Interview : "Ich setze auf ein subtileres Verständnis von Erfolg"

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Lenzing ist eine Industrieenklave inmitten des Ferienidylls rund um den Attersee. Wenn Stefan Doboczky, Vorstandsvorsitzender des gleichnamigen Faserherstellers, aus den großen Fenstern seines nüchternen Büros blickt, sieht er Produktionshallen, Rohrleitungen und die beiden prägenden Schlote, die Lenzing für jeden Autobahnfahrer sichtbar machen. Die rot-weißen Schornsteine stehen voll unter Dampf – und machen schon von weitem sichtbar, wie sehr der Fasermarkt derzeit brummt. Der 49-jährige Chemiker wirkt unruhig in seinem Besprechungsstuhl. Er weiß um den Rückenwind, den er und Lenzing derzeit erfahren. Und er weiß, dass er diese Zeit nützen muss.

Herr Doboczky, der Lenzing geht es prächtig. Sie planen in den nächsten vier Jahren 700 bis 800 Millionen Euro in neue Werke in Lenzing, Heiligenkreuz, in den USA und in Thailand zu investieren. Wann verliert man als CEO die Angst vor derartigen Zahlen?

Stefan Doboczky Man wächst im Laufe der Karriere in diese Dimensionen hinein. Wenn man einmal ein Budget von einer Million zu verwalten hat, bemerkt man, dass man nicht alle 100-Euro-Entscheidungen selber treffen kann. Das müssen die Mitarbeiter machen. Und das Gleiche ist dann bei 10 Millionen, bei 100 Millionen und bei Milliarden. Bei derartig hohen Zahlen gibt es irgendwann einen Schnitt, wo ich weiß, dass meine Mitarbeiter deutlich besser in der Lage sind, über Volumen zu entscheiden als ich. Klar: Als CEO musst Du die Übersicht behalten und die Richtung vorgeben. Aber es ist letztlich die Erfahrung der spezialisierten Mitarbeiter, derartige Budgets zusammenzustellen.

Mischen Sie sich in die Investitionspläne und Umsetzungen ein?

Doboczky Das ist ein iterativer (schrittweiser, Anm. d. Red.) Prozess. Wenn wir entscheiden, ein neues Werk zu bauen, dann wissen wir auf der Basis vorheriger Investitionen, welche Größenordnung dies ausmachen wird. Dann geht es um die Balance, wie viel Druck soll aufgebaut werden, diese Investitionskosten zu senken. Es gibt immer Optionen, Sachen wegzulassen oder billiger zu machen. Wie weit will ich die Kosten drücken, ohne Gefahr zu laufen, dass das Werk gleich wieder zusammenfällt? Diese Gratwanderung ist der Grund, warum wir Heiko Arnold in den Vorstand geholt haben. Er hat schon viele Anlagen gebaut.

Nach der Präsentation der Rekord-Halbjahresergebnisse vor einigen Wochen haben sie gewarnt, dass es sicher nicht ewig so weitergeht. Was unterscheidet Lenzing 2017 von Lenzing 2012, als das Unternehmen am Beginn einer zähen Krise stand?

Doboczky Wir haben uns für einen Schwenk in der Strategie entschieden. Wir setzen heute auf ein subtiles Verständnis von Erfolg. Es ist nicht mehr wesentlich, der Größte mit den meisten Marktanteilen und dem höchsten Produktionsvolumen zu sein. Es gelten die Fragen: Wo machen wir welchen Profit? Und wie attraktiv ist ein Segment im Vergleich zu einem anderen Produktsegment? Wir haben heute den Fokus auf Spezialfasern in den jeweils passenden Regionen. Wir investieren vermehrt auch in US-Dollar-Märkten und auch in Asien, um den Währungskorb balancierter zu gestalten. Deswegen glaube ich, dass Lenzing heute am Markt resilienter ist als in früheren Jahren.

Wann wird der nächste Schweinezyklus kommen?

Doboczky Wir sind nach wie vor Teil des weltweiten Fasermarkts. Wenn der hustet oder krank ist, geht es uns auch nicht gut. Aber wir sind heute deutlich widerstandsfähiger als früher. Dabei ist uns bewusst, dass wir zweieinhalb Jahre in einem freundlichen Markt unterwegs waren. Aktuell gibt es so etwas wie einen Verteilermarkt, der in ein sehr positives Währungsumfeld eingebettet ist. Wir haben gut gearbeitet. Wir hatten aber auch starken Rückenwind. Und das wissen wir.

Kann überhaupt ein Tanker wie Lenzing in den zweieinhalb Jahren seit Ihrem Antreten auf einen derart neuen Kurs gebracht werden?

Doboczky Wir haben mit fest verwurzelten Glaubenssätzen aufgeräumt. Einer davon war: Baumwolle beeinflusst Viskose. Viskose beeinflusst die Spezialfasern. Kurz gesagt: Wenn es Preis- oder Absatzprobleme bei Baumwolle gegeben hat, bekamen dies früher oder später auch die Spezialitätenmärkte zu spüren. Deshalb müssen wir runter mit den Preisen. Das ist aber nicht immer richtig. Wir scheuen uns nicht mehr, auf der Preis- oder auf der Positionierungsseite aggressivere Schritte zu setzen. Wir beweisen seit mehr als eineinhalb Jahren, dass gewisse Spezialfasern komplett unbeeinflusst vom Baumwoll- und vom Viskosemarkt bepreist werden und das Niveau sogar noch anziehen kann.

Es reicht, Ihren Verkäufern mehr Selbstbewusstsein einzutrichtern?

Doboczky Das ist jetzt sehr verkürzt formuliert. Wir arbeiten an einem tieferen Verständnis, wie Kunden und Märkte unsere Produkte bewerten. Dabei haben wir beobachtet, dass die Preisakzeptanz bei Spezialprodukten sehr hoch war. Unsere Verkäufer hatten Erfolg und wieder Erfolg und wieder Erfolg. Das stärkt das Selbstbewusstsein des Verkaufs. In der Vergangenheit haben wir geglaubt, wenn Viskose runtergeht, müssen wir Tencel runternehmen. Jetzt geht Viskose runter und wir erhöhen Tencel. Wir entkoppeln unsere Spezialitäten vom Commodity-Fasermarkt.

Bei Ihrem Antritt im Halbjahr 2015 hatte Lenzing etliche Entlassungswellen hinter sich. Wie schwer ist es, die Atmosphäre in der Belegschaft ins Positive zu drehen?

Doboczky Mein Radar sagt mir, dass die Stimmung innerhalb von Lenzing eine gute ist. Sie ist aber nicht euphorisch. Viele Mitarbeiter, die hier 20 Jahre arbeiten, haben die Höhen erlebt und sind durch Täler marschiert. Da bleibt immer ein Rest von Skepsis. Wir müssen durch noch so einen Zyklus durchgehen und die Prüfungen bestehen, bis das Gros der Mitarbeiter sagt: „Jetzt vertrauen wir der eigenen Stärke zu 100 Prozent.“ Die Belegschaft wartet zu Recht ab, wie das Management agiert, wenn es einmal runtergeht. Da reichen zwei gute Jahre einfach nicht aus.

Sie selbst haben mehrere Jahre in China gearbeitet. China ist für Lenzing Konkurrenz und Absatzmarkt gleichzeitig. Wie erleben Sie die chinesische Form der Globalisierung?

Doboczky Ich beobachte einen deutlichen Schwenk im chinesischen Kurs. Unter Xi Jinping hat vor allem in den letzten zwei Jahren der Fokus auf Umweltschutz deutlich zugenommen. Ich glaube, dass China jetzt mit der gleichen Aggressivität an den Umweltschutz herangeht, wie es in der Vergangenheit ans Wirtschaftswachstum herangegangen ist. Wir sehen, dass in China ineffiziente Kohlekraftwerke mit relativ kurzer Vorankündigung einfach geschlossen werden. Und das trifft nicht nur die Energieversorger. Das gilt für jede Industrie, auch die Viskoseindustrie.

Wie real ist die zitierte Gefahr des Plagiierens und des Kopierens?

Doboczky Das ist ein Faktum in China. Der aktuelle Entschluss, das Grundstück für das nächste Werk in Thailand zu kaufen, hatte auch den Grund, dass wir derzeit noch nicht unsere aktuellste Technologie in China einsetzen wollen. Dort können wir unser Industrie-Know-how nicht so schützen wie es notwendig ist. Unternehmen müssen auf den Behördenwegen sehr viel von ihrem Know-how preisgeben, um bestimmte Genehmigungen zu bekommen. Jedes Mal, wenn du mit den Behörden sprichst, ist die Gefahr hoch, dass Know-how verloren geht. Das habe ich in meinen vielen Jahren in China auch erlebt. Ich bin überzeugt, dass wir in Zukunft auch in China in Tencel- und Modaltechnologie investieren müssen. Aber das braucht Zeit.

Wird in China Wirtschaft anders gelebt als in Europa?

Doboczky Bis vor zwei Jahren war China in vielen Bereichen einfach viel, viel schneller als wir Europäer. Das betrifft die Entscheidungsgeschwindigkeit und vor allem das Tempo, mit dem Entscheidungen umgesetzt werden. Chinesen sind extrem pragmatisch. Und es ist für Europäer schwierig nachzuvollziehen, dass in kürzeren Zyklen gedacht wird. Wenn wir in Europa ein Werk bauen, dann denken wir bei Planung und Ausführung in 30 oder 40 Jahres-Zyklen. Chinesisches Management denkt in zehn Jahresperioden, vielleicht ist das Werk auch schon in sechs Jahren nicht mehr in Betrieb. Das heißt, es wird anders gebaut. China arbeitet höchst effizient für das, was China braucht. Wir sollten sehr viel Respekt davor haben, aber keine Angst. Auch wir machen unsere Sache sehr gut.

Freihandelsabkommen wie CETA, TTIP oder NAFTA sind in den letzten Jahren stark in die Kritik gekommen. Wie wichtig sind derartige Verträge für ein global agierendes Unternehmen wie Lenzing?

Doboczky Unheimlich wichtig. In der Textilbranche sind Geschwindigkeit und Logistikkosten die treibenden Kräfte. Wenn Freihandel dazu führt, dass man schneller die Wert- schöpfungskette seiner Kunden beliefern kann, hat man einen eklatanten Vorteil. Wenn wir in Österreich und in Europa die Freihandelsabkommen zurückfahren, dann ist das einfach ein Wettbewerbsnachteil im Vergleich zu unserer internationalen Konkurrenz. Und dies gilt nicht nur für Europa. Wie gesagt: Freihandelsabkommen beeinflussen unsere Investitionsentscheidungen maßgeblich.

Verstehen Sie die Ängste von Menschen, denen offene Grenzen und unübersichtliche Wirtschaftsprozesse Angst machen?

Doboczky Natürlich. Ich kann dies sehr wohl nachvollziehen. Geopolitisch, strukturell, technologisch, politisch ist die Welt unheimlich komplex geworden. Kommunikation, das Miteinander-Reden leidet an mangelnder Qualität und fehlender Intensität. Was ich nicht verstehe und was mir und meinen Mitmenschen nicht gut erklärt wird, das macht Angst. Das ist eine der größten Herausforderungen für die Politik, für die Industrie, auch für CEOs. Wir müssen unseren Leuten erklären, was wir tun: Ja, die Welt ist voll von Gefahren und Möglichkeiten. Ich sehe dabei einen Fehler: Wir müssen die Möglichkeiten stärker betonen.

Internationalisierung ist ebenso wie Solidarität mit einem negativen Spin belegt worden. Die US-Wahlen und der Brexit sind deutliche Zeugen dieser Entwicklung. Wie gehen wir damit um?

Doboczky Ich meine, dass die Wahlen in Holland, die Wahlen in Frankreich uns nahelegen, dass gar nicht alles immer nur in die gleiche Richtung gehen muss. Ich bin nicht so pessimistisch, dass alles jetzt nur mehr populistisch entschieden wird. Was mich mit sehr viel Zuversicht erfüllt, ist die Tatsache, dass die Intensität und der Diskurs über diese Themen deutlich zugenommen hat. Die Menschen denken wieder über komplizierte Themen nach. Und das ist gut.

Lenzing muss als börsennotiertes Unternehmen ständig wachsen. Jetzt hat der Club of Rome schon in den 70er-Jahren die „Grenzen des Wachstums“ aufgezeigt. Wie denkt ein CEO über die Endlichkeit?

Doboczky Ich bin überzeugt, dass Art und Weise, wie wir mit Rohstoffen und Emissionen umgehen, sich ändern wird. China wird einen enormen Beitrag zu dieser Änderung bringen. Ich persönlich glaube, dass wir weiterwachsen müssen, weil soziale, wirtschaftliche und politische Systeme darauf bauen. Es ist an uns, die Art des Wachstums zu verändern. Wie wollen wir den Menschen in den Schwellenländern erklären, dass sie nicht mehr Wohlstand erleben dürfen, weil wir schon satt sind? Das wird nicht gehen.

Lenzing ist auch in unserem großen Ranking der besten Industriebetriebe vertreten - unter anderem auch als ein Unternehmen, das seine Forschungsausgaben 2016 massiv gesteigert hat.

Dass Stefan Doboczky seinen Vorgänger um das herrschende konjunkturelle Umfeld beneidet, ist nicht überliefert. Denn Peter Untersperger, langjähriger Chef des Faserherstellers Lenzing, hatte lange Jahre seiner Führungstätigkeit mit einer hartnäckigen Faserkrise zu kämpfen. Eine Gewinnwarnung, hohe Bilanzverluste, ein umfassendes Sparpaket und der Verlust von 700 Jobs lieferten den Eigentümern, der B&C Holding, im Frühjahr 2015 die letzten Gründe für das Ziehen der Reißleine. Dies erfolgte – wie bei B&C üblich – durchaus dynamisch. Der gebürtige Kärntner Doboczky wurde ohne Zeitverlust aus dem Konzernvorstand des holländischen Chemie-Konzerns DSM abgeworben, in dem er zuletzt für den Pharmabereich zuständig war.

Der studierte Chemiker Doboczky brachte nach Lenzing zurück, was Napoleon einst als „fortune“ von seinen Generälen forderte. Denn zeitgleich mit seinem Umzug nach Seewalchen schlug am Fasermarkt der Konjunkturzyklus um. Seit 2016 befindet sich der Textilmarkt auf stabilem Aufwärtskurs. Der umgängliche Doboczky ist Realist genug, die passenden Rahmenbedingungen in den Vordergrund zu rücken. Er weiß um den „Rückenwind“, den Lenzing derzeit erfährt. Und er unterstreicht, dass in der Faserbranche nichts so sicher ist wie das nächste Konjunkturtal. Sein Rezept für harte Zeiten: Lenzing vom Commodity-Hersteller zum Spezialitätenanbieter umzuwandeln. Bis 2020 sollen 50 Prozent der Lenzing-Umsätze mit hochwertigen Faserprodukten erwirtschaftet werden. Zweiter Ansatz: Lenzing soll im Dollarmarkt und in Asien fest verankert werden, um die kommenden Währungs- und Absatzrisiken auszubalancieren. Zur Umsetzung der Pläne ist derzeit ein Investitionsprogramm in Höhe von 700 bis 800 Millionen Euro am Laufen: Die Werke in Lenzing und Heiligenkreuz werden ebenso ausgebaut wie der bestehende Standort Mobile im US- Staat Alabama, der Hochburg der nordamerikanischen Textilwirtschaft. Ab 2018 soll ein völlig neuer Standort in Thailand, in der Nähe von Bangkok, folgen. Euphorie ortet Stefan Doboczky in Lenzing trotz der guten Zahlen keine: „Viele Mitarbeiter haben Höhen erlebt und sind durch Täler marschiert. Da bleibt immer ein Rest von Skepsis.“