Lean Management : Trägheitsmoment

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Der erste Versuch war ein glatter Misserfolg. Und das, obwohl die Vorzeichen grundsätzlich stimmten. Geberit-Geschäftsführer Helmut Schwarzl war von der Idee beseelt, Lean Management in seinem Unternehmen zu implementieren. Berater standen ihm zur Seite. Auch die teils skeptische Führungsmannschaft des Sanitärtechnikherstellers war von der Verschlankung überzeugt. Und trotzdem wurde das Vorhaben ein Schlag ins Wasser. „Ich war viel zu ungeduldig“, weiß es Helmut Schwarzl heute besser. „Wir haben rasch einen ersten Schritt im Fertigungsbereich umgesetzt“, erzählt er. Der war aber nicht ausreichend eingebettet, das Feld war nicht aufbereitet, die Mitarbeiter zu wenig eingebunden. „Damit war das Thema Lean Management natürlich noch weiter diskreditiert.“

Parallel statt sequenziell

Zu schnell, zu partiell, zu wenig integriert: Was im Falle von Geberit eine längst überwundene Frühphase war, ist in vielen Betrieben State of the Art. Unter dem Studien-Titel „Wie lean ist Österreich?“ befragten die Barkawi Management Consultants 76 heimische Industrieunternehmen zu Lean Management – und der Befund ist ernüchternd. Zwar ist den meisten der befragten Geschäftsführer und Produktionsleiter der Begriff bekannt, viele geben auch an, Lean Management bereits anzuwenden, und halten es für sinnvoll. Doch schon bei der Frage, in welchem Umfang Lean Management bereits umgesetzt wird, gehen die Werte zurück.

Vor allem aber: Die Anwendung beschränkt sich meist auf die Bereiche Produktion und Logistik. „Damit wird das volle Potenzial von Lean Management nicht ausgeschöpft“, beobachtet Andreas Tengler, Geschäftsführer von Barkawi in Wien. Die angrenzenden Bereiche würden von Lean-Aktivitäten in Produktion und Logistik in den seltensten Fällen tangiert. Die Folge, so Tengler: Die Implementierung in Teilbereichen führt meist nicht zu nachhaltigen Erfolgen. „Lean ist aber ein ganzheitlicher Ansatz, der die Organisation auf strategischer, organisatorischer und prozessualer Ebene durchdringen sollte.“

Fundamente

Frustration begleitet das Thema von Beginn an. In den 1990er-Jahren sorgte Toyota mit seiner Arbeits- und Produktionsphilosophie weltweit für Furore – davon geblieben sind meist nur Schlagworte. Ähnlich dem Missverständnis westlicher Sinnsucher, Yoga sei die Essenz des Buddhismus, reduzieren viele Lean Management auf gut beschriftete Ordner oder saubere Produktionsstätten. Zur offenen Frage, welche Lean-Werkzeuge verwendet werden, nannten die Studienteilnehmer überwiegend 5S, Kaizen, KVP et alii. „KVP und Kaizen sind aber keine Werkzeuge“, sagt Andreas Tengler, „sondern eine Philosophie. Sie sind gewissermaßen die Fundamente für die Anwendung von Werkzeugen.“

Was wissen die Berater?

Ein Unterschied, den auch Geberit-Chef Schwarzl betont: „Philosophie ist etwas anderes als Methode. Methoden sind per se nicht lean. Auch Toyota fokussiert ja auf den Gap zwischen Soll- und Ist-Zustand und nicht etwa auf Sauberkeit.“ Helmut Schwarzl ist unverdächtig, die Philosophie selbst geringzuschätzen: Er sitzt im Wirtschaftsbeirat der Six-Sigma-Organisation Step-Up. Und ist wohl gerade deshalb äußerst sensibel gegenüber Beratern. „Irgendeine Methode zu implementieren, das ist einfach. Es reicht aber nicht, Six Sigma, TPM oder Kaizen zu verkaufen.“ Auch bei seinem ersten Versuch, Lean Management bei Geberit einzuführen, sei die Begleitung durch Berater nicht optimal gewesen, deutet Schwarzl an. Und er räumt ein, dass exotische Begriffe wie Kaizen oder Six Sigma die Hegelei mancher Berater bisweilen auch fördern: Eignen sie sich doch hervorragend, geringes strategisches Wissen hinter einem interessant klingenden Wort zu verbergen.

Die Frage nach den eingesetzten Tools erbrachte zum Teil recht skurrile Antworten. Als „Lean-Werkzeug“ genannt wurde unter anderem die gute alte Stärken-Schwächen-Analyse. „Diese Antworten haben mich stark verwundert“, sagt Barkawi-Partner Tobias Krauss.

Kostendruck

Zu Frustration führte letztlich auch die zweite Lean-Management-Welle: Im Gefolge der Finanzkrise erlebte das Thema ab 2008 eine Renaissance – getrieben vom Druck, Kosten einzusparen. Auch dies spiegelt sich in der Studie: Kostenreduktion und Produktivitätssteigerung werden als Hauptgründe für die Anwendung von Lean genannt. „Das Ergebnis bildet ein überwiegend reaktives und auf Kosten fokussiertes Verständnis von Lean Management ab“, sagt Tobias Krauss. „Damit sich das volle Potenzial von Lean Management entfalten kann, ist aber eine proaktive Erweiterung der Perspektive auf den Lean-Ansatz nötig: um die Dimensionen Strategie und Organisation. Der Lean-Ansatz auf Organisationsebene beispielsweise durchdringt alle Funktionsbereiche parallel.“

Wer Lean auf die Prozessebene reduziert, bleibt meist in den Bereichen Produktion und Logistik stecken, während etwa der Vertrieb nicht in den Fokus gerät. „Erfahrungsgemäß haben Vertrieb und Entwicklung viel schneller Gegenargumente bei der Hand, die Produktionsleute sind hier ,elastischer‘“, beobachtet Andreas Tengler. „Aber die Grundfrage lautet doch: Was ist wertschöpfend und was ist es nicht? Im Vertrieb gibt es im Grunde nur einen einzigen wertschöpfenden Moment, nämlich jenen, in dem der Kunde den Auftrag unterschreibt.“ Dementsprechend gebe es gerade im Vertrieb viele Möglichkeiten, Verschwendung zu vermeiden, etwa bei der Kundensegmentierung oder der Routenplanung.

Vertrieb versus Produktion?

Ernüchternd, meint Andreas Tengler, sei vor allem, welche Antworten bei dieser Frage nicht gekommen sind. „Auch aus dem Automotive-Bereich kamen hier oft erschreckende Aussagen.“ Dabei, so Tengler, sollte es genau umgekehrt laufen: „Der Vertrieb ist die Schnittstelle zum Kunden. Niemand ist enger am Kunden dran. Daher ist es sinnvoll, die Erkenntnisse aus dem Vertrieb zum Ausgangspunkt für Lean-Management-Aktivitäten zu nutzen.“ Dass Vertrieb und Produktion oft geradezu gegensätzlich incentiviert sind, sei ein weiteres Argument dafür, Lean Management als einen Ansatz mit einem gleichgerichteten Zielsystem einzuführen. Und dies sollte vom Topmanagement kommen.

„Lean ist kein Projekt“

Und Helmut Schwarzl? Der Misserfolg war nicht nur ärgerlich, erzählt er, sondern führte bei zahlreichen Mitarbeitern zu Abwehrhaltung. Es bedurfte einiger Diplomatie, das Thema Lean Management für Geberit neu zu gewinnen. „Und dass das nur top-down möglich ist, bestätige ich voll und ganz. Jemanden zum Lean-Manager zu nominieren – das funktioniert nicht, weil er meist keine Unterstützung von oben erhält.“

Die Vorgehensweise des Geberit-Chefs dürfte den Studienautoren von Barkawi gefallen. Langsam, in allen Bereichen parallel und mit klarer Unterstützung von oben wurde das Thema Lean Management – erneut – eingeführt. „Die Mitarbeiter mussten das Gelernte auch immer gleich umsetzen, allerdings sind wir da auch sehr behutsam vorgegangen“, erzählt Helmut Schwarzl. Am Ende des Prozesses sieht er sein Unternehmen noch lange nicht – wenn es denn eines gibt. Denn schließlich gelte: „Lean ist kein Projekt, sondern ein Mindset.“

Bernhard Fragner