IM-Expertenpool: Industrie 5.0 : Industrie 5.0 – Wir haben da etwas vergessen

Berater Mario Buchinger
© Mario Buchinger

Der Begriff „Industrie 4.0“ ist nun zehn Jahre alt. Bei der Hannover Messe 2011 wurde dieser erstmalig in der Öffentlichkeit erwähnt. Und noch immer ranken sich viele Missverständnisse um diese Idee und Unternehmen versuchen, sich darauf einen Reim zu machen. All diese Diskussionen blenden aber den wesentlichen Aspekt von Wirtschaft und Gesellschaft aus: Den Menschen.

Industrie 4.0 – Ein Exkurs

Man sagt, mit Industrie 4.0 verhielte es sich wie mit Teenager-Sex: Jeder redet darüber, keiner weiß, wie es wirklich geht, aber jeder meint, alle anderen würden es schon tun. Noch immer wird Industrie 4.0 mit Digitalisierung und Automatisierung gleichgesetzt, obwohl dies eher Elemente der dritten industriellen Revolution sind. Bei Industrie 4.0 geht es primär um Vernetzung, Transparenz, Big Data und Potentiale, die aus Metadaten generierbar sind.

Industrie 4.0 weckt nach wie vor große Erwartungen bei Management und Inhabern, sowie einigen Politikern. Berater und Produzenten von Hardware versuchen damit, teils unseriöse Geschäfte zu machen, indem man Unternehmen etwas verkauft, bei dem der Nutzen oft fraglich ist. Unternehmen implementieren Industrie 4.0-Lösungen, weil es angesagt und cool ist und vergessen dabei, was die Kunden und der daraus resultierende Prozess wirklich brauchen. Ein schlechter Prozess, den man digitalisiert, ist danach ein schlechter digitalisierter Prozess – nur mit noch mehr Unsicherheiten.

Ein Traum vieler Manager ist eine „Dark Factory“, eine Fabrik, in der es keine Menschen mehr gibt. Alles, was nötig ist, wird von Maschinen auf Basis von „intelligenten“ Algorithmen erledigt. Die Personalkosten tendieren gegen Null und es gibt keine lästigen Menschen mehr, die Urlaub brauchen und emotionale Bedürfnisse haben. Maschinen haben eben keine Bedürfnisse, sie brauchen lediglich Energie und ein paar Betriebsflüssigkeiten. Zugegeben, auch wenn diese menschenlose Fabrik in den Augen von Managern (nicht Unternehmern!) ein Idealbild darstellt, zeigt sie ein eklatantes Problem und führt uns zu der Frage, welchen Sinn und Zweck Wirtschaft eigentlich hat.

Wo sind all die Kunden hin?

Wenn es das Ziel ist, immer mehr Ratio zu holen um mit weniger Personal und damit weniger Kosten immer mehr Volumen zu produzieren, muss man die Frage stellen, wo die Menschen sind, die am Ende Produkte und Dienstleistungen überhaupt kaufen sollen? Wenn hinreichend viele Arbeitsplätze wegrationalisiert sind und durch „smarte“ Industrie 4.0-Lösungen ersetzt wurden, können sich viele Menschen keine Produkte mehr leisten.

Als Henry Ford in den 1920er Jahren durch den zunehmenden Einsatz von Fließband und Teilautomatisierung die Produktivität erhöhte, gab er Teile dieser Profite in Form höherer Löhne und einer reduzierten Arbeitszeit an die Mitarbeitenden weiter. So hatte er eine motivierte Mannschaft, die es sich obendrein leisten konnte, seine Produkte zu kaufen. Solche Gedanken sind auch in der Zeit einer zunehmenden Vernetzung und Big Data dringend geboten.

Industrie 5.0 – Der Mensch im Mittelpunkt

Und an dieser Stelle kommt nun Industrie 5.0 ins Spiel. Die Idee von Industrie 5.0 besteht aus drei wesentlichen Säulen:

Mensch-Zentrierung: Fördert Vielfalt, unterschiedliche Talente und Befähigung

Resilienz: Strukturierte Anpassungsfähigkeit und die Fähigkeit, mit Unsicherheit und Veränderungen umzugehen

Nachhaltigkeit: Verantwortung für Umwelt und Bewahrung der von Menschen benötigten ökologischen Nische für Folgegenerationen

Damit steht in diesem Bild etwas im Fokus, was bei Industrie 4.0 in fast allen Diskussionen und Publikationen vergessen wurde. Daher ist der Zusatz „5.0“ etwas irreführend, da es sich weniger um eine fünfte industrielle Revolution handelt als um eine längst überfällige Korrektur dessen, was in den letzten zehn Jahren zu kurz kam.

Ursachenforschung

Warum kommt diese Diskussion erst jetzt, eine Dekade später? Die Ursache ist hier klar in der Art und Weise zu sehen, wie sich Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Der Mensch wurde und wird leider noch immer als Ressource gesehen. Die Personalabteilungen in Unternehmen heißen nicht selten „Human Resources“ und das Verständnis ist dementsprechend.

Jedoch ist der Mensch niemals eine Ressource analog einer Maschine, der Mensch hat Ressourcen: Nämlich im wesentlichen Zeit und Kompetenz, die er dem Unternehmen zur Verfügung stellt. Außerdem ist der Mensch in der Lage, Bestehendes zu hinterfragen und mit eigenen Ideen das Unternehmen besser zu machen, was Maschinen nicht können.

Diejenigen, die hier auf KI setzen, müssen sich vorerst gedulden, dazu sind Maschinen bisher nicht in der Lage und das, was aktuell als KI betrachtet wird, ist bestenfalls nicht mehr als Machine Learning. Der ehemalige Leiter von Google X Andrew Ng hat mal zutreffend gesagt, man könne heutige KI betrachten als hätte man 10.000 Praktikanten zur Verfügung.

Ideenreichtum für die intrinsische Veränderung ist aber gerade in Zeiten, die durch schnelle Veränderungen geprägt sind, existenziell wichtig. Damit fällt Menschen in Unternehmen eine noch größere Rolle zu als in der Vergangenheit und als es einigen gestrigen Managern lieb ist. Die tayloristische Trennung von Kopf und Hand wird zunehmend gefährlich, wenn es um Veränderungsfähigkeit, Innovation und Zukunftsfähigkeit geht.

Zeit für einen Systemwandel

Ich habe den fehlenden Diskurs im Kontext von Mensch und Gesellschaft und die Verantwortung, die seitens der Wirtschaft daraus resultiert, in den letzten zehn Jahren in Fachartikeln, Vorträgen und Podiumsdiskussionen oft thematisiert. Gerade wirtschaftsliberale Kreise haben mir dabei gerne einen Hang zum Sozialismus unterstellt, was nur zeigt, dass ihnen die Bedeutung dieses Begriffs offenbar fremd ist.

Unternehmerische Verantwortung hat nichts mit Sozialismus zu tun. In einer echten sozialen Marktwirtschaft muss die Verantwortung für Mensch, Gesellschaft und Umwelt immer mitbetrachtet werden. Das Erwirtschaften von Profit ist gut und richtig, solange es mit der Gesellschaft und nicht gegen sie erfolgt. Der Ansatz von „Industrie 5.0“ kann hier ein erster richtiger Schritt sein, dass Wirtschaft und Gesellschaft, Prosperität und Klimaschutz, Kapital und Gerechtigkeit, nicht mehr als Gegensätze sondern als Symbiosen verstanden werden, die sie dringend sein müssen.

Dr. Mario Buchinger ist Ökonomie-Physiker, Musiker und Autor. Der Spezialist für Veränderungsfähigkeit unterstützt seit mehr als 15 Jahren internationale Unternehmen und Organisationen auf deren Weg zur dauerhaften kontinuierlichen Verbesserung.