Edge Computing : Die Edge kommt

Steuern vom Laptop aus
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Ralf. W. Dieter, Vorstandsvorsitzender von Dürr, bringt es im Interview mit dem Kundenmagazin der Hannover Messe, Industrial Pioneers, auf den Punkt: „Ich glaube, wir haben das Thema Cloud jahrelang falsch kommuniziert. Die großen Infrastrukturanbieter sind dafür verantwortlich und müssen erklären, wo die Daten sind, was damit getan wird. Wir erleben eine große Skepsis gegenüber Cloud-Anwendungen. Das Edge-Computing gewinnt an Bedeutung, das stimmt. Dazu kommt: In der jüngeren Vergangenheit wurde Big Data gehypt. Heute brauchen wir zur Problemerkennung oder Performance-Steigerung aber nur wenige Daten. Dafür reicht die Edge aus. Diese Lernkurve machen gerade viele Maschinenbauer.“

Dürr ist Mitgründer der Industrieplattform Adamos und ein weiteres Mitglied der Allianz sorgt dafür, dass die Rechenleistung der Edge weiter zunehmen wird. Adamos-Partner Zeiss entwickelt zusammen mit Trumpf und den Niederländern von ASML ein Verfahren für die Produktion neuer Chipgenerationen. Das Zauberwort heißt EUV - extremultraviolettes Licht, mit dem die Halbleiter belichtet werden. Nur diese Technologie ermöglicht es, Chips der nächsten Generation mit Strukturgrößen von unter sieben Nanometern zu produzieren, erklären die Entwickler. Das heißt, noch feinere Strukturen auf den Leiterplatten abzubilden und damit auf kleinstem Raum noch leistungsfähiger zu machen - davon wird die Edge profitieren. Und die Ingenieure arbeiten schon an der nächsten Generation von Chips - auch für Small Data-und Machine Learning-Anwendungen in der Industrie.

Machine Learning auf dem Sensor

Auch bei der Fraunhofer Gesellschaft konzentrieren sich Wissenschaftler auf Small Data statt Big Data. Die Vision ist eine sensornahe KI, die direkt in ein Sensorsystem integriert werden kann.

Mit dem Forschungsprojekt AIfES (Artificial Intelligence for Embedded Systems) hat ein Forscherteam am Fraunhofer IMS Vision umgesetzt und eine Machine-Learning-Bibliothek in der Programmiersprache C entwickelt, die auf Mikrocontrollern lauffähig ist, darüber hinaus aber auch andere Plattformen wie PC, Raspberry PI oder Android unterstützt.

AIfES fokussiert sich nicht auf die Verarbeitung großer Datenmengen, vielmehr werden nur die erforderlichen Daten übertragen, um sehr kleine neuronale Netze aufzubauen. „Wir folgen nicht dem Trend, der hin zur Verarbeitung von Big Data geht, sondern wir beschränken uns auf die absolut nötigen Daten und etablieren quasi eine Mikrointelligenz auf dem eingebetteten System, die die jeweiligen Aufgaben lösen kann. Wir entwickeln für jedes Problem neue Datenvorverarbeitungsstrategien und Merkmalsextraktionen, um möglichst kleine KNN realisieren zu können. Dies gewährleistest dann auch ein nachträgliches Lernen auf dem Controller selbst", erläutert Pierre Gembaczka, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer IMS. Mit mehreren Demonstratoren wurde dies bereits praktisch umgesetzt. So realisierte das Forscherteam eine Erkennung von handgeschriebenen Ziffern auf einem günstigen 8-bit Mikrocontroller (Arduino Uno). Dies war technisch nur möglich, da eine neuartige Merkmalsextraktion entwickelt wurde.

Hybride Systeme setzen sich durch

Und auch Siemens entdeckt die Edge für sich. Die Münchener planen unterhalb von Mindsphere eine Edge-App-Plattform, um dort auch Machine Learning-Anwendungen zu verkaufen. In einem deutschen Werk wird schon eine Anwendung geprüft.

Im Siemens Werk in Amberg produziert das Unternehmen eines seiner wichtigsten Produkte: die Simatic-Steuerung. Doch in der Oberpfalz werden auch Applikationen zum Download für Kunden entwickelt. App-Entwicklung neben der Hardware-Fertigung – wie geht das?

In der Vergangenheit röntgte eine Maschine alle Produkte, um Fehler auszuschließen. Ein Algorithmus wertet definierte Prozess-Daten aus (in diesem Fall 40 verschiedene Datensätze) und gibt eine Wahrscheinlichkeit ab, ob in der produzierten Charge ein Fehler vorhanden ist. Basierend auf dieser Wahrscheinlichkeit wird entschieden, ob die Charge geröntgt werden muss. In der Vergangenheit wurden 100 Prozent der Leiterplatten geröntgt, dieser Aufwand konnte durch diesen Algorithmus um 30 Prozent reduziert werden – bei gleicher Qualität. Der Algorithmus wurde über einen bestimmten Zeitbereich angelernt (Machine Learning), indem die Prozessdaten mit den Ergebnissen des Röntgen-Automaten über einen längeren Zeitraum zusammengeführt wurden.

Der nächste Schritt: „Wir neutralisieren die Anwendung und stellen sie unseren Kunden und Partnern auf Mindsphere zur Verfügung“, erklärt Ralf-Michael Franke, CEO der Siemens-Geschäftseinheit Factory Automation. Eine neue Software, ein neues Geschäftsmodell ist geboren. Mindsphere-Nutzer können dann die App mit ihren Produkten nutzen.

„Das Zusammenspiel von Edge und Cloud ist entscheidend“, erklärt Siemens-Vorstand Klaus Helmrich im Podcast KI in der Industrie. Mit der Edge, der Cloud und mit Automatisierungssystemen kann die Produktivität in der individualisierten Produktion 4.0 erhöht werden.

"Man muss nicht immer nur Deep Learning betreiben"

„Die meisten Firmen werden eine Hybrid-Lösung von Edge und Cloud fahren. Manche vielleicht sogar nur eine Edge-Lösung“, erklärt KI-Experte und Podcaster Peter Seeberg. Es mache keinen Sinn, nicht direkt an der Maschine machine learning zu betreiben, so Seeberg. Man müsse nicht immer Deep Learning betreiben.

„Gerade in der Bildklassifikation muss ein Algorithmus auch aus einem kleinen Datensatz so zu lernen, dass ich darauf aufbauen kann. Es kann sein das am Anfang eine Unwucht im Datenset drin ist, die ich ausgleichen muss, aber ich kann ein initiales Modell trainieren“, ergänzt Jan Forster von IBM im Gespräch mit Seeberg. Der Ansatz: Die Datenanzahl reduzieren, um auch kleinen und mittleren Unternehmen einen schnellen Zugang zu ermöglichen, um neue Geschäftsmodelle zu entwickeln - „ohne Zugriff auf fünf Milliarden Datenpunkte zu haben“. Mancher Anwender könne sich nicht eine Bilddatenbank für mehrere zehntausend Euro kaufen, heißt es in Expertenkreisen dazu. „Wir werden immer mehr Small Data-Anwendungen sehen“, ist Seeberg deshalb überzeugt.

Und wie steht IBM zur Cloud? „Besser IBM Cloud Private - wenn es passt Edge, wenn es passt Cloud. Es gibt Anwendungen da brauchen wir Geschwindigkeit und geringe Latenz, dann nutzen wir die Edge. Wenn wir Daten verarbeiten, die nicht schützenswert sind, wie beispielsweise 'ich sehe ein Licht und muss es klassifizieren', dann kann man die Farbklassifikation in der Cloud machen.“

Fest steht: Cloud funktioniert nicht in jedem Fall. Der Markt fordert neue Antworten. Das müssen die Anbieter lernen und tun das. Hybride Szenarien sind die Zukunft.