Interview : Holger Fastabend: "Das erfüllt mich mit Stolz"

Gebauer Griller CTO Holger Fastabend
© GG Group

INDUSTRIEMAGAZIN: Herr Fastabend, die Automobilbranche erlebt eine beispiellose Erholung, wäre da nicht ein kleiner Schönheitsfehler: der Halbleitermangel. Wie nehmen Sie das Jahr bisher wahr - als einziges Wechselbad der Gefühle?

Holger Fastabend: Wir spüren gerade sehr deutlich, dass sich die Konjunktur nach der Coronakrise, vor allem seit dem dritten Quartal 2020, rasch erholt hat. Die Nachfrage in der Automobilindustrie liegt in Summe erfreulicherweise zumindest auf Vorkrisenniveau, teilweise sogar darüber. Zusätzlich haben Endkunden schneller als erwartet neue Antriebsarten in ihre Kaufentscheidungen einfließen lassen, etwa durch den Kauf von batterieelektrischen Fahrzeugen oder Plug-In-Hybriden. Das sind sehr positive Entwicklungen, die mich freuen. Weniger erfreulich ist die Verknappung von globalen Rohstoffen und Komponenten. Diese bremst. Engpässe bei Material, Komponenten und Equipment sind ein ständiges Risiko für die laufende Produktion- und Anläufe neuer Produkte und erfordern hohen Zusatzeinsatz, umdie Liefertermine und Meilensteine zu halten.

In welchen Produktsegmenten spüren sie das Anziehen der Nachfrage aktuell besonders?

Fastabend: Bei den Datenleitungen liegen wir 30 bis 50 Prozent über den Absatzvolumina von 2019. Das ist beachtlich. Assistenzsysteme, denen immer leistungsfähigere Datenübertragungsprotokolle zugrunde liegen, greifen nicht mehr nur in der Oberklasse, sondern auch immer stärker in der Mittelklasse. Und inzwischen ist jedes dritte Neufahrzeug in Europa schon elekrifiziert. 2028 werden es vorrausichtlich bereits zwei Drittel aller Neufahrzeuge sein. Auf unsere Produkte umgemünzt bedeutet das schlicht steigende Nachfrage. Kurzfristig ist diese erfreuliche Entwicklung aber, wie gesagt, durch die volatile Situation lieferanten- wie kundenseitig beeinträchtigt / eingetrübt.

Bei den Halbleitern kam es zuletzt global zu Hamsterkäufen - welche Indikatoren sprechen dafür, dass sich die Lage 2022 wieder normalisiert?

Fastabend: Das ist tatsächlich ein Stück weit Glaskugellesen. In einem modernen Fahrzeug finden sich 1.000 bis 1.400 Chips. Für 130 Millionen Fahrzeuge wurden Halbleiter geordert, das heißt für ca. 1,5 Jahre Bedarf. Und dieser Toilettenpapiereffekt führt dazu, dass die Lieferzeiten entsprechend groß sind und den Chipherstellern Probleme erwachsen, zu priorisieren, wer zunächst beliefert werden soll. Das ganze wird uns wohl mindestens noch drei bis sechs Monate begleiten. Aber ich will anmerken: Im Bereich der Datenleitungen sehen wir einen Ausgleichseffekt. Der aktuelle Volumenrückgang wird durch zusätzliche Bedarfe kompensiert, die sich aus höheren Ausstattungen je Fahrzeug ergeben. Bei Energieleitungssträngen wiederum verzeichnen wir momentan vergleichsweise weniger Rückgänge, da wir hier hauptsächlich im Premium (B- und C-)Segment vertreten sind und diese von den OEMs höher priorisiert werden. Beides lässt uns mittel- und langfristig von weiterhin leicht steigenden Bedarfen ausgehen.

GG Group hat früh die Weichen für eine Neuausrichtung des Portfolios gestellt und legt heute den Fokus stärker auf E-Mobilität, Digitalisierung und vernetztes Fahren. Wo stehen Sie insgesamt bei dieser Konsolidierung?

Fastabend: Bei den Datenleitungen wachsen wir schneller als der Markt. Bei der E-Mobilität sind wir auch gut aufgestellt. Für erfolgreiches Wachstum wird der Ausblick über einen Fünfjahresplan hinaus immer wichtiger. Nur so lassen sich Strategien frühzeitig an die Änderungen des Marktes anpassen. Dies ist besonders jetzt sehr wichtig, wo sich die Automobilbranche in einer großen Transformation befindet. Jüngst haben wir diesen Strategieentwicklungsprozess - übrigens unter Beteiligung der gesamten Führungsriege - nachgeschärft.

Apropos Strategie: GG Group setzte in den neunziger Jahren einen Internationalisierungsprozess in Gang. Wo sehen Sie denn heute noch weiße Flecken auf der Landkarte?

Fastabend: Wir wuchsen in Etappen über Österreich hinaus. So haben wir in den ersten Jahrzehnten unser Produktportfolio stark überarbeitet, in den 90er Jahren sukzessive Werke und Standorte außerhalb Österreichs aufgebaut und sind unseren Kunden auf mehrere Kontinente gefolgt. Inzwischen arbeiten zwei Drittel unserer Mitarbeiter in nicht deutsprachigen Ländern. Wir können also tatsächlich von einer erfolgreichen Internationalisierung sprechen. Unsere Position in den USA und Mexiko ist stark. Unser Footprint in Europa ist unverändert groß. In China bauen wir gerade aus. Und wir beobachten zudem sehr genau, wie sich z.B. die koreanischen und japanischenFahrzeughersteller verhalten.

Wie schwer ist es eigentlich in Ihrer Domäne, die Technologieführerschaft nicht aus der Hand zu geben?

Fastabend: Auch deshalb machen wir uns frühzeitig Gedanken über die Zukunft. Am Beispiel der Datenleitungen veranschaulicht bedeutet das, sieben bis zehn Jahre im voraus zu wissen, auf welche Technologien man zu setzen hat. Es braucht rund zwei Jahre, um eine Datenleitung zu realisieren. Dann weitere ein bis zwei Jahre, um diese zu qualifizieren. Unter fünf Jahren geht sich eine time-to-market nicht aus. Es braucht also ein innovatives Team, das vor Ideen sprudelt. Wir bauen unser Innovationsmanagement über Abteilungsgrenzen hinweg Zug um Zug aus. Das Crossfunktionale ist entscheidend. Der Nährboden ist also gegeben, damit Innovationen wachsen können.

OEMs binden Komponentenlieferanten zunehmend früher in Projekten ein. Das hat sicher eine Reihe von monetären Anreizen für Lieferanten - ist aber auch risikobehaftet, nicht wahr?

Fastabend: In erster Linie ist eine große Chance zur Differenzierung. Wir bewegen uns von einem traditionellen Lieferanten-Kunden-Verhältnis als Komponentenlieferant hin zu einem Systemlieferanten mit gemeinsamen Innovationszielen mit dem OEM. Dabei können wir unsere Stärken ausspielen. Etwa bei neuen Leitungsdesigns und Materialien, innovativen Komponenten und Kontaktierungsverfahren sowie flexiblen und skalierbaren Produktionskonzepten. Bei der Gestaltung von Leitungssätzen steht eine Evolution bevor.

Wie schafft man es heute, Kundenerlebnisse zu erzeugen? Technologie folgt doch zuallererst immer Standards, in der Automobilwelt noch viel stärker als anderswo?

Fastabend: Standards greifen aktuell nur sehr begrenzt. Diese fehlende Vereinheitlichung ist klar eine Herausforderung - aber zugleich eine Chance. Wir verstehen den Leitungssatz als Maßanzug für die jeweilige Plattform einer neuen Fahrzeuggeneration. Bei Parametern wie wenig Platzverbrauch, geringen Systemkosten und hoher funktionaler Sicherheit. Und gerade weil wir uns durch Individualität unterscheidet, lassen sich die Vorteile bei Kunden gut belegen.

Wenn Sie an die Servicedigitalisierung denken: Wieweit lässt sich rund um Ihre Produkte auch ein Dienstleistungsportfolio, also zB in der Cloud, aufbauen?

Fastabend: Aktuell sind wir sehr stark mit den Geschäftsmodellen der OEM verknüpft. IT-seitig punkten wir in der Design- und Auslegungsphase immer öfter mit IT-Tools. Und Modellen, die schon im Vorfeld sowohl thermische, elektrische als auch elektromagnetische Verträglichkeit simulieren. Die bringen OEM den Vorteil, hinterher gar nicht erst langwierige Test- und Validierungsverfahren durchlaufen zu müssen. Das bringt uns allen Geschwindigkeit.

Sprechen wir über den Shopfloor. Wie gut lassen sich denn die steigenden Abrufe von Ihrer Produktion bewältigen?

Fastabend: Wir setzen - speziell auch bei den E-Mobilitäts-Lösungen - zunehmend auf Automatisierung. Und gehen hier mit hohen Investitionssummen in Vorleistung. Wir sind davon überzeugt, dass der Grad der erreichten Automatisierung zukünftig nicht nur über die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen entscheiden wird, sondern immer mehr auch den Grad der Freiheit definiert, verschiedene Standorte zu berücksichtigen. Was wiederum die Optimierung des CO2- Footprints möglich macht. Hinzu kommt: Neue technische Anforderungen wie funktionale Sicherheit sowie technische Sauberkeit erfordern teils eine komplett neue Prozessgestaltung in der Produktion. Das gibt uns derzeit definitiv einen regelrechten Industrialisierungsschub in Richtung weiterer, sukzessiver Automatisierung. Die angespannte Lage am Arbeitsmarkt tut dazu ihr übriges. Um Vorteile einer Automatisierung für uns noch weiterführender nutzen zu können, arbeiten wir intern, aber auch in Kooperationen an Design-to-Manufacturing und Standardisierungs-Initiativen.

Lean-Themen wie 5S oder KVP werden dabei nicht alt, oder?

Fastabend: Lean ist die Basis. Wir haben dazu Ausbildungssysteme und Zertifizierungsprogramme aufgesetzt. Es erfüllt mich auch mit Stolz, dass unser mittleres Management im Werk Poysdorf über green und yellow belts verfügt. Dieses Verständnis wollen wir künftig noch viel stärker in indirekte Bereiche tragen.

Sie setzen auch auf weiterführende Excellence Trainings....

Fastabend: Trainings und auch pragmatische Methoden, wie "standing in a circle" öffnen einem wirklich erst die Augen. Wie überall im Unternehmen gibt es auch in der Produktion Optimierungspotenzial. Diese werden in solchen Trainings deutlich und geeignete Problemlösungs- und Verbesserungsmethoden pragmatisch vermittelt.

Sprechen wir über den Raum, der Innovationen erst hervorbringt. Es gibt eine Ausbildungsakademie - den GG Hub. Welcher Idee folgt dieser?

Fastabend: Wir haben schon vor der Pandemie großes Augenmerk darauf gelegt, die Kompetenzen unserer Mitarbeiter weiterzuentwickeln und an der Zukunft zu orientieren. Der GG Hub ist jene Ausbildungsakademie, die Mitarbeiter all unserer Standorte durch Trainings unterstützt. Zusätzlich verfolgen wir weiterhin gezieltesTalentmanagement. Und arbeiten auch an Nachfolgeplanungen für Schlüsselfunktionen. Der Fokus Mensch ist einer von vier Kernwerten des Unternehmens. Wir haben kürzlich eine Fachkarriere in einem Pilotbereich eingeführt. Gleichwertig gefördert und honoriert, ist sie einer Führungskarriere gleichgestellt. Das Model wird sukzessive ausgerollt werden. Daneben investieren wir viel in die Lehrlingsausbildung und kooperieren mit Universitäten. Eine hervorragende Möglichkeit, Kontakte frühzeitig zu pflegen.

Sehen Sie noch Spielraum bei der Agilität der Organisation?

Fastabend: Bis Ende des Jahres wird unser Headquarters in Wien umgebaut. Eine neue, moderne und offene Arbeitsumgebung entsteht und die Belegschaft fiebert schon gespannt der Fertigstellung entgegen. Mobile Working als Learning aus der Pandemie wird insbesondere im Headquarter sehr gut und gerne angenommen. Darüber hinaus stellen wir insgesamt fest, dass sich ein agilerer Mindset über alle Bereiche und Levels hinweg etabliert hat. Bei Projekten, die längerfristige Planung voraussetzen, wird jetzt automatisch viel flexibler in die Zukunft gedacht.

Wenn Sie das Unternehmen mit einem Konzern in Aktionärshand vergleichen: Warum läuft Innovation in einem Unternehmen in Familienbesitz besser?

Fastabend: Es gibt eine große Verbundenheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das schlägt sich an vielen Stellen nieder. Man denkt und handelt freier. Und geht gemeinsam durch dick und dünn. Also selbst durch kritische Phasen, in denen in anderen Organisationen vielleicht das Vertrauen in das Unternehmen verloren ginge. Das ist ein echtes Asset.