Fabrik 2012 : „Im Sog der Geopolitik“

Joschka Fischer eröffnete mit einem Eingeständnis: Nach dem 11. September 2001 hatte er behauptet, die Katastrophe werde den Lauf der Geschichte verändern. Das habe sich als falsch herausgestellt: „Natürlich hat es die Politik der USA verändert, aber entscheidend ist der Aufstieg der Schwellenländer – das ist der zentrale Trend unserer Zeit und wird die Welt in einem Maße verändern, wie wir es seit der Industrialisierung nicht erlebt haben.“ Dass ein Keynote-Speaker wie der deutsche Außenminister a. D. den inhaltlichen Rahmen eines Kongresses erweitert, ist erwartbar. Joschka Fischer nahm beim Industriekongress „Fabrik 2012“ in Wels das Thema Rohstoffe und Energie denn auch nur als Nukleus für seine Vision der weiteren Entwicklung Europas.Ans andere Ufer Und dieses Europa, meinte Fischer, befinde sich in keinem guten Zustand – wirtschaftlich wie geostrategisch. Angesichts des massiven Erstarkens von Staaten wie China oder Indien stellten sich fundamentale Fragen, die weit über die Bewältigung der Krise des Euro hinausgingen: „Wir erleben einen Machttransfer von West nach Ost. Wir haben es mit einer Enteuropäisierung, einer Entwestlichung zu tun. Die Frage, die sich uns stellt, ist nun: Schaffen wir den Schritt vom gemeinsamen Markt und der gemeinsamen Währung zu einer gemeinsamen Politik? Schaffen wir das nicht, dann können wir den Euro gleich aufgeben.“Für Fischer eine Schicksalsfrage, „denn wenn wir in der Mitte des Flusses stehen bleiben, ertrinken wir. Wir können nur zurückgehen oder ans andere Ufer.“ Ein Weg, der Europa erstmals in der Geschichte nicht aufgezwungen werde. Historisch daran gewöhnt, dass große Veränderungen nur nach – verlorenen – Kriegen erfolgten, müsse sich der Kontinent nun erstmals aus einem Zustand der Prosperität und politischen Stabilität weiterentwickeln – „doch einen friedlichen Wandel im Kopf zu akzeptieren, ist offenbar sehr schwierig“, meinte Fischer.Hier gehts weiter

„Wir wären gut beraten, diese Entscheidung bewusst anzustreben. Unsere Regierungen tun das leider nicht. Aber wenn sich Europa renationalisiert, dann prophezeie ich eine düstere Zukunft. Vor allem auch der Industrie, die schnell erleben würde, was es bedeutet, keine Rolle mehr zu spielen.“Keine AngstIn der steigenden Konkurrenz um Rohstoffe wirft das Thema seine Schatten bereits deutlich voraus. Joschka Fischer erwartet mittel- bis langfristig eine Verschärfung – nicht nur bei Rohstoffen wie Öl, sondern vor allem auch bei Wasser, Nahrungsmitteln und anderen Basisressourcen. Gerade in diesen Bereichen sei die europäische Industrie aber alles andere als schlecht aufgestellt. Kein Grund also, Angst zu haben, meint Fischer, „ich sehe darin keine Bedrohung, sondern eine riesige Chance“. Das Rohstoffthema gab Joschka Fischer auch Gelegenheit, die Notwendigkeit einer verstärkten europäischen Kooperation zu illustrieren: „Gäbe es die Nabucco-Pipeline, so hätte Putin niemals die Lieferung von Gas in die Ukraine unterbunden. Aber er dachte, mit Europa könne man es ja machen – divide et impera.“ Fischer, der unter anderem die OMV in Sachen Nabucco berät, zeigte ironisches Verständnis für die Position Russlands: „Sie nutzen im Grunde nur die Möglichkeiten, die wir ihnen bieten. Aber wer kann uns denn etwa daran hindern, einen gemeinsamen Gasmarkt einzurichten? Niemand, nur wir selbst!“ Nabucco zeige exemplarisch die politische Schwäche Europas – eines, so Fischer, dank Hochpreisigkeit und Rechtssicherheit „unglaublich attraktiven“ Marktes. Mehr Macht für Brüssel Joschka Fischers Frage, ob es Europa zu einer gemeinsamen Regierung bringen werde, ist auch laut OeNB-Präsident Claus Raidl entscheidend. Gemeinsam mit Fischer und dem Philosophen Konrad Paul Liessmann diskutierte er im Anschluss an die Keynote Europas Position im „Sog der Geopolitik“. Hier gehts weiter

Schon bei der Einführung des Euro, betonte Claus Raidl, sei jedem klar gewesen, dass die Währungsunion nur in Verbindung mit einer politischen Union funktionieren werde. „Man braucht also einen europäischen Finanzminister, der gewissen Ländern auch sagen kann: Das Budget des Vorjahres bekommt ihr heuer nicht mehr.“ Die aktuelle Krise der Währung erlaubt laut Raidl nur eine Konsequenz: Die Übertragung von mehr Macht und mehr Kompetenzen an Brüssel – auch wenn klar sei, dass damit derzeit keine Wählerstimmen zu gewinnen sind. Die Alternative? Weitere Marginalisierung. Solange Europa etwa für die BRIC-Staaten nicht als einheitlicher Gesprächspartner auftrete, sei die nicht aufzuhalten, glaubt Claus Raidl. „Solange Politiker lieber im eigenen Land Karriere machen als in Europa, weiß ich, dass da etwas fehlt. Wer will den heute schon nach Europa außer jenen Politikern, die im eigenen Land abgesägt wurden?“ Keine Gesetzmäßigkeit Protest bei Joschka Fischer rief schließlich Konrad Paul Liessmann mit einer provokanten Frage hervor. „Woher kommt eigentlich die Vorstellung“, so Liessmann, „Europa müsse eine derart wichtige Rolle spielen?“ Immerhin seien kleinstaatlich organisierte Gebilde wie in der griechischen Antike oder der italienischen Renaissance durchaus erfolgreich gewesen. Joschka Fischers Verweis auf die Tatsache, dass die Athener schlussendlich als Haussklaven bei reichen Römern landeten, ließ den Philosophen präzisieren: Man dürfe die Entwicklung in Richtung politischer Union nicht als zwangsläufig betrachten – sonst könne sie scheitern. „An historische Gesetzmäßigkeiten glaubten vielleicht Hegel und Marx, man kann den richtigen Zeitpunkt aber auch versäumen.“ Die Ressourcen Europas steckten jedoch auch in seiner Vielfältigkeit, selbst wenn diese immer wieder zu Problemen führt.Vielfältigkeit, die Joschka Fischer zum Abschluss an das Schweizer Modell denken ließ: „Ich frage mich, ob das nicht auch für Europa umsetzbar wäre.“