Digitalisierung : "Wenn es poppt, ist es zu spät"

Heinz Marx Syngroup
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In einem Interview mit INDUSTRIEMAGAZIN hat Herbert Ortner, der CEO des Kranbauers Palfinger, kürzlich gesagt: Die österreichische Industrie sieht die Möglichkeiten der Digitalisierung vorwiegend zur Prozessverbesserung. Wir sind zu wenig mit bahnbrechend Neuem beschäftigt. Ist das ein Befund, den Sie teilen?

Heinz Marx Ja. Zu 100 Prozent. Viele Unternehmen in Österreich glauben, wenn sie die ersten Schritte der Digitalisierung machen, dass sie Industrie 4.0 machen. Schritte zu gehen ist prinzipiell nichts Falsches. Aber: Wir beobachten, dass Digitalisierung in der Industrie noch vorwiegend auf die Produktion abzielt. Dienstleistungen oder gänzlich neue Geschäftsmodelle stehen bei den Unternehmen leider noch klar im Hintergrund.

Wäre es nicht strategisch sinnvoller, gleich auf smarte Produkte zu setzen, als vorher mühsam die Produktion smart zu machen?

Heinz Marx Nein, weil das eine das andere bedingt. Erst wenn die Wertschöpfungskette digitalisiert ist, kann ich aus den gewonnenen Informationen Planungs- und Produktionssysteme schaffen, auf Basis derer sich neue, skalierbare Geschäftsmodelle dann durchführen lassen. Wir beobachten heute, dass weit über 90 Prozent aller Industrieunternehmen automatisiert sind – aber die verschiedenen Anwendungen noch nicht durchgängig miteinander sprechen können. Schnittstellen zu schließen ist hier noch immer ein Thema.

Also doch erstmal Industrie 4.0 – und dann smarte Produkte und Dienstleistungen ...?

Heinz Marx Nein. Das ist kein Entweder-oder-, sondern ein Sowohl-als-auch-Thema. Das ist zwingend gemeinsam zu tun. Wenn ich nicht bereits heute mitbetrachte, wohin der Weg in meiner Branche geht, wird es fast sicher so sein, dass ich mittelfristig irgendetwas extrem effizient produziere – was niemand braucht. Es ist notwendig, den gesamten Wertschöpfungsprozess vom Lieferanten bis zum Konsumenten in das Blickfeld zu nehmen. Produktion, Produkt und Geschäftsmodell müssen in der Industrie 4.0 parallel bespielt werden. Einige Vorzeigeunternehmen – ich denke da etwa an die Kunststoffbranche – haben reagiert, die große Masse der Betriebe ist aber noch nicht so weit.

Trotzdem hat die Industrie ihre Hausaufgaben beim Thema Smart Factory noch zu machen ...

Heinz Marx Allerdings. Ein erfolgreich umgesetztes und propagiertes Modell beispielsweise arbeitet mit einem „digitalen Zwilling“. Das bedeutet: Die Prozesse entlang der Wertschöpfungskette werden virtuell abgebildet und im gesamten Prozess kann „die Zeit angehalten werden“, um zu prüfen, wie der nächste Schritt sinnvoll auszusehen hat. Mit diesem Zwilling der Wirklichkeit lassen sich kontinuierliche Verbesserungsprozesse anstoßen. Viele Unternehmen beschäftigen sich mit dem Thema. Aber zu kurz. Zu wenig tief, zu wenig intensiv. Sie kratzen nur an der Oberfläche. Welchen Produktionsschritt lasse ich aus? Gibt es minimale, ohne exakte Analyse fast nicht messbare Abweichungen? Wie kann ich diese verhindern?

Ihre Kunden sind vorwiegend mittelständische Familienunternehmen. Haben solcherart familiengeführter Unternehmen beim Thema Digitalisierung einen Vorteil – oder einen Nachteil?

Heinz Marx Natürlich sind Familienunternehmen prinzipiell aufgrund der kurzen Entscheidungswege und starker Persönlichkeiten in der Lage, schnell und schlagkräftig zu reagieren. Sie geben ja auch das eigene Geld aus. Aber das Verständnis für die Umbrüche hat nichts mit der Art der Führung zu tun, sondern hängt rein an den handelnden Personen. Viele Unternehmen haben es auf die Agenda gesetzt – es wird aber mit unterschiedlichem Ernst betrieben.

Sind sich die Unternehmen des Ernstes der Lage bewusst?

Heinz Marx Scheinbar nicht. Wir haben eine Studie in Auftrag gegeben, 69 heimische Industrieunternehmen wurden dabei analysiert. 95 Prozent sind dabei, sich Gedanken über IoT zu machen. Viele davon gehen Schritte der Automatisierung. Aber der Realisierungsgrad digitaler Strategie liegt bei weniger als 10 Prozent aller befragten Unternehmen. Das ist erschreckend wenig. Jeder muss sein Geschäftsmodell inklusive Produkt und Service hinterfragen – in all seinen Dimensionen, im Vergleich zur eigenen Branche, aber auch hinsichtlich Dritter, die von außen neue Entwicklungen hereintragen. Ein so grundlegender Wandel, wo alles hinterfragt werden muss, wird oft nur mit Hilfe von außen möglich sein.

Sehen Sie sich oft mit Fragen zur Digitalstrategie konfrontiert?

Heinz Marx Nicht so oft, wie wir uns das wünschen. Denn die Uhr tickt. Wenn ich nur Smart Factory mache, verschaffe ich mir etwas Zeit. Vielleicht bin ich dann zumindest der Letzte, der von der Bühne abtritt und noch am längsten Geld verdient im Vergleich zu allen anderen, bevor sich mein Geschäftsmodell auflöst. Ich vergleiche das oft mit Popcorn. Anfangs passiert nichts – alle meinen, so schlimm sei es nicht. Dann poppen die ersten – alle meinen, Ausnahmeerscheinungen. Doch dann – Exponentialfunktion – geht es los. Wenn es da losgeht, dann ist jede Aktion eigentlich längst zu spät. Jeder, der jetzt nicht Fahrt aufnimmt, Daten gewinnt, digitalen Zwilling aufbaut, sich parallel Gedanken macht, was das alles für das Produkt heißt, wird massive Probleme bekommen.

Im Vergleich zu den USA hinken wir in Europa weit zurück. Warum ist das so?

Heinz Marx Ich stelle übrigens auch fest, dass wir in Österreich hinter unserem Nachbarn Deutschland hinterherhinken – und dass sich der Abstand vergrößert. Aber was die USA betrifft, ist die Sache einfach erklärt: Das Thema Software ist in den USA viel näher. Es gibt bis auf SAP keinen bekannten Softwarelieferanten aus Europa. Nachdem das Thema Software und Digitalisierung sehr nahe beisammen sind, haben die einen Vorteil.

Ist es nicht auch so, dass man in Amerika einfacher scheitern kann als hierzulande?

Heinz Marx Das Thema Fehlerkultur hat sicher einen anderen Stellenwert als bei uns. Aber ich bin ja nicht so selten in den USA – ich stelle schon fest, die Amerikaner leben prinzipiell davon, überall das Beste und das Größte an sich zu sehen. Das ist möglicherweise ein wenig Selbstüberschätzung, es hilft aber möglicherweise auch, an wirklich große Dinge ranzugehen ...

Es gibt die These, die Struktur der Industrie würde sich mittelfristig durch Sharing Economy, Plattformlösungen, dezentrale Produktion jener des Internets annähern – ein engmaschiges Netz vieler Anbieter und Nachfrager. Wie sehen Sie das?

Heinz Marx Es wird sich schrittweise dahin entwickeln. Abhängig von den Branchen wird das unterschiedlich schnell gehen. Es wird dort produziert, wo es am meisten Sinn macht. Kunde, Kosten und Zeit geben es vor. Früher wie heute wurde aus Kostengründen ausgelagert oder aufgrund von Know-how von Zulieferern – heute ist die Transparenz möglicher Lieferanten viel größer. Ich bekomme – zunehmend auch für komplexe Produkte – jederzeit Angebote aus der ganzen Welt. Umso wichtiger wird es für den Mittelstand, das Produkt, also Preis, Service und Leistung, in Kombination mit der Innovationskraft zu stärken.