Pharmazeutische Industrie : „Die Zeit der Blockbuster ist vorbei“

INDUSTRIEMAGAZIN: Herr Rumler, jede Branchenanalyse der Pharmawirtschaft macht mit einer Krisenüberschrift auf. Die Problemthemen heißen Patentverlust, explodierende Forschungskosten und schwindender Wirkstoffnachschub. Ist die Pharmawirtschaft krank? Robin Rumler: Unsere Branche ist im Umbruch. Die Lebenserwartung liegt derzeit um die 80 – bei Männern etwas niedriger, bei Frauen etwas höher. Jedes Jahr steigt die durchschnittliche Lebenserwartung um 3 Monate. Wir werden also immer älter. Es ist gesellschaftlicher Konsens, 90 und 100 werden zu wollen. Das rückt neue Erkrankungen in den Mittelpunkt, die die Pharmawirtschaft vor teilweise noch ungelöste Herausforderungen stellen. Medikationen für Alterskrankheiten und -beschwerden sind nichts Neues ... Rumler: In den vergangenen 80 oder 90 Jahren gab es einen anderen Fokus. Bis dahin galt es, die großen Geißeln der Menschheit aus dem Weg zu räumen. Es ging um Wirkstoffe gegen Diabetes, Infektionen, Polio. Dann ging es um die Erkrankungen der Lebensphase 50 plus: der Tumor, das Klimakterium, Bluthochdruck, das Thema Alzheimer, Herz-Kreislauf-Beschwerden. In den 80er- und 90er-Jahren wurden dabei sehr große Fortschritte erzielt. Seither sind einige Jahre ins Land gegangen. Die Patente reifen ab. Die Schutzdauer eines Patentes liegt bei 20 Jahren. Wirklich am Markt – also verkaufswirksam – sind die Medikamente nach Abschluss aller Tests im Schnitt nur acht Jahre. Jetzt finden wir uns in einer Phase, in der die Patentverluste kumulieren. Analysten kritisieren, dass zu wenig neue Wirkstoffe aus der Pipeline kommen? Rumler: Wenn sich ein Cholesterinsenker bewährt, gibt es wenig Bedarf für ein neues Medikament. Es ist sehr schwer, etwas sehr Gutes mit etwas noch Besserem zu ersetzen. Das heißt, man kann einen auslaufenden Blockbuster nicht einfach auswechseln, wie dies bei einem Automodell der Fall wäre. Das Medikament an sich bleibt ja bestehen, es hat sich nur die Möglichkeit der Preisgestaltung verändert. Aber Tatsache ist auch: 2012 hat die Pharmaindustrie so viele Medikamente wie seit 16 Jahren nicht mehr auf den Markt gebracht. Und für 2013 sieht es mit neuen Medikamenten ebenso sehr gut aus. Es gibt genug andere Krankheiten, an denen sich die Pharmawirtschaft messen kann ... Rumler: Natürlich. Aber es sind andere Formen der Erkrankungen, die in den Mittelpunkt rücken. Die neuen pharmakologischen Herausforderungen liegen heute in der Demografie: Wenn die Gesellschaft immer älter wird, nehmen zwangsläufig die altersbedingten Leiden zu: Das sind onkologische Erkrankungen in ihren sehr speziellen Ausprägungen, neuropsychiatrische Krankheiten wie Demenz, Parkinson oder Depressionen, aber auch Infektionen, die als unmittelbare Todesursache immer häufiger werden. Tatsache ist, dass diese Erkrankungen sehr spezielle, oft individuelle Therapien und Medikamente benötigen. Das bedeutet, dass der Schwerpunkt der Pharma-Innovationen seit Jahren in Richtung personalisierte Medizin rückt: Die richtige Arznei für einen speziellen Patienten zum richtigen Zeitpunkt. Die Zielgruppe pro Medikament wird kleiner? Rumler: Ich würde eher sagen, dass die Anforderungen an ein Medikament spezieller werden. Aber es ist klar, dass die Zeit der Blockbuster vorbei ist. Das Medikament gegen den Nierenzellentumor wird weniger oft gebraucht als ein Diabetesmittel. Ein Aids-Medikament wäre doch ein veritabler Blockbuster. Rumler: Keine Frage: Das Schlüsselmedikament gegen eine HIV-Infektion hat das Potential für einen Blockbuster. Aber Medizin und Pharmawirtschaft haben auf dem Gebiet bereits große Erfolge. Freddy Mercury, der Leadsänger von Queen, ist 1991 gestorben, zehn Jahre nach seiner Indikation. Wer eine HIV-Diagnose in den 80ern erhielt, musste davon ausgehen, dass seine Krankheit mittelfristig letal enden wird. Heute hat die Forschung Therapiekombinationen entwickelt, die HIV-Patienten die Aussicht auf eine normale Lebenserwartung bescheren. Aus einer tödlichen Erkrankung ist ein chronisches Leiden geworden. Forscht die Pharmawirtschaft nur dann, wenn die Zielgruppe groß genug ist? Rumler: Der Vorwurf ist alt. Der Trend zur personalisierten Medizin unterstreicht genau das Gegenteil. Richtig aber ist, dass es ungleich schwieriger geworden ist, die richtigen Entscheidungen in der Forschung zu treffen. Es dauert heute zehn bis zwölf Jahre, dass ein Medikament die Zulassung erhält. Bis dahin sind bis zu 1,5 Mrd. Dollar eingesetzt worden. Dabei ist das Risiko, dass ein Wirkstoff die Testphasen nicht besteht, größer geworden. Österreich hatte in der Vergangenheit eine überproportional hohe Dichte an Forschungsstandorten. Das hat sich geändert. Insgesamt gingen an die 1000 Forschungsjobs auf Konzernebene nach diversen Schließungen verloren. Ist Österreich als Forschungsstandort unattraktiv geworden? Rumler: Die Innovationsleistung der österreichischen Pharmaindustrie wächst und ist über dem europäischen Schnitt. In Österreich sind in der Vergangenheit Standorte geschlossen werden, aber das hat in erster Linie mit Konzernentscheidungen und nichts mit österreichischer Standortqualität zu tun. In der Grundlagenforschung haben wir heute eine extrem emsige Biotech-Szene, die ständig wächst. Und dann gibt es das Thema der klinischen Forschung, in der unverändert die klassischen Pharmaunternehmen tätig sind. Derzeit laufen rund 300 Studien in Österreich. In Deutschland, das zehnmal so groß ist und immer schon ein Pharmaland war, ist es im Verhältnis deutlich weniger.Interview: Josef Ruhaltinger Zur PersonRobin Rumler, Jahrgang 1963, ist promovierter Mediziner und startete seine Karriere als Assistenzarzt an der chirurgischen Abteilung der Universitätsklinik Wien. 1992 folgte der Einstieg in die pharmazeutische Industrie. 2004 dockte er bei Pfizer als Marketing-Direktor an. Im Jänner 2009 übernahm er in Doppelfunktion die Business Unit Primary Care als auch die Position des Geschäftsführers von Pfizer in Österreich. Seit April 2010 ist der gebürtige Wiener Präsident der Pharmig, des Verbands der pharmazeutischen Industrie Österreichs.