Interview : ZF-Chef Scheider: „Es geht um einige Tausend Stellen"

© ZF Friedrichshafen AG

ZF Friedrichshafen schickt sich an, Continental vom zweiten Platz unter den europäischen Autozulieferern zu verdrängen. In diesem Jahr peilt ZF einen Umsatz zwischen 37 und 39 Milliarden Euro an. „Es wird wohl eher am oberen Rand der Prognose sein“, sagte ZF-Chef Wolf-Henning Scheider im Interview mit dem Handelsblatt wenige Tage vor Bekanntgabe der Halbjahreszahlen. Auch beim operativen Ergebnis erwartet er, das Ziel von 4,5 bis 5,5 Prozent Umsatzrendite zu erreichen. Im vergangenen Jahr war der Umsatz noch pandemiebedingt um 11 Prozent auf 32,6 Milliarden Euro eingebrochen, die Rendite sank von 4,1 auf 3,2 Prozent.

Zudem will der Stiftungskonzern künftig den Nutzfahrzeugmarkt dominieren: „Zum Jahresende wird unsere neue Nutzfahrzeugdivision mit 30.000 Beschäftigten stehen. Wir schaffen gerade den weltweit größten Zulieferer für Nutzfahrzeuge“, sagte Scheider. Die Integration des Bremsenherstellers Wabco sei dann abgeschlossen. Demnächst soll die Führungscrew der neuen Sparte ernannt werden.

Wie die gesamte Autobranche steckt auch ZF in der harten Transformation zur Elektromobilität. Die neuen Klimaziele der EU, die einem Verbot von Verbrennungsmotoren ab dem Jahr 2035 gleichkommen, sieht Scheider kritisch: „Es wird sehr schwer sein, die Balance zwischen Klimaschutz, Beschäftigung und den Mobilitätsbedürfnissen der Menschen herzustellen.“ Gleichwohl sei der Abbau von einigen Tausend Stellen „wohl gerade noch sozialverträglich machbar. „Sollten die Ziele bis dahin noch weiter verschärft werden, würde der Wandel nicht mehr im Dialog und auch nicht ohne betriebsbedingte Kündigungen gehen“, mahnt Scheider.

Gleichzeitig will der ZF-Chef alle Divisionen künftig noch viel stärker durch Software und Digitalisierung miteinander verknüpfen. „Wir orientieren uns an Tesla, Apple und Microsoft und denken von der Software her, die das gesamte Unternehmen und letztendlich ja auch unsere Komponenten im Fahrzeug vernetzt.“ Das verändere das gesamte Unternehmen.

Wie sehr hat ZF das Hochwasser getroffen?

Unser Werk in Ahrweiler, in dem wir mit 280 Beschäftigten Komponenten für adaptive Stoßdämpfer fertigen, stand zwei Meter unter Wasser. Zum Glück wurde niemand verletzt. Ein Teil der Nachtschicht konnte rechtzeitig evakuiert werden. Sieben Mitarbeitern war aber der Weg nach draußen versperrt. Sie harrten über Nacht im Werk aus und wurden am nächsten Tag aus ihrer Lage befreit. Wir haben ein Spendenkonto für die betroffenen Anwohner eingerichtet, auf das ZF und unsere Mitarbeiter in Deutschland spenden werden. Es gibt eine besondere Solidarität in unserem Unternehmen.

Wie hoch ist der Schaden?

Das ist noch nicht absehbar. Wir versuchen, die Auswirkungen auf unsere Kunden möglichst gering zu halten. Wann wir wieder produzieren können, ist noch offen.

Von den Auswirkungen des Klimawandels zum Klimaschutz: Die EU hat weitreichende Pläne und will die Emissionen von Neuwagen ab 2030 um 55 Prozent und ab 2035 um 100 Prozent gegenüber dem heutigen Niveau senken. Wie bewerten Sie diese Beschlüsse?

Grundsätzlich ist es sehr gut, dass es für den Klimaschutz jetzt konkrete Programme gibt. Es entspricht aber auch einem sehr ambitionierten Verbot des Verbrennungsmotors ab 2035. Es wird sehr schwer sein, die Balance zwischen Klimaschutz, Beschäftigung und den Mobilitätsbedürfnissen der Menschen herzustellen. Bis 2035 sind es nur noch 14 Jahre und deshalb braucht es vor allem einen klaren Plan zum Aufbau der Infrastruktur: von der Stromerzeugung über die Stromnetze bis zur Ladeinfrastruktur. Zudem benötigen wir eine offene Diskussion über die Auswirkungen auf Wirtschaft und Beschäftigung – und vor allem braucht es Ehrlichkeit der Politik gegenüber der Bevölkerung. In der Automobilindustrie werden Stellen verloren gehen – je schneller der Verbrennerausstieg kommt, desto heftiger.

Wie kann ZF mit dem Todesurteil für den Verbrennungsmotor leben?

Ein Verbrennerverbot beziehungsweise ein dazu äquivalenter Beschluss wäre nicht erforderlich gewesen. Die Autoindustrie und auch ZF ist bereits auf dem Weg zur Elektrifizierung und damit verbunden zur Klimaneutralität. Das war nicht immer so, aber inzwischen ist es Realität.

Müssen Sie nicht Ihre kompletten Planungen anpassen?

Getriebe machen bei ZF inzwischen weniger als ein Viertel des Umsatzes aus. Für die Fertigung eines Getriebes für ein Premium-Fahrzeug mit Verbrennungs- oder Hybridmotor brauchen wir zwei- bis zweieinhalbmal mehr Beschäftigte als für eine komplette Achse mit E-Motor, Wechselrichter und Leistungselektronik. Bislang gingen wir von einem Verbrenner-Ende 2040 aus. Es entsteht jetzt ein hoher zusätzlicher Druck. Das wird bis 2035 ein anspruchsvoller Übergang, ist aber im Dialog mit den Arbeitnehmervertretern wohl gerade noch sozialverträglich machbar. ZF hat soeben ein umfangreiches Umschulungsprogramm aufgelegt, um möglichst viele Mitarbeiter in den neuen Technologien fit zu machen.

Wie tief werden die Einschnitte bei den Beschäftigten sein?

Es geht um sicherlich einige Tausend Stellen, die bis 2035 verloren gehen. Sollten die Ziele bis dahin noch weiter verschärft werden, würde der Wandel nicht mehr im Dialog und auch nicht ohne betriebsbedingte Kündigungen gehen.

Im Inland läuft Ihre Standortsicherung durch den Tarifvertrag zur Transformation noch bis Ende 2022. Wird es danach Standortschließungen geben?

Derzeit ist die Auslastung bei etlichen Standorten besser als erwartet und wir können klarer bis 2025 schauen als noch vor einem Jahr. Es war daher gut, diesen Tarifvertrag zu vereinbaren. Wir sind im Dialog mit den Arbeitnehmervertretern und haben bereits für die meisten Standorte gute Lösungen für die nächsten Jahre erarbeitet. Für einige wenige gibt es noch keine Lösung, weshalb wir Werkschließungen nicht ausschließen können. Wir werden aber weiter mit den Gewerkschaften und Betriebsräten nach Wegen suchen.

Ihre aktuelle Getriebe-Strategie setzt auf Plug-in-Hybride, ist das noch haltbar?

Ja, denn bis 2030 wird sich an der weltweiten Nachfrage nach Hybriden nicht grundlegend etwas ändern. Wir sind auch für Europa nach wie vor der Meinung, dass die Plug-in-Hybride als Übergangstechnologie eine wichtige Rolle spielen. Sie führen den Verbraucher an die Elektromobilität heran und machen ihn weniger abhängig vom langsamen Aufbau der Ladeinfrastruktur. Aber wir sind auch darauf eingerichtet, wenn es jetzt schneller rein elektrisch wird.

Nach der Übernahme von TRW hat die Integration drei Jahre gedauert. Wie weit sind Sie nach der anschließenden Milliardenübernahme des Lkw-Bremsen-Herstellers Wabco?

Wir sind sehr weit und werden noch weniger als zwei Jahre brauchen. Zum Jahresende wird unsere neue Nutzfahrzeugdivision mit 30.000 Beschäftigten stehen. Zum Ende dieses Monats wird das Führungsteam berufen. Wir schaffen gerade den weltweit größten Zulieferer für Nutzfahrzeuge.

Das heißt: ZF startet nun den Frontalangriff auf Knorr-Bremse?

Unsere Strategien richten sich auf Märkte und Kunden. Die Bremse plus die Elektronik waren das Wesentliche, was unserer Nutzfahrzeugsparte zum Komplettanbieter mit Fahrwerk, Antriebsstrang und Sensoren noch fehlte. Im kompletten Zusammenspiel der Komponenten aus einer Hand können wir perfekt abgestimmte Systeme für Zugmaschine und Auflieger schaffen. Diese Breite hat kein anderer Anbieter. Die Übernahme folgt einer klaren industriellen Logik.

Sie haben bereits den Antriebsstrang in einer Division zusammengefasst, jetzt folgen die Nutzfahrzeuge. Was kommt als Nächstes?

Wir entwickeln uns weiter, indem wir Technologie- und Marktentwicklungen antizipieren. So werden alle ZF-Divisionen künftig noch viel stärker durch Software und Digitalisierung miteinander verknüpft. Wir orientieren uns an Tesla, Apple und Microsoft und denken von der Software her, die das gesamte Unternehmen und letztendlich ja auch unsere Komponenten im Fahrzeug vernetzt. Software schafft Mehrwert und Funktionen über Bereichsgrenzen hinweg. Das verändert das gesamte Unternehmen.

ZF kommt aus der Welt der Autokomponenten. Können Sie daraus eine Art SAP machen und aus einem Fahrwerkspezialisten einen Softwareingenieur?

Das wird nicht immer möglich sein. Aber wir werden sehr viele Schulungen und Weiterbildungen anbieten, darunter auch solche zum Softwareingenieur. Eine Alternative dazu sehe ich nicht und wir werden den Umbau nur hinbekommen, wenn wir alle dafür begeistern. Es bieten sich ganz neue technologische Möglichkeiten: Ein Bremssystem arbeitet zum Beispiel nicht mehr unabhängig von Lenkung und Antrieb. Produkte wie diese erfordern eine komplette Vernetzung aller Bereiche.

Wie viele Software-Ingenieure haben Sie denn schon in diesem neuen Bereich?

Derzeit deutlich über 1000 in unserem eigenständigen cloudbasierten Software-Center. Wir haben uns darüber hinaus an mehreren Software-Unternehmen beteiligt und kooperieren sehr intensiv.

Konkurrent Bosch beschäftigt bereits 14.000 Softwareentwickler.

Wir haben dazu unsere eigene Philosophie. Wir setzen zusätzlich auf externe Kooperationen und haben neben den Spezialisten im zentralen Software-Center weltweit Tausende Entwickler, die in dezentralen Einheiten hardwarenahe Software erstellen und applizieren.

Können Sie Ihre ambitionierten Ziele angesichts der aktuellen Chip-Krise erreichen?

Wir erwarten ein weiterhin schwieriges zweites Halbjahr. Die Zeiten, als man durch clevere Beschaffungsstrategien Engpässe ausgleichen konnte, sind inzwischen vorbei, was Sie an den Produktionsstopps in der Branche sehen. Das wird auch uns Umsatz kosten. Aber ich denke, dass sich die Lage im nächsten Jahr entschärft, die Engpässe uns aber noch länger begleiten werden.

Was ist aus dem fahrerlosen Transportsystem in der Friedrichshafener Innenstadt geworden. Sollte das nicht schon längst laufen?

Hier hat es Corona-bedingt Verzögerungen gegeben, weil wir Tests nicht wie geplant durchführen konnten. Wir bereiten das System in verschiedenen Städten wie Rotterdam, Brüssel und Mannheim vor. Als Erstes werden wir 2022 in Rotterdam an den Start gehen. Dort ist das Projekt am weitesten gediehen, weil der von uns übernommene Shuttle-Spezialist 2getthere aus den Niederlanden kommt und das Projekt schon vor unserem Einstieg 2018 begonnen wurde.

In der Autozulieferindustrie baut sich eine Konzentrationswelle auf. Hella, immerhin ein Unternehmen mit rund sechs Milliarden Euro Umsatz und 36.000 Beschäftigten, ist auf dem Markt. Welche Rolle wird ZF spielen?

Wir sind mit unseren beiden Übernahmen von TRW und Wabco gut aufgestellt. Großübernahmen sehe ich in den nächsten zwei Jahren nicht, was nicht heißt, dass es nicht auch gezielt punktuell kleinere Zukäufe geben kann, zum Beispiel bei Software, Hightech oder Start-ups. Zudem müssen wir unsere Verschuldung aus den Übernahmen reduzieren. Aber da sind wir auf Kurs.

Aber Ihnen kann es kaum egal sein, bei wem Hella landet.

Egal ist es uns nicht. Wir arbeiten in der Radartechnik seit Jahren gut zusammen. Falls Hella bei einem direkten Konkurrenten landen sollte, werden wir bewerten, ob wir mittelfristig reagieren müssen.

Wenn Sie schon nicht groß zukaufen. Wie sieht es mit Verkäufen aus? Bosch verkauft gerade seine Gießereien.

Wir haben gerade die Auftragslage für unsere Gießereien geprüft und Lösungen gefunden, um wettbewerbsfähig zu produzieren. Wir haben keine Pläne sie abzustoßen, auch wenn Deutschland generell kein idealer Standort für rohstoff- und energieintensive Gießereien ist.

Ende Juli veröffentlichen Sie Ihre Halbjahreszahlen. Wie sieht Ihr Geschäft aktuell aus?

Wir sind sehr gut auf Kurs, den angepeilten Umsatz zu erreichen. Es wird wohl eher am oberen Rand der Prognose sein. Auch beim operativen Ergebnis erwarten wir unverändert, dass wir für das Gesamtjahr im Ergebniskorridor von 4,5 bis 5,5 Prozent liegen.

Klingt sehr optimistisch angesichts der Chip- und Rohstoffengpässe.

Die Auslastung ist an vielen Standorten sehr hoch. Wir erleben zum Beispiel hier im Stammwerk in Friedrichshafen eine deutlich steigende Nachfrage nach den Lkw-Getrieben, vor allem aus China. Wir suchen sogar Ferienarbeitskräfte, um voll durch den Sommer fahren zu können, und haben befristete Mitarbeiter in Festanstellungen übernommen. Die gute Auslastung gilt aber nicht für alle Standorte.

Ihre Eigentümerstiftungen werden nach dem Verlust im Vorjahr für 2020 keine Ausschüttung bekommen. Ist schon Nervosität beim Friedrichshafener Oberbürgermeister, der ja der Zeppelinstiftung vorsteht, spürbar?

Das Corona-Jahr war für alle besonders. Die Eigentümer tragen den Dividendenausfall mit in der berechtigten Erwartung, dass es dieses Jahr wieder anders wird. Aber die nächsten Jahre der Transformation, einhergehend mit dem Konzernumbau, werden schon knackig. Wir haben die F&E-Quote von 5,7 auf fast acht Prozent erhöht. Das wird auch in den nächsten Jahren so bleiben, um die zentralen Zukunftsthemen wie CO2-Neutralität, Elektromobilität, Software und autonomes Fahren zu bewältigen.

Was ist Ihr Rat an die neue Bundesregierung?

Lieber weniger vornehmen, dafür besser umsetzen. Und bitte mit mehr Ehrlichkeit gegenüber den Bürgern. Wenn reine Elektromobilität gewollt ist, dann klar Farbe bekennen bei den dafür notwendigen Entscheidungen. Das gilt vor allem beim Aufbau der Infrastruktur, zum Beispiel bei der Genehmigung von neuen Windkraftanlagen und der Beschleunigung des Stromtrassenausbaus bis hin zu den Ladesäulen. Bis 2030 brauchen wie eine Million Ladesäulen, was 2000 neue Säulen je Woche bedeutet. Es gibt viel zu tun, denn von diesem Wert sind wir weit entfernt.

ZF Friedrichshafen AG

ZF ist ein weltweit aktiver Technologiekonzern und liefert Systeme für die Mobilität von Pkw, Nutzfahrzeugen und Industrietechnik. ZF lässt Fahrzeuge sehen, denken und handeln: In den vier Technologiefeldern Vehicle Motion Control, integrierte Sicherheit, automatisiertes Fahren und Elektromobilität bietet ZF umfassende Produkt- und Software-Lösungen für etablierte Fahrzeughersteller sowie für neu entstehende Anbieter von Transport- und Mobilitätsdienstleistungen. ZF elektrifiziert Fahrzeuge unterschiedlichster Kategorien und trägt mit seinen Produkten dazu bei, Emissionen zu reduzieren, das Klima zu schützen und die Mobilität sicherer zu machen.

Das Unternehmen ist mit mehr als 150.000 Mitarbeitern an rund 270 Standorten in 42 Ländern vertreten. Im Jahr 2020 hat ZF einen Umsatz von 32,6 Milliarden Euro erzielt. (red/handelsblatt)