Standorte : 30 Jahre Visegrad-Gruppe: Neue Modelle für Wachstum gesucht

Tschechien Prag
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Am 15. Februar 2021 feiert die Visegrad-Gruppe ("V4"), das halboffizielle Bündnis von Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn, ihr 30-jähriges Bestehen. Sowohl wirtschaftlich als auch politisch waren die drei Jahrzehnte eine Erfolgsgeschichte - dennoch macht sich in den Ländern Unzufriedenheit breit, weil viele Menschen das Gefühl haben, dass der Aufholprozess gegenüber Westeuropa noch immer zu langsam ist.

"Beim Konvergenzprozess wurde relativ viel erreicht, die Visegrad-Vier zählen zu den reichsten unter den jüngeren EU-Ländern, sie haben ein hohes Einkommensniveau erreicht und sind politisch stabil", sagt der Ökonom Richard Grieveson vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW). Auch die Aufspaltung der Tschechoslowakei sei ruhig und geordnet verlaufen, anders als der Zerfall des ehemaligen Jugoslawien oder der früheren Sowjetunion. Auch im Vergleich mit Rumänien, Bulgarien und etlichen anderen neuen EU-Mitgliedern hätten die Visegrad-Länder ein relatives hohes Einkommensniveau erreicht.

"Es ist also relativ gesehen eine Erfolgsgeschichte - aber in den Ländern selbst sehen das viele Leute nicht so. Das sieht man an der politischen Entwicklung in Ungarn und Polen mit (Viktor) Orban und (Jaroslaw) Kaczynski, das zeigt eine gewisse Unzufriedenheit mit diesem Prozess. Man sieht es auch an den Umfragen: Viele glauben, dass die letzten 30 Jahre nicht so toll waren und nicht so viel gebracht haben."

Höhe Abhängigkeit vom Export und Investitionen aus dem Ausland

Auch in Tschechien, wo die politische Situation ruhiger sei und es keinen Politiker etwa vom Schlage eines Viktor Orban gebe, werde das Modell der vergangenen 30 Jahre in letzter Zeit immer stärker hinterfragt. Dieses Wachstumsmodell sei in hohem Maße abhängig von ausländischen Investitionen und Exporten und basiere weniger auf dem Konsum der Haushalte, erklärte Grieveson. Es werde oft auch kritisch gesehen, dass viele der Investitionen aus dem Westen und vor allem aus Deutschland kommen. "Ein Großteil der Wirtschaft gehört irgendwie zu Deutschland und viele der Gewinne der Firmen in Tschechien fließen zurück nach Deutschland - das wird mehr und mehr zum politischen Thema."

Die Einstellung der Regierungen in Polen und Ungarn gegenüber der EU sei kritischer als jene der Bevölkerung, glaubt Grieveson. Aber die Regierungen würden davon profitieren, dass nicht alle Menschen in den letzten 30 Jahren zu den Gewinnern gezählt haben, "vor allem jene, die nicht in den Hauptstädten wohnen und nicht so gut ausgebildet sind". Es gebe das verbreitete Gefühl, dass man den Westen kopiere, aber ohne das gleiche Niveau zu erreichen.

"Ich glaube, die Vergleichsbasis für diese Länder ist Deutschland oder Österreich, die vergleichen sich nicht mit Rumänien." Anfang der 1990er Jahre seien die Erwartungen sehr groß gewesen, viele Menschen hätten damit gerechnet, den Lebensstandard des Westens in wenigen Jahren erreichen zu können. "Die Enttäuschung war und ist wirklich groß."

Tschechiens Löhne auf 70 bis 75 Prozent der deutschen

"Tschechien hat inzwischen 70 bis 75 Prozent des deutschen Einkommensniveaus erreicht, es fehlt also noch ein Viertel." Aber die Wachstumsrate habe sich seit der Krise 2008 verlangsamt, und man habe das Gefühl, dass es noch Jahrzehnte dauern wird, bis Deutschland eingeholt ist. "Und das gilt für Tschechien - Polen und Ungarn sind noch weiter entfernt." Dabei dürfe man auch nicht vergessen, dass selbst Ostdeutschland trotz der Integration mit Westdeutschland und hoher Transfers von West nach Ost auch nach drei Jahrzehnten noch deutlich ärmer sei als Westdeutschland. "Wenn selbst Ostdeutschland das trotz bester Bedingungen nicht geschafft hat, dann ist es keine Überraschung, dass Polen es auch nicht geschafft hat."

Einig in der vehementen Ablehnung der westdeutschen Flüchtlingspolitik

Obwohl die V4 in vielerlei Hinsicht eine vergleichsweise homogene Gruppe seien - relativ hohes Einkommen, exportorientierte Industrie, volle Integration in EU und NATO, Naheverhältnis zu den USA und vor allem eine ähnliche Flüchtlingspolitik -, gebe es doch auch interessante Differenzen: "So ist die Slowakei beispielsweise Mitglied der Eurozone, die drei anderen nicht. Tschechien, Polen und Ungarn werden in den nächsten 15 Jahren nicht versuchen, dem Euro beizutreten, sicher nicht Tschechien." Vor allem für die drei sehr stark exportorientierten kleineren Staaten sei der Euro nicht so wichtig, denn sie seien in die EU-Wirtschaft und die Lieferketten ohnehin sehr stark integriert. "Die Währung ist da eher eine politische Frage."

Ein anderer Unterschied sei das Verhältnis zu Russland, das im Falle Polens bekanntermaßen angespannt sei, während Ungarns Beziehungen zu Moskau viel besser seien. Ähnlich verhalte es sich mit den Beziehungen zur EU: Während Warschau und Budapest offen auf Konfrontationskurs zu Brüssel seien, hätten Prag und Bratislava zwar auch Probleme mit der EU, würden aber einen offenen Streit vermeiden.

Es fehlen immer stärker die Fachkräfte - auch in Osteuropa

Ein Problem, das alle V4-Länder betrifft, ist der Arbeitskräftemangel auf Grund der demografischen Entwicklung. Der östliche Nachbar Ukraine sei bisher eine wichtige Quelle für Arbeitskräfte gewesen, vor allem Tschechien sei ein Nettoimporteur von Arbeitskräften gewesen. Zuletzt habe sich die Situation aber wegen der erschwerten Mobilität und der Rezession infolge der Corona-Pandemie geändert, die Nachfrage nach Arbeitskräften sei deutlich zurückgegangen. Bereits vor der Pandemie hätten wegen des Brexit vor allem viele Polen und Ungarn Großbritannien verlassen, "aber die kehren eher nicht zurück in ihre Heimat, die gehen eher nach Deutschland oder in die Niederlande oder Belgien, wo das Einkommensniveau vergleichbar mit Großbritannien ist". Nach der Pandemie werde es wieder einen Arbeitskräftemangel und Zuwanderung in die V4 geben.

Die Gewinne warten am Anfang und am Ende der Wertschöpfungskette

Mit ihrer derzeitigen Wirtschaftsstruktur werde es Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei nicht gelingen, die westeuropäischen Länder wirtschaftlich einzuholen, sagt Grieveson. "Der Fokus liegt noch immer zu stark auf Produktion, Exporten und ausländischen Investitionen, vor allem aus Deutschland. Das bringt wahrscheinlich nicht die volle Konvergenz in den nächsten Jahrzehnten." Die höheren Gewinne seien am Anfang und am Ende der Wertschöpfungskette zu holen. "Um die Konvergenz zu beschleunigen, müssen sich die V4-Länder also stärker auf Dienstleistungen am Hauptsitz, auf Forschung und Entwicklung sowie auf unterstützende Dienstleistungen spezialisieren." Wachstumspotenzial sieht der Ökonom für die V4 auch im Pharma-Bereich, bei der Umwelttechnologie ("grüne Wende") und in der Digitalisierung. (apa/red)