussichten fehlen, sucht diese paradoxerweise in der Vergangenheit und stilisiert sie zu einer Welt, in der angeblich alles besser war. Doch die guten alten Zeiten, die wir uns gerne ausmalen, haben so nie existiert und eine Rückbesinnung auf diese ist für die politische Gegenwart oft fatal. Es bleibt nichts, wie es ist, auch was die Rolle Europas in dieser Welt anbelangt.

Nie mehr die wichtigsten Nachrichten über Österreichs Wirtschaft und Politik verpassen. Abonnieren Sie unseren wöchentlichen Newsletter: Hier geht’s zur Anmeldung!

Folglich macht es auch wenig Sinn, Europas gegenwärtige Stellung an seiner Vergangenheit zu messen. Europas Anteil am globalen BIP betrug vor rund 150 Jahren einmal fast 80 Prozent. In den 1980er Jahren waren es immer noch gut 25 Prozent.  Aktuell beträgt der Anteil der Europäischen Union (EU-27) am kaufkraftbereinigten globalen Bruttoinlandsprodukt (BIP) laut IWF im Jahr 2023 rund 14,46 Prozent.

Für das Jahr 2029 wird der Anteil der Europäischen Union am kaufkraftbereinigten globalen BIP auf rund 13,2 Prozent prognostiziert. Augenscheinlich ein dramatischer Wohlstandsverlust. Die gute Nachrichte: er ist nur relativ. D.h. in absoluten Zahlen ist der Wohlstand in Europa stetig angewachsen und ist heute auf einem historischen Höchststand, wenngleich er seit einigen Jahren wieder rückläufig ist. Was aber passiert ist – und das ist für die Menschheit insgesamt sehr wünschenswert – viele andere Nationen haben inzwischen beim Wohlstand kräftig aufgeholt.

Europa ist nicht mehr der alles bestimmende ökonomische Nukleus, der er einst für die Weltwirtschaft war. Auch die USA - unser Big Brother über den Atlantik – sind das nicht mehr. Und objektiv betrachtet ist das keine schlechte Entwicklung, nicht einmal für uns Europäer, denn die Nationen dieser Welt begegnen sich zunehmend auf Augenhöhe. Das schafft Herausforderungen und Probleme, vor allem für jene Zeitgenossen, die die neuen geopolitischen Gegebenheiten intellektuell nicht zu erfassen vermögen. Die Frage ist, können wir uns mit den neuen geopolitischen Realitäten abfinden, oder streben wir zwanghaft zurück in die Vergangenheit und versuchen einen Status zu restaurieren, der längst passé ist. Letzteres wird uns nicht gelingen.

Europa ist nicht mehr der alles bestimmende ökonomische Nukleus, der er einst für die Weltwirtschaft war

Geopolitische Pentarchie

In der neuen multipolaren Weltordnung findet sich Europa in einer Pentarchie der Mächte zwischen USA, Russland, China und Indien wieder. Der bekannte deutsche Politologe und Historiker Herfried Münkler beschreibt eine solche Konstellation in seinem neuen Buch „Welt in Aufruhr – Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert“ als Möglichkeit, für stabile Verhältnisse zu sorgen. Ordnungsverhältnisse, die auf das Gleichgewicht zwischen fünf Mächten beruhen, haben sich historisch als günstig erwiesen.

So habe sich laut Münkler etwa nach dem 30-jährigen Krieg oder auf dem Wiener Kongress 1814 jeweils ein Gleichgewicht von fünf zentralen Mächten etabliert. Die Zahl fünf scheint optimal zu sein, weil bei einer Zahl von drei immer die Gefahr bestehe, dass sich zwei gegen den Dritten verbünden. Ein gutes Beispiel dafür seien die Verhandlungen zwischen Großbritannien, dem Deutschen Reich und der Sowjetunion vor dem Zweiten Weltkrieg. Bei sieben oder mehr Mächten ist die Situation dagegen zu unübersichtlich. Von größerer Bedeutung für die heutigen Überlegungen wäre die Pentarchie, die durch den Westfälischen Frieden von 1648 geschaffen wurde.

Anfangs bestand diese aus Schweden, England, Frankreich und Spanien. Mit der Zeit stießen auch Russland und Preußen anstelle von Spanien und Schweden dazu. Nach einer Periode voller Gewalt, die durch die Französische Revolution ausgelöst wurde, konnte im 19. Jahrhundert durch den Wiener Kongress in Europa noch einmal Frieden geschlossen werden. Schauplätze brutaler Massengewalt waren im Zeitalter des Imperialismus die Kolonien. Wirklich gescheitert ist diese Pentarchie erst nach mehr als zweieinhalb Jahrhunderten, im Sommer 1914.

Das heißt nicht, dass es in Zeiten einer Pentarchie keine Kriege gegeben hätte, aber es herrschte ein relatives Gleichgewicht und ermöglichte stets eine Verhandlungslösung.

Europa tut sich schwer, zu akzeptieren, wenn andere Mächte die Potenz haben, ihre Ordnungsvorstellungen durchzusetzen

Indien als Zünglein an der Waage

Münkler glaubt, dass auch in Zukunft von einer Pentarchie auszugehen ist, die dazu beitragen könnte, dass die Welt friedlicher wird. Auf der einen Seite die USA und die EU, auf der anderen Seite Russland und China. Der Intermediär zwischen der demokratischen und der autokratischen Seite könnte die aufstrebende Weltmacht Indien sein, die aktuell noch in beide Welten tendiert.

Einerseits ist das Land als bevölkerungsreichste Demokratie der Welt im Werte-Lager des Westens. Auch hat sich Indien sehr klar marktwirtschaftlichen Regeln verschrieben. Dennoch tendiert das Land gerade unter Premierminister Narendra Modi auch ins autoritäre Lager. Die Beziehungen zwischen Europa und Indien werden daher in den nächsten Jahren von immenser Bedeutung sein. Nicht nur wirtschaftlich, sondern vor allem auch geopolitisch.

Neuordnung internationaler Organisationen

Entscheidend für die multilateralen Beziehungen und das Etablieren einer funktionierenden Pentarchie wird ein neues Format für den Ausgleich der Interessen zwischen diesen Mächten sein. Und das könnte gerade für Europa die schwierigste Übung werden. Europa ist es gewohnt, seine Vorstellung einer Weltordnung durchzusetzen und anderen Nationen „aufzudrängen“.

Wie der bekannte deutsche Politikwissenschaftler und Professor für Internationale Politik in München betont, können gerade Demokratien gegenüber Nicht-Demokratien ein besonders aggressives Verhalten entwickeln. Europa (bzw. der Westen) tut sich folglich sehr schwer, zu akzeptieren, wenn andere Mächte die Potenz haben, ihre Ordnungsvorstellungen durchzusetzen.

Europa wird lernen müssen, damit umzugehen. Eine Neuordnung internationaler Organisationen scheint dabei überfällig. Nicht nur der UN-Sicherheitsrat wird in seiner Besetzung den neuen geopolitischen Realitäten nicht mehr gerecht, sondern auch Institutionen wie die Weltbank, der IWF oder die Vereinten Nationen selbst. Nicht umsonst entwickeln die BRICS-Staaten auf multiplen Ebenen gerade ein institutionelles Gegenmodell zu westlich orientierten Strukturen.

Die Frage wird sein, versteht sich Europa lediglich als atlantischer Brückenkopf eines Werte-Westens im Verbund mit den USA

Europas „komplizierte“ Geografie

Um beim Ausgleich der Mächte überhaupt eine Rolle spielen zu können, muss Europa seine Interessen erst einmal selbst definieren. Nach den Gesetzen der Geopolitik bestimmt maßgeblich die Geografie eines Landes bzw. eines Kontinents, welche natürlichen Interessenssphären vorliegen. Bei Europa ist das kompliziert. Geografisch als verschnörkeltes Anhängsel von Eurasien am Rande des Atlantiks und durch das Mittelmeer gleichsam verbunden wie getrennt mit Afrika und dem Nahen Osten überlappen sich die Interessenssphären stark.

Einst führte diese geografische Rolle dazu, dass sich die Europäer als Mittelpunkt der Welt verstanden, wovon die bis heute gängige Mercator-Projektion der Weltkarte Zeugnis abliefert. Für die USA ist man allerdings Brückenkopf und für China, Russland und Indien bestenfalls eurasische Peripherie.

Hinzu kommt die komplizierte Geografie Europas nach innen. Die Frage wird sein, versteht sich Europa lediglich als atlantischer Brückenkopf eines Werte-Westens im Verbund mit den USA, oder schafft sich ein vereintes Europa eine inklusive Machtprojektion, die sowohl nach Westen, Osten und Süden wirkt. Nur eine Integration aller drei Interessenssphären scheint für Europa langfristig vielversprechend.

Von Soft- zu Hardpower

Letzteres birgt das größere Risiko, eröffnet aber auch das wesentlich größere Wohlstandspotenzial. Dafür muss Europa aber souveräner werden, sich von der Abhängigkeit fremder Mächte emanzipieren. Wirtschaftlich, politisch als auch militärisch. Dazu gehört, dass Europa, respektive die EU, eine Kehrtwende in der Standortpolitik hinlegen. Investitions- und Produktionsfreundliche Bedingungen schafft, Kapital anzieht sowie selbst in der Welt verstärkt wieder als Investor auftritt und sich eine Peripherie der wirtschaftlichen Zusammenarbeit schafft.

In Energieunabhängigkeit und Grüne Technologien zu investieren, stärkt dabei die Resilienz. Technologische Lösungen ermöglichen die Abhängigkeit bei Rohstofflieferungen zu verringern. Auf politischer Ebene wird Europa der Projektion seiner Softpower, seiner humanistischen Freiheitswerte, die ausgerechnet in der US-amerikanischen Verfassung erstmals so klar und deutlich niedergeschrieben wurden, mehr Ausdruck verleihen müssen. „Life, liberty and the pursuit of happiness“ ist ein europäisches Versprechen, das aus der humanistischen Aufklärung entsprungen ist.

Der Umstand, dass Europa der einzige Erdteil ist, der eine solche, auf das Lebensglück, die Rechte und die Würde des Individuums gründende Freiheitsvorstellung hervorbrachte, besitzt vermutlich nach wie vor die größte Sendungskraft, die dieser Kontinent hat. Diese Softpower muss seinen Wirkungsradius wieder deutlich ausdehnen, wozu wirtschaftliche Potenz und Souveränität ein Mittel sein können, die Europa nun aufbauen muss. Militärische Stärke in ähnlich hegemonialer Weise wie die USA anzuwenden, beschwört zu vieles aus der europäischen Vergangenheit hervor und wird mehr Mauern errichten als Türen öffnen.

Ausgleich und Balance verbunden durch regelbasierten Wettbewerb und Kooperation können von Europa ausgehen

Wettbewerb ohne Bedrohung

Europa kann nicht als Hegemonialmacht wie die USA auftreten. Das scheitert an diversen Gründen, allen voran, dass eine solche militärische Struktur, wie sie die Vereinigten Staaten besitzen, für Europa undenkbar ist. Wie die Geschichte zeigt, ist Wettbewerb unter den Staaten, der zu hegemonialen Ansprüchen führt, letztendlich ein Weg in den Konflikt. Das hat Europa mit zwei Weltkriegen deutlich gemacht.

Die Europäische Union hat aber auch der Menschheit einen alternativen Weg aufgezeigt, der Wettbewerb durch Kooperation und Fortschritt fördert. So wie die Staaten der EU auf vielen Ebenen kooperieren, kann Europa auch mit seinen internationalen Partnern agieren. Internationale Handelsabkommen, die Schaffung erweiterter Wirtschaftszonen, etwa rund um das Mittelmeer, sind geeignete Wege für Europa, um ökonomische und politische Inklusion zu fördern.

Europas neue Erzählung

Die größte Schwächung geht allerdings von Europa selbst aus. Die nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte Erzählung von Freiheit, Friede und Wohlstand ist erodiert. Kolonialismus, Faschismus und Diktatur belasten als dunkle Kapitel unserer Geschichte das Europäische Selbstbewusstsein. Die Hoffnungen unserer Großväter und Großmütter nach einer friedlichen Zukunft sind spätestens mit dem Angriffskrieg Russlands in der Ukraine zerplatzt. Doch Europa als Friedensprojekt das Freiheit, Wohlstand und Fortschritt bringen, ist immer noch die verheißungsvollste Erzählung, die der Kontinent zu bieten hat. Sie muss nur mit neuem Schwung wiederbelegt werden.

Die Lösung des Ukraine-Krieges wird dazu ein historischer Test sein. Gelingt es durch eine Verhandlungslösung unter Einbindung dritter Mächte wie China und Indien, eine neue Friedensordnung zu etablieren, die keinen revisionistischen Akteur zurücklässt? Das Zeitfenster mit der Friedensinitiative in der Schweiz scheint gegeben. Oder verfällt man weiter in alte Muster, die letztendlich in der militärischen Eskalation enden werden.

Europa kann die Rolle des rationalen Vermittlers unter den Weltmächten einnehmen, der die Spirale der hegemonialen Bestrebungen zu durchbrechen vermag. Ausgleich und Balance verbunden durch regelbasierten Wettbewerb und Kooperation können von Europa ausgehen. Und so ließe sich das europäische Versprechen von Frieden, Freiheit und Wohlstand wieder exportieren. Weltweit in Vielfalt geeint.

Doch dazu muss Europa sowohl seinen selbstschädigenden bürokratischen Paternalismus ablegen als auch seine geistige Selbstgeißelung überwinden. Das humanistische Denken ist das größte Kapital, das dieser Kontinent der Welt zu bieten hat.

Doch Europas neue Rolle in der Welt wird sich der Realität anpassen müssen. Gemessen am Anteil der Weltbevölkerung wird auch Europas wirtschaftliche und politische Bedeutung relativ zu den neuen aufstrebenden Mächten schwinden. Um das zu akzeptieren, müssen wir aufhören, Europa an seiner Vergangenheit zu messen. Eine Erzählung beginnt schließlich mit den richtigen Worten und Worte haben die Macht neue Vorstellungen in die Köpfe der Menschen zu bringen.