Interview : „Die Pandemie zwingt uns, neue Wege zu gehen“

© Universität Graz

Österreich läuft auf Notbetrieb. Auch Sie haben eine Konferenz mit Kollegen aus Schweden gerade eben per Videotelefonie abgehalten. Lernen wir durch Corona, dass unser globales System viel ressourcenschonender funktionieren kann?

Karl Steininger Die Konferenz mit Schweden hätte ohnehin per Video stattgefunden, insofern ist das kein gutes Beispiel. Aber im Kern haben Sie recht: Die Coronakrise ermöglicht es uns, Dinge verstärkt auszuprobieren, die wir früher, warum auch immer, nicht ausprobiert haben. Jetzt müssen wir Wege finden, wie die Wirtschaft auch bei massiv eingeschränkter physischer Mobilität überlebt.

Wird die Corona-Krise in einigen Jahren als der Wendepunkt bezeichnet werden, an dem die Deglobalisierung begann?

Steininger Um das zu beurteilen, müsste ich ein Hellseher sein. Aber man sollte im Auge behalten, dass Tendenzen in Richtung globale Entflechtung schon seit einiger Zeit bestehen. Additive Produktionsverfahren wie der 3D­-Druck ermöglichen es zum Beispiel, dass Produktion wieder zunehmend lokal stattfinden kann. Ähnlich ist es bei der Flow-­Chemistry, wo man statt in sehr großen Chargen nun auch in kleinen Einheiten produzieren kann. Das ist zum Beispiel für die so stark von Asien abhängige Pharma-­In­dustrie relevant. Ich denke daher, dass Entwicklungen zum Dezentralen durch die Corona-Krise sicher einen Anschub bekommen werden.

Zugleich dürften aber andere Anliegen wie der Klimaschutz einen ziemlichen Rückschlag erleiden. Etwa wenn wir an den Ölpreis denken, der sich derzeit bei 25 Dollar bewegt...

Steininger Ja, wobei der letzte große Preisrutsch weniger mit der Corona-­Krise als mit dem Preiskrieg zwischen Saudi ­Arabien und Russland zu tun hatte. Aber natürlich besteht die Gefahr, dass die Preissenkung sich auf die Bereitschaft zum Ausstieg negativ auswirkt. In einem normalen Szenario ohne Corona­-Krise könnte man das abfedern, indem man den Preis dennoch stabil hält und die Mehreinnahmen dazu nützt, um den Ausstieg aus den fossilen Energieträgern vorzubereiten. Klimaschutz hat allerding auch in normalen Zeiten mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass viele Menschen ihn als eine Bedrohung in der Zukunft sehen. Bedrohungen in der Zukunft werden oft unterschätzt, unmittelbare Gefahren hingegen überschätzt.

Wir überschätzen Corona und vergessen darüber andere Bedrohungen wie den Klimawandel?

Steininger Ob der erste Teil Ihrer Aussage stimmt, werden wir erst wissen, wenn die Corona­-Krise vorbei ist. Ich habe aber kürzlich mit einem österreichischen Gesundheitsexperten gesprochen, der zumindest damals noch davon ausgegangen ist, dass es ohne die wichtigen Maßnahmen, die in­ zwischen gesetzt wurden, vielleicht 1.500 zusätzliche Tote geben würde, die tatsächlich auf das Virus zurückzuführen sind, also ungefähr so viele wie auch aufgrund der alljährlichen Grippewelle. Das ist ziemlich genau auch die Zahl, die wir in einer unserer Modellrechnungen als die Zahl der zusätzlichen Toten durch Hitzesommer zur Jahrhundertmitte ermittelt haben. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will die eine Bedrohung nicht gegen die andere ausspielen. Aber unsere Wahrnehmung ist in beiden Punkten doch sehr unterschiedlich. Corona ist sehr präsent, die Hitzetoten nicht. Und diese sind bei weitem nicht die einzige Gesundheitsbedrohung durch den Klimawandel.

Weil die Bedrohung durch die Pandemie unmittelbar das Gesundheitssystem zu überlasten droht, müssen die Maßnahmen zur Eindämmung gezwungenermaßen konkreter und viel schneller erfolgen als jene gegen den Klimawandel. Sind Sie überrascht, wie schnell Regierungen freiheitlich organisierter Demokratien weltweit derzeit agieren – und könnte man daraus nicht den Vorwurf ableiten, im Falle des Klimaschutzes passiere zu wenig Konkretes?

Steininger Ich denke, eine Antwort auf den Vorwurf, im Klimaschutz passiere zu wenig Konkretes, muss zwei Punkte umfassen. Einerseits ist es absolut richtig, dass wir das Ziel formuliert haben, Österreich bis 2040 treibhausgasneutral zu machen. Andererseits ist es aber so, dass wir als Gesellschaft heute ja gar nicht genau sagen können, wie die Welt im Jahr 2040 aussehen wird. Das Beispiel Schweden, das vor zwei Jahren per Gesetz erklärt hat, bis 2045 klimaneutral werden zu wollen, zeigt allerdings, dass sich konkrete Handlungsschritte ergeben, sobald ein Ziel formuliert ist. In Schweden hat jeder der sieben energieintensivsten Industriesektoren sehr schnell einen Pfad, eine Roadmap entwickelt, bei deren Einhaltung die Ziele erreicht werden können.

Die Frage ist allerdings: Was kann Unternehmen dazu motivieren, auf diesem Pfad auch tatsächlich zu bleiben?

Steininger In erster Linie Anreize. Man kann zum Beispiel die Implementierung von Anlagen fördern, die eine treibhausgas­ freie Produktion ermöglichen. Das hätte zusätzlich den Effekt, dass damit auch die Hersteller von solchen Anlagen gefördert werden, und viele davon kommen aus Österreich. Anreize würden aber auch den Standort sichern und der Abwanderungsgefahr entgegenwirken. Zugleich ist es aber auch sehr wichtig, dass man branchenübergreifend denkt und handelt. Dann sind gewaltige Synergien möglich, etwa wenn CO2 aus der Stahl­ oder Zementindustrie verwendet wird, um Kunststoffe zu produzieren, die sonst mithilfe von fossilen Ausgangsprodukten hergestellt werden.

Dem steht allerdings gegenüber, dass viele Branchen, anstatt Kooperationen zu suchen, im Moment in eine Schockstarre verfallen sind und erst einmal abwarten, welche Klimaschutzmaßnahmen tatsächlich gesetzlich vorgeschrieben werden.

Steininger Das erlebe ich etwas anders. Der Eindruck, den ich in vielen Gesprächen gewonnen habe, ist, dass sich die CEOs der großen österreichischen Industrieunter­ nehmen der Klimaproblematik bewusst sind. Dass die Voestalpine hier ein sehr großes Engagement zeigt, ist kein Geheimnis, aber auch viele andere Unternehmen bereiten sich darauf vor, ihre Produktion fossil­ und treibhausgasfrei fortzuführen. Die einen machen es mit mehr Überzeugung, die anderen mit weniger, aber eine Grundbereitschaft sehe ich auf jeden Fall.

Wobei die meisten auf technische Lösungen setzen. Wenn es um die Frage nach einer etwaigen Einschränkung des Wachstums geht, ist das Verständnis vermutlich geringer.

Steininger Ich glaube, da geht es vor allem um die Frage, was wachsen soll. Es ist klar, dass manche Materialströme aufgrund der physikalischen Beschaffenheit unseres Planeten nicht unendlich wachsen können. Bei Dienstleistungen ist das anders. Es ist aber auch eine Frage, wie wir Wachstum messen. Ökonomen wie der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz bemängeln zu Recht, dass in der jetzigen Art, Wachstum zu messen, die Reparaturkosten nicht berücksichtigt werden, etwa die Folgen von Unfällen oder Umweltschäden. Deren Reparatur mag zwar das BIP erhöhen, sie bringt aber keinen Wohlstandsgewinn, sondern dient maximal dazu, ein schon früher vorhandenes Wohlstandsniveau wiederherzustellen.

Wie sollte man Wachstum aber dann messen?

Steininger Da gibt es viele Zugänge, zum Beispiel den Human Development Index oder den Inclusive Wealth Index, beide von den Vereinten Nationen erhoben. Das sind natürlich Hilfskonstruktionen, aber sie versuchen auch Faktoren wie Gesundheit, Alphabetisierung, Einkommensverteilung oder den Umgang mit der Umwelt zu berücksichtigen. Es ist letztlich eine politische Entscheidung, nach welchen dieser Faktoren eine Wirtschaft ausgerichtet wird.

Wachstum ist für eine funktionierende Marktwirtschaft allerdings unverzichtbar.

Steininger Das stimmt nicht. Adam Smith oder auch die Gleichgewichtsökonomie zeigen sehr klar das Gegenteil. Viel dringender ist im Moment aber ein anderes Problem, nämlich die Tatsache, dass Unternehmen nur dann nachhaltige Technologien und Geschäftsmodelle anbieten können, wenn es dafür Nachfrage gibt. Andererseits kann es keine Nachfrage geben, wenn die entsprechenden Produkte nicht existieren. Da haben wir ein Henne-Ei-­Problem. Und da kann die öffentliche Hand eine wichtige Rolle spielen, indem sie – und das steht auch im Regierungsprogramm – klimafreundliche Technologien selbst verstärkt nachfragt und da­ mit fördert. Bei Neubauten könnte sie zum Beispiel auf eine Ausführung achten, in der weniger Betonmasse verbaut wird und damit Treibhausgase eingespart werden. Es ist ja technisch möglich, bei gleicher Tragfähigkeit rund 40 Prozent von Beton einzusparen. Die Kosten für die neue Technologie sind dann aber, zumindest am Anfang, ein wenig höher.

Apropos Kosten: Im Regierungsprogramm ist als Stichwort auch eine Green Finance Agenda vorgesehen.

Steininger Da geht es vor allem um die Finanzierung durch Private. Da merke ich durch­ aus ein gestiegenes Interesse vonseiten der großen Anlagefirmen. Erst vor Kurzem war der gesamte Vorstand eines solchen Unternehmens einen ganzen Tag bei uns im Wegener Center, um sich aus erster Hand zu informieren, welche Kriterien zu berücksichtigen sind, um Investments als nachhaltig einstufen zu können.

Ein anderer wichtiger Punkt wird im Regierungsprogramm zwar erwähnt, aber nicht wirklich ausgeführt: eine CO2-Bepreisung. Was wäre da aus Ihrer Sicht wichtig? Und was ist unter den aktuellen Bedingungen durchsetzbar?

Steininger Konsensfähig sind sicher Dinge, die uns bei der täglichen Entscheidung unterstützen. Dass eben die ökologischen Folgen langer Transportwege eingepreist sind und ich im Supermarkt nicht ungewollt zu Tomaten vom anderen Ende der Welt greife, nur weil die billiger sind. Wichtig wird es aber auch sein, dass man zu einem Teil jenen die Kosten ersetzt, die als Folge einer CO2­Bepreisung auf treibhausgasfreie Energie umstellen müssen, egal ob das Industriebetriebe sind oder Private. Dabei ist allerdings auf andere Kriterien abzustellen als den tatsächlichen fossilen Energieverbrauch, denn man darf dabei nicht den Lenkungseffekt zerstören, der erzielt wer­ den soll.

Sie sind in der seltenen Position, als Wissenschaftler die Politik direkt beeinflussen zu können. Sie waren als unabhängiger Experte bei den Regierungsverhandlungen im Bereich Klimaschutz, Umwelt, Infrastruktur und Landwirtschaft dabei. Ihr Fazit: erhebend oder ernüchternd?

Steininger Beides. Es ist vor allem interessant zu sehen, wie bei einem Zusammentreffen von Politik und Wissenschaft unterschiedliche Realitäten aufeinanderprallen. Nur ein Beispiel: Für die Wissenschaft ist es ganz klar, dass wir unseren Energieverbrauch halbieren müssen, wenn wir bis 2040 treibhausgasfrei werden wollen. Für viele in der Politik ist das völlig unfassbar, weil dort die Meinung sehr weit verbreitet ist, dass Wachstum untrennbar mit der Steigerung des Energiebedarfs verbunden ist. Das mag zwar für einzelne Sektoren stimmen, generell ist es aber anders. Zwischen 2005 und 2017 ist der Energieverbrauch nur noch in vier Ländern der EU gestiegen, überall anders ist er auch absolut gefallen, obwohl es im gleichen Zeitraum zum Teil massive Steigerungen des BIP gab. Wenn Politiker solche Zahlen sehen, sind sie zunächst sehr erstaunt, aber auf Dauer bewirkt das schon ein Umdenken.

Ist von der Regierungsseite her geplant, Ihre Expertise auch in Zukunft zu nutzen?

Steininger Informell passiert das bereits. Ich bekomme immer wieder entsprechende Anfragen. Wie es formell weitergehen wird, wird man sehen. Ich würde regelmäßigen Austausch aber für sehr wichtig halten – für beide Seiten.

Merken Sie bei Ihrer täglichen Arbeit als Umweltökonom bereits Schwerpunktverschiebungen wegen Corona? Oder herrscht, abgesehen davon, dass Sie Ihre Lehre nun per Distance Learning abwickeln, Business as usual?

Steininger Erste Auswirkungen sind auf jeden Fall zu merken. Es wird bereits sehr stark darüber nachgedacht, wie man in Zukunft ökonomische Bedrohungen, wie sie jetzt sichtbar geworden sind, verhindern kann, etwa die Abhängigkeit von internationalen Lieferketten. Bei etwaigen Konjunkturpaketen nach der Krise wird man aber auch darauf achten müssen, nicht unvorsichtigerweise die Abhängigkeit der Wirtschaft von fossiler Energie weiter einzuzementieren. Vonseiten der Politik erlebe ich im Moment erfreulicherweise auch Interesse an Ideen und Vorschlägen, wie man das verhindern kann.

Das Klimathema ist also nicht vom Tisch?

Steininger Nein, absolut nicht. Die Frage ist, ob es klug ist, bei der nächsten großen Bedrohung, dem Klimawandel, wieder so zu handeln und zu warten, bis die Lage außer Kontrolle gerät. Die Parallelen zwischen der Corona­-Krise und der Bedrohung durch den Klimawandel sind für mich in diesem Punkt jedenfalls sehr deutlich.

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