Hintergrund : Fall Wirecard: Deutschland bemüht sich um Schadensbegrenzung

Wirecard Markus Braun
© APA/dpa/Lino Mirgeler

Die milliardenschwere Pleite von Wirecard sorgt nicht nur an der Börse für Turbulenzen, sondern setzt in Deutschland auch die Politik unter Druck. Der FDP-Politiker Frank Schäffler brachte einen Untersuchungsausschuss des Bundestages ins Spiel, um den Bilanzskandal aufzuklären, der Banken und Anleger viel Geld kostet.

Als erste Konsequenz will die deutsche Bundesregierung die Zusammenarbeit mit der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) kündigen, die trotz der jahrelangen Medienberichte über mögliche Bilanzunregelmäßigkeiten bei Wirecard nicht aktiv wurde. Das sei nur ein erster Schritt, sagte die Sprecherin des Finanzministeriums am Montag in Berlin. Der Fall Wirecard müsse umfassend aufgeklärt werden.

Der Zahlungsabwickler hatte in der vergangenen Woche Insolvenz beantragt, weil in der Bilanz 1,9 Milliarden Euro fehlen. Vorläufiger Insolvenzverwalter ist der Münchener Rechtsanwalt Michael Jaffe, der etwa die Pleite der Kirch-Gruppe betreut hatte. "Die Vorgänge um Wirecard sind skandalös", sagte FDP-Politiker Schäffler der Nachrichtenagentur Reuters. Er kritisierte auch die Aufsichtsbehörde BaFin, die dem Finanzministerium unterstellt ist. "Es gibt offenbar persönliche und strukturelle Defizite bei der BaFin." Nun müssten die Probleme analysiert werden. Am Nachmittag tagt der Verwaltungsrat der Finanzaufsichtsbehörde, dem auch Schäffler angehört. Für die Sitzung habe er einen Bericht vom Vorsitzenden des Gremiums, Finanzstaatssekretär Jörg Kukies, angefordert.

Hintergrund:

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Die BaFin hatte die auch "Bilanzpolizei" genannte DPR im Februar 2019 beauftragt, den Abschluss von Wirecard für das erste Halbjahr 2018 näher zu prüfen. Bis zur Pleite des Dax-Konzerns lag kein Ergebnis vor. DPR-Präsident Edgar Ernst sagte der "FAZ", es sei im Wesentlichen nur ein Mitarbeiter damit beauftragt gewesen. FDP-Politiker Schäffler kritisierte dies: "Das ist wie mit Wattebäuschchen auf Elefanten zu schießen. Dass die BaFin 15 Monate auf einen Bericht der DPR trotz der Hinweise auf Unregelmäßigkeiten wartet, ist ein Unding."

Auch auf den Philippinen, wo die fehlenden 1,9 Milliarden Euro angeblich liegen sollten, ist man um Aufklärung bemüht. Die Anti-Geldwäsche-Behörde werde eine "schnelle und gründliche" Untersuchung starten, um weitere involvierte Gesellschaften und Personen zu finden, sagte deren Vorsitzende Mel Georgie Racela zu Reuters. Genau ansehen werde sich die Behörde vor allem drei Unternehmen, die im Zusammenhang mit dem deutschen Zahlungsabwickler stünden - Centurion Online Payment International, PayEasy Solutions und ConePay International.

Der von Wirecard offenbar als Treuhänder eingesetzte philippinische Anwalt Mark Tolentino wies eine Verantwortung für die Pleite des Zahlungsabwicklers von sich. Er habe sechs Bankkonten für eine in Singapur ansässige Firma eröffnet, aber bis zum Bekanntwerden des Skandals nicht gewusst, dass sie für Wirecard waren, sagte er in einem Telefoninterview mit Reuters. Auf den Konten seien nie mehr als ein paar hundert Euro gewesen. "Jeder zeigt mit dem Finger auf mich, und stellt mich als Dieb des fehlenden Geldes dar", sagte er. "Ich möchte meinen Namen reinwaschen. Ich bin ein Opfer von Identitätsdiebstahl und gefälschten Nachrichten."

Der von Wirecard fristlos entlassene Vorstand Jan Marsalek wird laut "Handelsblatt" inzwischen per internationalem Haftbefehl gesucht. Die Staatsanwaltschaft München wollte sich dazu nicht äußern. Der Österreicher war nach seiner Entlassung auf die Philippinen geflogen. Wo er sich derzeit aufhält, ist nicht bekannt. Insidern zufolge hält sein Anwalt weiterhin Kontakt zu den Münchener Ermittlern.

Der deutschen Wirecard Bank droht unterdessen nach der Insolvenz der Mutter ein Moratorium durch die BaFin. Dann dürfte das Geldhaus weder Zahlungen leisten, Gelder entgegen nehmen oder Vermögensgegenstände veräußern, die Kunden kämen nicht an ihr Geld. Bisher hat die BaFin bei der Wirecard Bank nur einen Sonderbeauftragten eingesetzt, der die Zahlungsströme überwacht und sie zum Teil auch unterbunden hat. Ein Moratorium dürfte Kunden von Wirecard hart treffen. Das Unternehmen aus Aschheim bei München wickelt für viele Konzerne Kreditkartenzahlungen ab. Ein Wechsel zu einem anderen Anbieter dürfte mehrere Wochen dauern, solange könnten Kunden beim Händler erst einmal nicht mehr mit Kreditkarte zahlen - außer, der Händler nutzt auch andere Zahlungsdienstleister. Auch nutzen Start-ups die Wirecard Bank, um ihre Dienstleistungen erbringen zu können.

Trotz des riesigen Bilanzskandals und des Kurssturzes der Wirecard-Aktie bleibt der Konzern nach den aktuellen Regeln voraussichtlich bis September im Leitindex DAX. "Das Vertrauen in den Kapitalmarkt hat offensichtlich in den letzten Tagen gelitten", erklärte der Börsenbetreiber am Montag. Die Börse will deshalb die Regeln für die DAX-Mitgliedschaft überarbeiten. Das dürfte allerdings einige Monate dauern. (reuters/apa/red)

Die Finanzaufseher sind offenbar jahrelang vor einer strengeren Kontrolle von Wirecard zurückgeschreckt. 2017 entschieden sie sich dagegen, den Zahlungsabwickler als Finanzholding einzustufen und damit einer strengeren Aufsicht zu unterwerfen, sagte eine mit der Angelegenheit vertraute Person der Nachrichtenagentur Reuters.

In die Entscheidung - die zu einer Zeit fiel, als Berichte über mögliche Bilanzfälschungen schon mehrfach für Aufsehen gesorgt hatten - seien neben der deutschen Finanzaufsichtsbehörde Bafin auch die Deutsche Bundesbank und die Europäische Zentralbank (EZB) eingebunden gewesen. 2019 sei erneut eine Prüfung eingeleitet, diese aber bis zur Wirecard-Pleite vorige Woche nicht abgeschlossen worden.

Es sei unsicher gewesen, ob Wirecard rechtlich als Finanzholding einzustufen gewesen sei und wegen langwieriger Abstimmungsprozesse zwischen den Behörden habe sich der Entscheid hingezogen, sagte eine zweite mit der Sache vertraute Person. Bundesbank und EZB lehnten eine Stellungnahme ab.

Vor allem der Bafin werfen Kritiker vor, bei Wirecard zu lange nicht genau hingeschaut zu haben. Dabei waren in den vergangenen Jahren immer wieder Vorwürfe der Bilanzmanipulation gegen den Konzern laut geworden. Da dieser nicht als Finanzholding eingestuft wurde, fehlte den Behörden aber das scharfe Schwert der Bankenaufsicht, um strenger vorzugehen. So kann die Bafin nach dem Kreditwesengesetz Sonderprüfer in eine Bank schicken, um Vorwürfe zu prüfen und dem Institut auf den Zahn zu fühlen. Bei anderen Unternehmen muss die Behörde dagegen zunächst die auch als "Bilanzpolizei" bekannte Deutsche Prüfungsstelle für Rechnungslegung (DPR) einschalten.

Sie wurde im Februar 2019 von der Bafin beauftragt, den Abschluss von Wirecard für das erste Halbjahr 2018 näher zu prüfen. Doch bis zuletzt lagen keine Ergebnisse vor, wie eine Bafin-Sprecherin sagte. Die DPR verfügt nur über wenige Ressourcen, im Wesentlichen beschäftigte sich nur ein einzelner Mitarbeiter mit der Wirecard-Bilanzprüfung. Als Konsequenz aus dem Wirecard-Skandal hat die Bundesregierung den Vertrag mit der DPR gekündigt, die als privater Verein organisiert ist und dem unter anderem Banken- und Wirtschaftsverbände angehören. In den meisten anderen europäischen Ländern sind dagegen staatliche Behörden für die Bilanzkontrolle zuständig.

Nach der Wirecard-Insolvenz sieht sich vor allem die Bafin massiver Kritik ausgesetzt, deutsche Oppositionspolitiker haben die Absetzung von Bafin-Chef Felix Hufeld gefordert. Doch der Fall wirft auch einen Schatten auf andere Institutionen und die Regulierung. "Wir lieben Selbstregulierung in Deutschland", sagte der Finanzprofessor Jan Pieter Krahnen. "Aber das funktioniert nur bei schönem Wetter. Kapitalmarktüberwachung genießt in Deutschland eine niedrige Priorität." Auch das SPD-geführte Finanzministerium, zu deren Verantwortungsbereich die Bafin gehört, gerät ins Visier. "Die Vorgänge um Wirecard sind skandalös", sagte der FDP-Politker Frank Schäffler zu Reuters. "Natürlich trägt das Finanzministerium ganz klar eine Verantwortung."

Schäffler gehört dem Bafin-Verwaltungsrat an, ebenso wie der CDU-Politiker Alexander Radwan. Dieser sagte, die Rolle des Finanzministeriums müsse durchleuchtet werden. "Der Fall wirft die Frage auf, ob die Finanzaufseher wieder einmal an der Komplexität der Finanz- sowie IT-Welt und ihrer Produkte gescheitert sind", sagte er zu Reuters. "Wirecard könnte von daher auch nur die Spitze des Eisberges sein. Offenbar ist es auch zwölf Jahre nach der Finanzkrise nicht gelungen, solche Exzesse zu verhindern."

Deutschlands Finanzstaatssekretär Jörg Kukies fordert als Konsequenz aus dem Wirecard-Skandal mehr Befugnisse für die Aufseher. "Wir sprechen hier von einem Bilanzierungsskandal, bei dem alle Aufsichts- und Kontrollmechanismen, die wir haben, zu langsam waren oder gar nicht in Kraft gesetzt wurden", sagte Kukies am Montagabend bei einer Veranstaltung. "Das muss alles schonungslos angeguckt werden, wo hat es Defizite gegeben und wie kann man die angehen." Die Regelung der Bilanzkontrolle sei in Deutschland im europäischen Vergleich "extrem lax", so der SPD-Politiker.

In Fällen wie Wirecard "braucht man im Prinzip Staatsanwaltschafts-ähnliche Kompetenzen für die Aufseher. Sonst wird das nicht funktionieren." Man müsse jetzt sachlich diskutieren, wem man welche Autorität geben müsse, zusätzlich zu denen, die es jetzt schon gibt. Man dürfe auch nicht der Deutschen Prüfungsstelle für Rechnungslegung (DPR) den Schwarzen Peter zuschieben, denn auch sie dürfe nicht wirklich in die Tiefe bohren. "Die hat Expertise darüber, ob Bilanzierungsmethode A, B oder C plausibel ist, hat aber keine investigative Möglichkeit. Das fehlt einfach in Deutschland", so Kukies.

Der Leerverkäufer Fraser Perring, der 2016 Wirecard mit Vorwürfen der Bilanzmanipulation ins Visier genommen hatte, sieht sich durch die Pleite des Zahlungsanbieters rehabilitiert. "Die Aufseher haben die Bedenken ignoriert und stattdessen die jenigen verfolgt, die vor diesem großen Betrug gewarnt haben", sagte Perring. Die von Perring betriebene Firma Zatarra Research hatte Wirecard 2016 in einer im Internet verbreiteten Analyse betrügerische Machenschaften vorgeworfen, die Wirecard-Aktie brach ein. Daraufhin gingen die Bafin und die Staatsanwaltschaft München gegen Perring vor. Das Strafverfahren wegen des Verdachts der Marktmanipulation wurde im Mai vom Amtsgericht München gegen eine Geldauflage im niedrigen fünfstelligen Bereich eingestellt. (reuters/apa/red)

BaFin-Chef Felix Hufeld hat sich laut Teilnehmerkreisen bei einer Sitzung des Verwaltungsrats der Finanzaufsicht gegen Vorwürfe der Schlamperei im Zusammenhang mit der Wirecard-Pleite verteidigt. Er habe wegen der Rechtslage gar nicht bei der Wirecard-Bilanzprüfung eingreifen dürfen, sondern sich auf die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) verlassen müssen, sagte Hufeld am Montag nach Angaben von Teilnehmern.

Auch habe es nicht an der BaFin, sondern an der Europäischen Zentralbank (EZB) gelegen, dass Wirecard nicht als Finanz-Holding eingestuft wurde. Ohne diese Einstufung hatte die Finanzaufsicht vergleichsweise wenig Kontrollrechte über den Konzern.

Teilnehmern zufolge sagte Hufeld, die BaFin habe Wirecard ursprünglich als Finanz-Holding eingestut. "Dann hat Wirecard einige Umstrukturierungen vofgenommen. Daraufhin hat die EZB Wirecard als Technologieunternehmen eingestuft und nur die Tochter als Bank", sagte Hufeld demnach. Die dem Finanzministerum untergeordnete BaFin steht wegen des Wirecard-Skandals massiv unter Druck, Hufeld kämpft um seinen Job. Mehrere Oppositionspolitiker haben auch personelle Konsequenzen bei der Behörde gefordert.

Die BaFin hatte die auch als auch "Bilanzpolizei" bekannte Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) Anfang 2019 beauftragt, den Wirecard-Abschluss für das erste Halbjahr 2018 näher zu prüfen. Bis zur Wirecard-Pleite gab es noch kein Ergebnis. Der Bund hat als Konsequenz den Vertrag mit der DPR zum Ende 2021 gekündigt. (reuters/apa/red)