Smart Factory : Das Ende der Fabrik, wie wir sie kennen

Smart Factory
© Industriemagazin

In ganz Europa sprießen seit einigen Jahren die Smart Factories wie Pilze aus dem Boden – teils mit staatlicher Unterstützung oder durch privatwirtschaftliche Organisationen gefördert. Sie sollen den Mittelstand für die Produktion der Zukunft begeistern und an neuen Kommunikations-, Arbeits- und Produktionstechnologien forschen – eine Reise in die industrielle Zukunft?

Diese steckt in Kisten, in weißen, fahrbaren Kisten, denn Smart Factories sind vor allem eines – modular. „Wir müssen die digitale Fabrik so einfach wie Lego-Bausteine auf-, aus- und umbauen können“, erklärt Detlef Zühlke von der SmartFactory in Kaiserslautern – die Vorzeigeeinrichtung in Deutschland. Zühlke und seine Partner zählen zu den Vordenkern, wenn es um die Smart Factory geht – 2005 starteten sie bereits.

Harting, Pilz, Siemens oder Bosch bestücken in Kaiserslautern jeweils ein Modul mit ihrer Technik – im Zusammenspiel entsteht die Flexibilität, die geforderte Individualität und vielleicht sogar Intelligenz der Fabrik. „Die smarte Fabrik bekommen wir nur mit smarten Bausteinen verwirklicht. Das heißt, durch eine starke Modularisierung und über Standards, sowohl in der Netzwerk- als auch in der dafür eingesetzten Internettechnologie“, erklärt Zühlke.

Smarte Produktion für neues Geschäftsmodell

Doch was bringt die Modularität? Ein Kunde bestellt seit mehreren Jahren Rahmen, die klassisch gefertigt werden. Wenn der Kunde nun für jeden fünften Rahmen eine individuelle Beschriftung wünscht, dann fordert das eine gegenwärtige Industrieproduktion heraus – Umbau der Fördertechnik, neuer Maschinenpark, neue Softwareprogrammierung. Über Module, die sich schnell ab- und ankoppeln lassen, kann das Unternehmen darauf reagieren. Aber: Alle Module müssen miteinander sprechen können, müssen sich verstehen – Standards sind in der Smart Factory Voraussetzung für modulares Fertigen.

Die Smart Factory will neue Kundenbedürfnisse befriedigen, entwickelt damit auch neue Geschäftsmodelle für den Mittelstand. Der Kompressorenhersteller Boge hat das schnell erkannt: Continuous Improvement Programme nennen die Ostwestfalen ihre Idee. Das Prinzip: Boge wertet die Daten der Maschinen im laufenden Betrieb aus und identifiziert Verbesserungspotenziale zur Energieeinsparung oder Laufzeitverlängerung. Mithilfe intelligenter Datenanalyse entwickeln die Ingenieure neue Bauteile oder Softwarelösungen, die passgenau auf die Bedürfnisse jedes einzelnen Kunden zugeschnitten sind. Durch den modularen Aufbau des Boge HST, für den das Programm entwickelt wurde, sei ein Komponentenaustausch in kürzester Zeit möglich, versichern die Entwickler stolz. Und das Geschäftsmodell? Der Kunde bezahlt nichts für die Leistung von Boge, er teilt. Anstatt einen festen Preis für die Soft- oder Hardware-Updates zu erheben, teilen sich Kunde und Unternehmen für einen vereinbarten Zeitraum einen Teil der tatsächlich eingesparten Kosten. Somit entsteht kein Investitionsrisiko für den Kunden. Zu Deutsch: Boge „verschenkt“ Hardware, weil die Software das empfiehlt, und vertraut auf seine Ingenieure, seine Hard- und Softwarekompetenz und ist am Gewinn beteiligt. Das setzt aber auch eine neue Form der Produktion voraus – eine flexible. Eine Kombination aus Digitalisierung, Automation und Handwerk war die Lösung, um den Kompressor sowohl variantenreich als auch prozesssicher zu fertigen – unabhängig vom Erfahrungsschatz der Mitarbeiter.

Digitale Assistenten

Ein digitalisiertes Assistenzsystem ermöglicht eine schnelle Einarbeitung und eine ergonomische Durchführung auch von komplexen Arbeitsschritten. Die Bauteile „kennen“ ihre Eigenschaften und die Erfordernisse in der Fertigung. So erzeugt allein die Bauteilcodierung eine Projektion der Arbeitsanweisungen und Montageinformationen, die direkt im Sichtbereich des Beschäftigten erscheinen. Pick-to-Light erleichtert die Montage der benötigten Teile, die über einen modularen Baukasten zur Verfügung stehen. Durch die Verbindung zum ERP-System stellt die jeweilige Prozesstechnologie automatisch die bauteilspezifisch relevanten Parameter ein. Das intelligente Fertigungskonzept ermöglicht eine lückenlose Rückverfolgbarkeit relevanter Kennzahlen pro Kompressor. Eine Andon-Tafel informiert jederzeit über den aktuellen Status der Fertigungslinien. Die Smart Factory befindet sich in permanenter Evolution – modular eben. Zudem soll das Fertigungsprinzip in Zukunft auch auf andere Baureihen übertragen werden.

Rund zwei Millionen Euro hat das Unternehmen in die neue Fertigung investiert und bekam Hilfe von der Wissenschaft aus der Automatisierungs-Vorzeige-Region Deutschlands – Ostwestfalen. Vorbild für die intelligente Fabrik ist die Smart Factory OWL in Lemgo. Die dort installierten Prototypen wurden geprüft und geeignete Verfahren für die Serienproduktion weiterentwickelt. Innerhalb eines Jahres erfolgte der Teilumbau eines bestehenden Fertigungsbereichs am Hauptsitz des Familienunternehmens.

Doch nicht nur der klassische Maschinenbau entdeckt die Modularität der Smart Factory für sich. Auch die Prozessindustrie denkt zunehmend in Modulen und fordert Offenheit von den Zulieferern der Leitsysteme wie ABB, Yokogawa oder Siemens ein. Die modulare Produktion verspricht individuelle Produkte, schnelle Reaktionszeiten auf sich verändernde Märkte (reduzierte Time-to-Market von bis zu 50 Prozent) und eine ortsunabhängige Produktion. Wie sieht das aus? Der Chemieriese Evonik stellte vor einiger Zeit einen Überseecontainer, der mit Verfahrenstechnik und Automatisierung ausgestattet ist, vor. Er soll weltweit eingesetzt werden. Wenn sich Wünsche im Markt verändern, will die Prozessindustrie darauf schneller reagieren können – ohne großen Umbau, nur durch ein Modul, das an die bestehende Produktion und das Leitsystem angedockt wer- den kann und schnell produziert. Das bedeutet: Die Leitsysteme in der Prozessindustrie müssen sich öffnen – das geschieht gerade. So entstehen kleine smarte Einheiten in bestehenden Produktionsprozessen.

Das Abnahme-Problem

Die herstellerübergreifende Prozessführung komme noch 2018, meinen Branchenbeobachter. Die Herausforderung besteht für die Leitsystemanbieter am Ende darin, die unterschiedlichen Automatisierungs- und Verfahrenstechniken in den Modulen in das System zu integrieren – eine Chance für den digitalen Zwilling, um im Vorfeld Prozesse zu fahren und zu optimieren – im Prinzip arbeiten auch die Smart Factories genau an dieser Herausforderung. Wenn da nicht der Gesetzgeber wäre – der nimmt Anlagen ab. Wenn jetzt Module zukünftig flexibel an- und abgekoppelt werden, dann verändert das Unternehmen streng genommen die Anlage und müsste diese jedes Mal neu abnehmen lassen. Es braucht nicht nur eine Smart Factory, es braucht eine smarte Gesetzgebung für die modulare Fertigung.

Dezentrale Maschinenparks

Vielleicht müssen aber die Abnahmen in Zukunft auch gar nicht mehr in den Fabriken gemacht werden. Sind Fablabs die neuen Produktionseinheiten? BMW und Co. nutzen die Fablabs schon als Ideenschmieden, Werkzeugmaschinenbauer unterstützen die Vereine mit Maschinen oder Ersatzteilen und Forscher vom Massachusetts Institute of Technology sehen in ihnen die Zukunft der Produktion – öffentlich zugängliche Maschinenparks.

MIT-Dozent Neil Gershenfeld ist davon überzeugt und vergleicht die Entwicklung mit der Computertechnologie, deren Einsatzszenarien sich vor 50 Jahren auch niemand hätte vorstellen können. Er stützt sich darüber hinaus auf eine Zahl: Die Anzahl der Fablabs weltweit nimmt exponentiell zu. Egal ob in Ruanda oder Brasilien, Lappland oder Katalonien, Bottrop oder Regensburg: Überall sind inzwischen Fablabs entstanden. Alle anderthalb Jahre verdoppelt sich ihre Zahl – auf weltweit inzwischen mehr als 1000, berichtet er in einem Interview mit dem deutschen Nachrichtenmagazin Spiegel.

„2040 wird sich ein erheblicher Teil der Wertschöpfung in flexiblen Netzwerken abspielen. Mit anderen Worten: Die Wertströme umfahren die klassischen Fabriken. Die Industrie, wie wir sie kennen, hat ihr letztes Kapitel aufgeschlagen. Das ist die eigentliche Folge der Vernetzung des Digitalen“, prophezeit Andreas Syska, ehemaliger Bosch-Werksleister und heute prominenter Industrie 4.0-Kritiker aus Deutschland. Entstehen die wahren Smart Factories ganz woanders – im Alltag der Konsumenten?

„Die größte Gefahr für einen Produzenten mit Fabrik ist ein Produzent ohne Fabrik. Netzwerke, flüchtige Kooperationen, Maker Werkstätten, 3D-Drucker ... die ,Fabrik‘ von morgen ist nicht mehr die Fabrik von heute. Klar stehen heute erste 3D-Drucker auch in den Fabriken, künftig aber eben auch in Handwerksbetrieben, im Supermarkt oder bei mir zu Hause. Beispiel Maker-Spaces: Sie ermöglichen jedem den Zugriff auf NC-gestützte Werkzeugmaschinen. Das alles ist derzeit zwar technisch noch recht limitiert, aber die Fortschritte sind gewaltig. Wenn diese dezentralen Orte der Wertschöpfung einmal vernetzt sind, dann wird sich einiges an Produktion dahin verlagern“, ist sich Syska sicher.

Spinnerei? Nein, eher eine Vision, ein mögliches Szenario, wie viele andere. Aber auch in der Pharmaindustrie forschen Unternehmen an der Losgröße 1 der Medikation – zum Ausdrucken in der Apotheke. Das erfordert vor Ort eine kleine Smart Factory inklusive Verfahrenstechnik und Automatisierung sowie Anbindung an ein System.